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Vergangene Superlative, verblasstes Jetzt

von Tobias Prüwer

Leipzig, 28. April 2011. "Wenn einer eine Reise tut", trällert die gesamte "Centraltourist"-Busladung dreistimmig, "so kann er was erzählen." Doch wo beginnen bei dieser inszenierten Stadtrundfahrt, die schaukelnd durch Leipziger Quartiere schlingert? Vielleicht bei eben jenem Kanon, den die mitfahrenden Zuschauer auf halber Strecke so bereitwillig beschwingt singen. Warum in aller Welt braucht es weder große Animation noch angestrengtes Mitmachtheater, um das Publikum auf solche Art für sich einzunehmen? Das liegt wohl an jener Halbdistanz, aus der man die Tour kleiner Szenen und großer Historie nie aufgezwungen erlebt.

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Die fiktive Firma Santa-Maria-Busreisen wird als traditionelles Familienunternehmen ausgewiesen, und das ist nur folgerichtig, denn die Fahrt durch Parallelwelten streift permanent Stadt- und Familiengeschichten. Die sind nicht immer wahr, geben sich aber wahrhaftig. Nachdem Pernille Skaansar als Co-Regisseurin mit Sebastian Hartmann vor zwei Spielzeiten das ebenfalls urbane Interventionsstück "Schwarztaxi" entwarf, schickt sie nun ein größeres Gefährt auf die Reise. Und zwar einen beige-gelben IFA-Bus aus den ostdeutschen 1950ern, der nur aus Rundungen zu bestehen scheint.

Busfahrer Bernd braust los

Beim Einsteigen bietet eine freundliche junge Frau Lollies und Kräuterschnaps an. Drinnen nehmen die vielleicht 20 Besucher auf braunen Kunstlederbänken Platz. Und während sie sich noch an das rötliche Licht gewöhnen, das aus gläsernen Kreisen von der Decke fließt, schlägt die Wagentür zu. Der Reiseführer stellt sich als Roland Kawinsky oder so ähnlich vor (stolz wie melancholisch vor Familientradition: Andrej Kaminsky) und die junge Frau als seine Tochter Charlotta (artig-scheu: Carolin Haupt). Und schon braust Busfahrer Bernd los. Es schaukelt gewaltig – ein Gefühl, das die gesamte Tour nicht abebben wird. Immerhin sollen Tüten bereitstehen, um nervöse Mägen zu befrieden. Wieder und wieder übertönt ein Tusch ihre Erläuterungen, aber jedes gesprochene Detail ist gar so wichtig bei der Schunkeltour, die es auf sanfte Reizüberflutung anlegt.

Voll bepackt, aber nicht überladen gestaltet sich diese Reise, die in einer Halbkreisbewegung mit allerlei Zickzacks von der Innenstadt in den Osten, dann über Norden in den Westen und zurück führt. Beim Centraltheater startend, hasten alsbald Bahnhof, Oper und Gewandhaus vorbei, und schließlich verschlingt ein optisch anonymes Gewinkel den Bus. Doch unermüdlich spulen die Reisebegleiter fröhlich-verbindlich ihre Infohäppchen ab, zeigen oft auf Baulücken, wo einst Imposantes thronte. Vieles drehen sie durch den Fleischwolf ihrer Stakkato-Schwärmereien: Pelzhandel und Bürgerstolz, Wasser-, Buch-, und Musikstadt, Sportfreunde, Schiller.

Die Fahrt ist mit allen Misslichkeiten gespickt, die man bei Sight-Seeing-Touren eben so erlebt. Die Gäste verrenken sich die Hälse nach Gebäuden, die der Bus bereits passiert hatte. Und sie brauchen einige Vorstellungskraft, denn streckenweise präsentiert sich eine reine Verfallsgeschichte, ragen Superlative aus der Vergangenheit verblasst ins Jetzt des Seitenfensters hinein.

Der Bus als Fremdkörper

Ein wohltemperierter Umgang mit der städtischen Selbstinszenierung wird so er-fahrbar. Ins Lächerlich-Parodistische kippt die Tour nicht, und die mehr erahnbare Familiengeschichte mischt melancholische Spuren bei. Nur nuanciert überzogen agieren Figuren wie der Reiseführernovize aus Bremerhaven (weniger in die Stadt verliebt: Günther Harder) oder ein Samurai-Nachfahre (schmächtig-gefährlich: Jacob Keller), so dass die komischen Momente trotz Tür-auf-Tür-zu-Einlagen bei – gottlob! – stehendem Bus bis auf die finale "Santa Maria"-Polonaise abgefedert leichtfüßig ausfallen.

Wie zum städtischen Geschehen übt die Inszenierung gleichfalls die Halbdistanz gegenüber dem Publikum. Nie auf Mitmachtheater getrimmt, aber stets einladend, kommt sie dem touristischen Sehen nahe, das schließlich vom zurückgelehnten Willen zum Unterhaltenwerden geprägt ist. Und natürlich wird der Zuschauer in manchen Augenblicken selbst zum Objekt des neugierigen Blicks. Schließlich ist der Bus als Fremdkörper auch in sonst ruhigen Nebenstraßen und im vielbevölkerten, autofreien Clara-Zetkin-Park unterwegs.

Sanfte Tour der Überreizung

Man wird beguckt und weiß manchmal selbst nicht, was noch Teil der Inszenierung ist, etwa wenn am Rande eines Rummelplatzes jugendliche Schausteller den Bus beargwöhnen. Dieser spuckt den Fahrgast nach eineinhalb Stunden wieder im urbanen Tumult aus und saust von dannen. Zurückgeworfen aufs Pflaster der Gegenwart, lassen sich die Gedanken nach der sanften Tour der Überreizung nicht so recht sortieren. Man weiß einfach nicht, wo man beginnen soll – aber man kann etwas erzählen.

 

Centraltourist
Eine inszenierte Busreise durch Leipzig
In Zusammenarbeit mit dem Museum der Unerhörten Dinge, Berlin
Regie: Pernille Skaansar, Bühne: Clementine Pohl, Kostüme: Adriana Braga Peretzki
Dramaturgie: Janette Mickan, Anja Nioduschewski.
Mit: Günther Harder, Carolin Haupt, Andrej Kaminsky, Jacob Keller, Frank Raschke, Raimund Widra.

www.skala-leipzig.de

 

Pernille Skaansar inszenierte in Leipzig im Februar 2010 Knut Hamsuns Hunger als Performancetheater.

 

Kritikenrundschau

Als höchst unterhaltsame Parodie einer Stadtrundfahrt beschreibt Nina May die Veranstaltung in der Leipziger Volkszeitung (30.4.2011). Die Faszination daran liegt für sie im Übergang zwischen Realität und Fiktion. "Mal abgesehen davon, dass ein wenig entspannte Berieselung ja auch mal ganz angenehm ist." Die Dramaturgie sei zwar wenig komplex und die erzählte Geschichte nicht gerade originell, "aber das macht nichts, wenn der Rahmen so charmant wie dieser rumpelige Oldtimerbus ist," schreibt die Kritikerin. Lediglich den einzigen Stopp der Fahrt findet sie enttäuschend: "An der Philippuskirche in Lindenau gibts zwar Schnaps und Zigarettenqualm, sonst aber wenig Erwärmendes. Da hatte die Ankündigung "Betreten Sie Orte, die schon lange Zeit kein Mensch mehr betreten hat" andere Hoffnungen geweckt." Eins scheint jedoch klar: "Das Schauspiel Leipzig hat mit einer Art großen Schwester der "Schwarztaxi"-Produktion einen neuen Publikumsmagneten."

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