altTragodie einer gescheiterten Utopie

von Charles Linsmayer

Paris, 23. April 2011. "Ihr Stück hat mich von Anfang bis Ende in äusserster Spannung gehalten, es ist dramaturgisch von beneidenswerter Meisterschaft, und ich kann mir denken, dass es auf der Bühne von beklemmender Wirkung ist." Was Max Frisch 1947 Fritz Hochwälder nach der Lektüre von dessen Schauspiel "Das heilige Experiment" attestierte, lässt sich gegenwärtig im Pariser Théâtre du Nord-Ouest wiederum nachprüfen. Dort hat der Regisseur Loïc Gautelier nun "Sur la terre comme au ciel", die von Richard Thieberger erstellte französische Fassung des Stücks neu inszeniert. Und was da während 115 Minuten in dem breiten, dunklen Kellergewölbe unter dem Montmartre zu erleben ist, kann nicht anders denn als beklemmend bezeichnet werden.

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Weil ihr recht habt, müsst Ihr vernichtet werden!

Mit einem kurzen, über Lautsprecher verlesenen historischen Abriss und zeitgenössischer Indiomusik stimmt Gautelier das Publikum auf jenen 16. Juli 1767 ein, an dem im Jesuiten-Collegio von Buenos Aires die Schicksalsstunde des "Heiligen Experiments", jenes von den Jesuiten gegründeten Indio-Staats, schlug, mit dem erstmals in der Geschichte der Menschheit europäische Emissäre ein Volk der dritten Welt nicht ausbeuteten oder versklavten, sondern aktiv in seiner eigenen Selbstfindung förderten.

Hochdramatisch der Moment, als der königliche Gesandte Pedro de Miura, der die Anklagen gegen den Jesuitenstaat untersuchen soll, aber in Wirklichkeit bereits den Liquidationsbefehl in der Tasche hat, erkennen muss, dass alle Anklagen falsch waren, und er dennoch den Abzug der Jesuiten fordern muss: "Weil ihr recht habt, müsst ihr vernichtet werden."

Mein Gott, warum verläßt Du immer wieder diese Welt?

Eindrucksvoll auch die Szene, als ein gewisser Lorenzo Querini sich als Abgesandter des Jesuitengenerals zu erkennen gibt und den Provinzial, der entschlossen ist, dem königlichen Befehl zu trotzen und bereits die Indio-Armee mobilisiert hat, mit dem Argument, diese Welt sei nicht geeignet für Christi Reich, zur Aufgabe zwingt.

Der Aufschrei des Provinzials, "Mon Dieu! Pourquoi abandonnes-tu toujours ce monde?" ("Mein Gott, warum verlässt Du immer wieder diese Welt?"), mit dem er seine Unterstellung unter de Miura besigelt, ist einer der grossartigen Höhepunkte des Abends. Ein anderer ist die Schlussszene des Stücks, als de Miura, nachdem der im Gefecht verwundete Provinzial mit der Erkenntnis, nun sei alles vergeblich gewesen, gestorben ist, und er dem Befehl des Königs vollumfänglich Nachachtung verschafft hat, mit einem markerschütternden Schrei ins Schuldbekenntnis des Confiteor ausbricht.

Zynischer Opportunismus

Die Pariser Inszenierung von Hochwälders legendärem Stück präsentiert sich jenseits aller Ironisierung als eine echte, ergreifende Tragödie. Als die Tragödie einer gescheiterten humanen Utopie, die von insgesamt 18 Schauspielern – allesamt hervorragende Interpreten und eigenwillige Charakterköpfe – auf eine leidenschaftlich intensive Weise, voller Emphase und ohne Angst vor Pathos umgesetzt wird.

Bernard Sender als Pater Provinzial ist in seiner Würde, seiner Souveränität und seinem Hin- und Hergerissensein zwischen Gehorsam und Enthusiasmus für die Sache der Indios schlechthin grossartig. Alain Prétin bleibt als de Miura in seiner Unerbittlichkeit ebenso glaubwürdig wie in den Skrupeln, die ihn nach der Zerstörung des Jesuitenstaats heimsuchen. Yves Jouffroy vermittelt Querini, dem Gesandten des Jesuitengenerals die nötige Portion zynischen Opportunismus, während Djahiz Gil als holländischer Kaufmann Cornelis überzeugend die Optik des Aussenstehenden einbringt, der die Zerstörung des Indio-Staats als fatale Fehlentwicklung empfindet.

Keine vordergründige Aktualisierung

Gautelier hätte es leicht gehabt, das Stück mit der (von der katholischen Kirche wiederum disqualifizierten) Befreiungstheologie Lateinamerikas in Beziehung zu setzen oder noch aktuellere Bezüge herzustellen. Aber er belässt die Inszenierung ganz in den von Hochwälder vorgegebenen historischen Zusammenhängen, kann jedoch, wie die begeisterte und betroffene Reaktion des Premierenpublikums zeigte, sicher sein, dass sich die Assoziationen wie von selbst einstellen und Sätze wie "wir können nie und nimmer die Seelen retten, wenn wir die Völker schutzlos den Unterdrückern überlassen" ihre Bedeutung durchaus auch für die heutigen Zusammenhänge beibehalten haben.

Und dass, wie der holländische Kaufmann es auf den Punkt bringt, Tee, der von glücklichen Menschen gepflanzt wird, besser schmeckt als jener, der von Sklaven mit Hass im Herzen produziert wird, leuchtet als wunderbar einleuchtendes Bild für die Verruchtheit aller kolonialer Ausbeutung auch 68 Jahre nach der Uraufführung des Stücks durch Peter Lotar am Theater Biel Solothurn noch unmittelbar ein.

Wiederholt sich noch einmal die Signalwirkung von 1952?

Die Inszenierung von "Sur la terre comme au ciel" in dem initiativen Pariser Theater – das seit Jahren immer wieder spektakuläre Serien mit dem Gesamtwerk von Racine, Claudel oder Shakespeare herausbringt – könnte durchaus Signalwirkung auch für den deutschen und englischen Sprachraum haben. 1952/53, als die französische Fassung im Pariser Théâtre de l'Athénée über 400 mal en suite gespielt wurde, bedeutete dies weltweit den Durchbruch für Hochwälder und trug wesentlich dazu bei, dass nicht nur "Das heilige Experiment", sondern auch "Der öffentliche Ankläger", "Donadieu" oder "Die Herberge" während Jahrzehnten in aller Welt gespielt wurden. Dass es im Jahr von Hochwälders 100. Geburtstag (am 28. Mai) und seinem 25.Todestag (am 26. Oktober) nicht eine deutschsprachige, sondern eine französische Bühne ist, die ihn wiederentdeckt, könnte in diesem Sinn durchaus als ein gutes Omen gewertet werden.

Wie ein mechanisches Räderwerk

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Fritz Hochwälder, Tessin 1948
© Susanne Hochwälder

Wobei nicht vergessen werden darf, dass Hochwälders Stücke nicht ihrer mangelnden Aktualität wegen von den Spielplänen verschwunden sind – "Lazaretti oder Der Säbelträger" von 1975 etwa behandelt auf abgründige Weise den modernen Terrorismus! – , sondern ganz offensichtlich deswegen, weil sie, wie schon Max Frisch konstatierte, "dramaturgisch von beneidenswerter Meisterschaft" sind und, setzt man sie einmal in Gang, wie ein mechanisches Räderwerk unerbittlich auf die tragische Schlusspointe hin ablaufen.

Wer sie dekonstruiert, scheitert daran ebenso wie derjenige, der im Zeichen des Regietheaters etwas Neues und Unerhörtes daraus machen will. So dass es kein Zufall ist, dass das mit Text und Autor nach wie vor sehr viel respektvoller umgehende französische Theater besser mit Hochwälder zurecht kommt als das deutsche oder österreichische, das den 100. Geburtstag eines der meistgespielten Dramatiker des 20. Jahrhunderts ohne eine einzige Neuinszenierung vorbeigehen lässt.

 

Sur la terre comme au ciel
von Fritz Hochwälder
Französische Fassung von "Das heilige Experiment", übertragen von Richard Thieberger. Regie und Bühne: Loïc Gautelier, Dramaturgie: Elsa Davoine.
Mit: Laurent Brusset, Philippe Blanchard, Damien Carlot, Ludovic Coquin, Pablo Couttier, Jacques Dennemont, Djahiz Gil, Yves Jouffroy, Jean-Pierre de Lavarene, Alessandro Leju, Sylvio Lopez, Alfred Luciani, Gustavo Meza, Jean-Dominique Peltier, Philippe Renon, Bernard Sender, Eric Veiga.

www.theatredunordouest.com


Der österreichische Dramatiker Fritz Hochwälder (1911-1986) gehörte nach dem 2. Weltkrieg zu den meistgespielten Theaterautoren. Fast alle seine Stücke wurde am Wiener Burgtheater uraufgeführt. In Wien als Sohn eines jüdischen Tapezierers geboren, konnte er 1939 gerade noch rechtzeitig in die Schweiz fliehen. Dort entstand 1941/42 sein berühmtestes Drama "Das heilige Experiment", das ihm auch internationalen Ruhm einbrachte. Ebenso wie in "Der öffentliche Ankläger" von 1948 über die zerstörerischen Auswüchse der Französischen Revolution, verhandelt der linke Dramatiker auch im "Heiligen Experiment" auf der Basis eines historischen Stoffs die im 20. Jahrhundert so dramatisch erfahrene Unvereinbarkeit von Utopie und Wirklichkeit. Auf der Basis von Hochwälders Stück "Das Heilige Experiment" enstand 1986 Roland Joffés Film "Mission" mit Robert de Niro und Liam Neeson. Im gleichen Jahr starb Hochwälder in Zürich.

Im Zürcher Stadtarchiv wird am 19. Mai eine Fritz-Hochwälder-Ausstellung eröffnet, die von nachtkritik-Autor Charles Linsmayer kuratiert worden ist.