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Das Leben, ein radikalkapitalistisches Konstrukt

von Sarah Heppekausen

Düsseldorf, 22. April 2011. Thomas ist Daniel, ist Investmentbanker, ist Künstler, ist erst Ehemann, dann Bruder ein und derselben Frau. Leo ist eine Frau, ist Vater, war Handelsvertreter und ist jederzeit ersetzbar. Je nach Perspektive und Erinnerungslage wird den Figuren in Juli Zehs neuem Theaterstück "203" die Biografie erneuert, ergänzt, erfunden. Eine subjektabhängige Wirklichkeit – das ist eine erkenntnistheoretische Annahme, die es in sich hat. Die, denkt man sie rigoros zu Ende, einem im wahrsten Sinne des Wortes den Boden unter den Füßen wegzieht.

Wir sehen nur, was unsere Sinne uns zeigen ...

Existiert zum Beispiel dieser Stuhl, auf dem ich sitze, auch unabhängig von meiner Wahrnehmung? "Kant meinte, dass die Dinge da draußen sowieso nur Erscheinungen sind. Wir können nur sehen, was unsere Sinne uns zeigen", heißt es im Stück. Für die Theoretiker des Radikalen Konstruktivismus 200 Jahre nach Kant gibt es nicht einmal mehr Raum und Zeit als Anschauungsformen, die den Erscheinungen noch eine annähernd verbindliche Struktur geben.

Juli Zeh spielt mit den Erkenntnistheorien, überträgt die Verunsicherung von empirischen Gegenständen auf Identitäten. Das Subjekt konstruiert nicht nur seine Wirklichkeit, es existiert selbst bloß als Konstrukt. Ein "Ich" entwickelt sich immer wieder neu aus erzählter Erinnerung und Zuschreibung. Zeit ist also Ansichtssache – und Raum bringt Klarheit höchstens noch im Falle eines Entweder-Oder, entweder Freiheit oder Sicherheit.

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©Sebastian Hoppe

 ... und sind wir selbst überhaupt wirklich?

Daniel wacht in einem unbekannten Zimmer auf, die drei Fremden um ihn herum stellen sich als seine Familie und ihn als ihren Thomas vor, die Tür ist versperrt, Entkommen aussichtslos. In Raum 203 wird 14 Stunden am Tag geredet. Wenn Wahrnehmung Welt erzeugt, schafft das Gespräch darüber eine gemeinsame Realität. Diese spannende Grundsituation, die Wirklichkeit und deren Interpretation radikal in Frage stellt, hätte womöglich ein ganzes Drama getragen.

Aber die Autorin will mehr, es sind die bekannten Juli Zeh-Anliegen: Neben der Erkenntnistheorie die Kritik am Konsum, an der unmündigen Sicherheitsgesellschaft, an einer "Fürsorge-Diktatur", wie sie es selbst nennt. Der Mensch ist Mastvieh (die Fütterung der Eingesperrten erfolgt per Sonde). Ihre Lebensgeschichten gestalten die 203er aus Zeitungsthemen, sie fügen Kindesmisshandlung und Drogenkriminalität ein, Terrorismus, das "kannibalistische Wirtschaftssystem" oder Vegetarismus. Die Themen fallen buchstäblich aus dem Headline-Himmel und übereinander her, eins überdeckt das andere im Minutentakt bis keins mehr ausformuliert werden kann.

Der Alptraum bleibt aus

So schwächt das Stück selbst die ihm eigentlich innewohnende Brisanz. Und Hans-Ulrich Becker, Regisseur der Düsseldorfer Uraufführung, verstärkt diesen Eindruck noch, indem er dem Abend eine verharmlosende Leichtigkeit gibt. Raum 203 ist mit Ornament-Tapete ausgeschmückt (Bühne: Alexander Müller-Elmau), die Ankunft des Wach- und Hygienepersonals wird mit "Heidi"-Melodie angekündigt, die Wärterinnen selbst in ihren rot-weiß karierten Gummistiefeln (Kostüme: Werner Fritz) strahlen mehr Comic-Charme als Existenzbedrohung aus. Am oberen Rand der Bühne ist zwar das Bild der Kameraaufzeichnung zu sehen, das bleibt aber bloß visuelles Beiwerk.

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Die Regie übernimmt den Vorschlag der Autorin, Christa (Pierre Siegenthaler) und Leo (Karin Pfammatter) geschlechtsvertauscht zu besetzen. Das Genus ist ebenso wenig identitätsstiftend wie Kleidung oder Namen in dieser virtuellen Welt, die sich in und aus den Köpfen konstruiert. Das birgt eine gewisse Komik. Nur ist das wünschenswert? Auch Thomas (Gunther Eckes) und Betty (Viola Pobitschka) sind an diesem Abend keine tragischen Helden, sondern Rollen erprobte Profis des Biografie-Switchens. Der Albtraum bleibt aus, eine radikale Konstruktion auch. Diese subjektabhängige Wirklichkeit plätschert unterhaltend vor sich hin.

 

PS: In NRW gab es wieder Streit ums Feiertagsgesetz. Die Essener Aalto-Oper musste ihre geplante Premiere von Puccinis "Madame Butterfly" am Karfreitag absagen. Die Premiere von "203" in Düsseldorf durfte stattfinden. Eine Art Leidensgeschichte findet schließlich auch im Juli Zeh-Stück statt.

 

203
von Juli Zeh
Regie: Hans-Ulrich Becker, Bühne: Alexander Müller-Elmau, Kostüme: Werner Fritz, Dramaturgie: Christina Zintl.
Mit: Gunther Eckes, Viola Pobitschka, Pierre Siegenthaler, Karin Pfammatter, Manja Haueis, Mareike Hein, Anna Richter.

www.duesseldorfer-schauspielhaus.de


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Kritikenrundschau

Als "negative Utopie" und "sehr ernsthaftes politisches Theaterstück", beschreibt Dina Netz in der Sendung Fazit vom Deutschlandradio (20.4.2911) Juli Zehs Stück "203". Zeh wolle damit "für die Menschenwürde, die Selbstbestimmung und gegen die Angst anschreiben - und wie immer tut sie das mit Sätzen, die dem Stück etwas Thesenhaftes geben: "Freiheit heißt jetzt Sicherheit" oder "Der öffentliche Raum ist ein Gehege" oder "Rausgehen ist Unterwerfung" heißt es da zum Beispiel. Regisseur Hans-Ulrich Becker nehme das Stück leicht, aber nicht auf die leichte Schulter, lasse "die Schauspieler diese schweren, sperrigen Sätze eher beiläufig sprechen, er betont stärker die Dialoge zwischen den vier Figuren, so dass der Schwerpunkt seiner Inszenierung auf der Interaktion und dem sozialen Experiment liegt. Das ist sicher eine richtige Entscheidung, wie auch die, die komischen Momente im Stück herauszuheben."

Zehs Stück schiele auf Kafka, schreibt Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (26.4.2011). Dabei lasse sie nichts aus, überstopfe den Text mit Schlagzeilen und Aktualitäten und habe auch ihre Lektüre (Bernhard Kathan) "nur halb verdaut". "Ausgedacht und apokalyptisch, durchkomponiert und durchgedreht" sei Zehs Stück und "das glatte Gegenteil von Kafka, weil es, statt die Vorstellungskraft anzuregen, den Zuschauer mit Einfällen bombardiert und beeindrucken will. So routiniert verpackt und geschäftstüchtig kalkuliert es den Horror, als gäbe es den im Supermarkt." Und die Düsseldorfer Uraufführung verpasse dem Drama allein mit dem Bühnenbild "einen Dreh ins Falsch-Vertraute". Darin würde "munter vom Blatt" gespielt; die Schauspieler ließen sich "von Zehs Beweislast nicht erdrücken". So gerät das alles "grotesk amüsant und noch harmloser, als es ist. Denn politisch wird Theater nicht schon dadurch, dass es den Zuschauer holzhammerartig mit Thesen und Themen traktiert, sondern erst (...) wenn es ihm zumutet, sich mit Konflikten und Entscheidungssituationen auseinanderzusetzen."

Als "grotesk überdrehte Gesellschaftssatire aus naher, dunkler Zukunft" beschreibt Vasco Boenisch "203" in der Süddeutschen Zeitung (26.4.2011). Mit ihrem Weiterspinnen der Diagnose von der "kannibalistischen Gesellschaft" ziele Zeh dozierend "auf ein Wirtschaftssystem, das 'Menschen zu Tieren und Tiere zu Sachen macht'". Dabei pflüge sie einmal "quer durch den Leitartikel-Garten" und konstruiere daraus Dialoge und Plot "mit pointierter Schärfe und augenzwinkernder Selbstironie". Das sei "gewitzt, gescheit, aber auch gewollt (...). Relevanz! Relevanz! ruft es aus allen Ecken – was ja in der zeitgenössischen Dramatik selten genug der Fall ist." Dem Spannungsbogen gehe da allerdings "irgendwann die Puste aus; man wartet auf einen Clou am Ende, aber der bleibt leider aus". So sei "203" vor allem eine "Quasselbude aus Selbsterhaltungstrieb. Man redet und redet: als letztes Alleinstellungsmerkmal vor dem Tier, dem Schlachtvieh." In Düsseldorf gelte "sofort das Komikkommando. Dabei wäre es viel irritierender, zunächst eine ganz normale Familie zu sehen." Schließlich habe Zeh hinter dem Klamauk mehr versteckt, als in Beckers "zupackend plakativer Inszenierung sichtbar wird". In dieser verblasse auch "der philosophische Background: Der Mensch, der sich - nicht nur unter Arrest - 'sein Leben wie eine Geschichte erzählt, mit sich selbst als Hauptfigur'."

Vor allem Gunther Eckes und Viola Pobitschka sei zu verdanken, "dass diese Produktion nicht vollständig zum deformierten Mitbringsel von der philosophischen Reste-Rampe mutiert", so Martin Eich in der Welt (26.4.2011). Ihnen gelinge es, "ihren Figuren wenigstens gelegentlich jene Ernsthaftigkeit zu verleihen, die dem Anliegen der Vorlage gerecht würde, der Inszenierung aber weitgehend fehlt. Denn die hat, und das ist ein Fehler, eine robuste Lustigkeit." Dass man hier "unentwegt mit Wortspielen (...) - traktiert wird, degradiert das Monströse der Situation zum Beiwerk eines Humors, der kritisieren will, aber stattdessen nur verniedlicht". Auch Eich ist es insgesamt "zu viel, und, weil nichts vertieft wird, zu wenig". Die Dialoge taumelten "trunken von einer Überhöhung in die andere, klingen mitunter wie milder Wahnsinnsreigen", "Sätze, zu gedrechselt, als dass sie der Realität hätten entstammen können". Es seien "die leisen, die lautlosen Momente, die dieser Bearbeitung jene Seriosität verleihen, die erst die unverhohlene Gesellschaftskritik der Vorlage legitimiert". Dass man "die Gefangenschaft, eine Flucht in die Unmündigkeit, nicht nur ertragen, sondern ersehnen kann", werde an diesem Abend allerdings nur angedeutet, "nicht ausreichend abgebildet".

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