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Das Privileg der Kunst, Leben zu erschaffen

1. Mai 2011. Das Burgtheater hat keine "Lulu" mehr, und auf den Bühnen stirbt die Phantasie, so kündigt die Unterzeile in der FAZ Sonntagszeitung einen Text des Schauspielers Peter Kern an (in einer Kurzversion vor Ostern bereits in der "Presse" erschienen), der drei Wochen lang am Burgtheater unter der Regie von Jan Bosse den Dr. Goll, Lulus ersten Ehemann, geprobt hat. Aber, Überraschung, dann geht es erstmal gar nicht um "Lulu", sondern um das Theatertreffen, um Franz Wille, Luc Bondy, um die Hymne an Birgit Minichmayr und noch viel mehr.

Um das Gelingen des Scheiterns im höheren Dienst des Theaters nämlich, und das beginnt Peter Kern so: "Das Berliner Theaterfestival (vom 6. bis 22. Mai) kündigt zehn Inszenierungen an. Die Jury, vermutlich der Hochkultur verpflichtet, zeigt uns fünf Dramen, die wir alle kennen, und fünf neue Stücke. Das Theater muss sich erneuern, sagt sich Jury-Vordenker Franz Wille. Das Stärkste, was der Mensch hat, ist Wille. Ich lernte ihn noch als lustigen Dramaturgen unter Hübner kennen." Jetzt wähle, küre, seziere er Theaterinszenierungen und terrorisiere die Theaterszene. "Theater heute" sei kein Gesetzesblatt, aber behaupte, das Grundgesetz der Theaterkultur zu sein und "bestimmt, wer überlebt, wer hochgespielt wird und wer wieder fällt", so Kern.

2011 werden wieder "Kirschgarten" oder "Don Carlos" gespielt. Grund, die Wiederentdeckung zu feiern. "Aber wer feiert hier wen und warum? Alles, was hier stattfindet, passiert ohne Not. Subvention ist Geld für den Widerspruch." Das Theater habe sich ohne Not neoliberalistisch dem Quotendenken geöffnet und halte sich auch mit seinem fliegenden Personal für einen Teil der Entertainmentindustrie.

In Wien bekomme nun wiederum Matthias Hartmann sein Fett weg, fährt Kern fort. "Die Stadt läuft Amok. Österreich ist empört. Da setzt oft das Denken aus. Die Gratiszeitung 'Heute' titelt: 'Aufstand gegen den Intendanten Hartmann', der "Kurier" lügt: 'Der Intendant hat geweint.' Das war immer so in Wien, sie zerreißen sich die Mäuler, die wenigsten wissen warum."

Was passiert in der Theaterstadt Wien, fragt Kern und antwortet: "Wien ist anders, Wien hat keine liberale Ausländerpolitik, Wien ist offen für Asylanten wie Luc Bondy, der gerne noch als Direktor der Wiener Festwochen vorbeikommt, um im verblassten Ruhm noch ein paar hunderttausend Euro in die Pension zu retten. Arbeiten tut er eh lieber in Paris und Zürich bei den Freunderln. Alle gegen Matthias Hartmann – ein Grund, ihn zu mögen."

Und nun robbt sich Kern auch langsam zur "Lulu" ran, für die er drei Wochen geprobt hat, vergeblich wartend auf eine Begrüßung des Intendanten, sich dann mit einem Werbespot des Intendanten für Meinl-Kaffee tröstend. Erste Leseprobe: "Es ist ein Liebesspiel, ein Hinhören und ein Suchen, eine Berührung mit der Sprache, die Sprachmelodie modelliert die Figur, stellt den Menschen dar", mit Birgit Minichmayr, "und sie schaut auf uns mit sinnlicher Lust, ohne Mitleid. Ich habe noch nie so viel Brüchiges, Verzweifelndes bei einer Leseprobe gehört wie von ihr".

"Die folgenden Wochen gehen alle mit Wedekind ins Bett und wachen geschwängert auf. Jan Bosse gibt uns Freiraum im Denken und Fühlen. Nächste Woche soll der vierte Akt verfilmt werden. Ich möchte von dem Konzept nichts verraten, ich hoffe nur, dass es einmal realisiert werden wird."

Dann aber gingen die Proben weiter und Minichmayr fragte: "'Ich spiele Rolle um Rolle und merke gar nicht, wie ich ein Teil dieses Apparats geworden bin. Warum machen wir denn überhaupt heutzutage dieses Stück 'Lulu', lasst uns doch darüber sprechen.' Lange Stille. Dreißig Menschen sitzen auf der Probebühne und denken nach. Die Proben am Tag darauf werden abgesagt. Auf diesem Fundament war es für Birgit nicht möglich, ihr Lebenshaus für 'Lulu' zu bauen. So funktioniert eben auch ein offener Prozess. Das Theater als Denkwerkstatt, dessen Freiraum auch Scheitern, Verwerfen, Fehlentscheidungen zulassen muss. Das Theater gibt sein Scheitern zu, das stimmt uns traurig, es ist die Hölle, da müssen wir durch, weil Kunst ein Privileg ist, das Leben schafft. Übrig bleibt: eine johlende Meute schlechter Journalisten, die sich hinter die Bühne der Gerüchte geschlichen haben, ohne wirklich etwas zu wissen; eine gedachte 'Lulu', ein wunderbarer Regisseur im Korsett der Verzweiflung und ein trauriger Intendant."

Und Epilog, das Leben geht weiter: "Einige Tage später kündigt er einen weiteren Star des Theaters an: Klaus Maria Brandauer kommt nach sieben Jahren für Schnitzlers 'Das weite Land' ans Burgtheater zurück. Und dann eine Entscheidung, die alles auf den Kopf stellt. Das Burgtheater vertritt Österreich und wurde mit Stefan Bachmanns Inszenierung der 'Beteiligten' von Kathrin Röggla auf das Theatertreffen eingeladen. (...) Derweil fährt Angela Richter durchs Land und erzählt mit Geist und Humor über Drogen, Wilhelm Reich und mischt sich in unser Leben. In Berlin im Hau oder in Wien in der Garage X, dort trifft man dann auf die Magie, die dem Stadttheater längst abhandengekommen ist. Und ich warte auf den Ort, die Zeit und das Theater, wo eines Tages Birgit Minichmayr die Lulu spielt - und sei es am Ende der Welt, ich werde ihr nachreisen, meiner kleinen ungeschützten Tänzerin."

 

Mehr zu der Absage der Lulu am Burgtheater gibt es in der Presseschau vom 21. bis 26. April 2011. 

Kommentare  
Peter Kern über Lulu & Co.: die wirklich tiefschürfenden Pressestimmen
Pah, die wirklich relevanten und tiefschürfenden Pressestimmen werden uns hier vorenthalten.

"Sex-Eklat" ruft man in Österreich und die nachtkritik verschließt die Augen ...

http://www.oe24.at/kultur/Sex-Eklat-am-Wiener-Burgtheater/26316674
Peter Kern über Lulu & Co.: Artikellink
Hier der Link zum Artikel: http://www.faz.net/-01tijt
Peter Kern über & Co.: Gratulation
BRAVO, Monsieur Kern!
Peter Kern über & Co.: wo der Dramaturg sich freut
Mir gefällt besonders das Zitat von Zadek. Stimmt ja auch, was er da sagt. Immer weniger Regisseure interessieren sich für Menschen, sondern nur für Konzepte und Ideen. Gähn. Menschenschicksale und Biografien sind out. Wenn ein Regisseur, wie Alvis Hermanis in Köln seinen Oblomow in ein hypernaturalistisches Bühnenbild setzt und vier Stunden lang den Zuschauer zwingt, Schauspielern dabei zuzusehen, wie sie Menschen spielen und nichts sonst, rümpft der deutsche Kritikerdepp schon mal die Nase, das sei doch viel zu konventionell. Wenn aber die Schauspieler an der Rampe stehen, wie bei Stemann, und in ein Mikro brüllen und sich gegenseitig den Text wegperformen, dann freut sich der Dramaturg und wo der Dramaturg sich freut ist des Kritikers Freude nicht fern.
Presseschau postmigrantisches Theater: wahr gebrüllt
sehr wahr gebrüllt löwin ingeborg.
da kann man als (theaterinteressierter) mensch nur mitbrüllen.
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