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Stalin, Hitler, Julius Cäsar

von Anne Phillips-Krug

Bern, 2. Mai 2011. Sie ist ein unwirtlicher Mikrokosmos, die 32 Rue Vandenbranden: eine in Schnee und Eis gehüllte, aus zwei sich gegenüberstehenden Wohncontainern bestehende Siedlung mitten in den Bergen. Mit schweren Koffern beladen, stapft ein Mann im Pelzmantel in diese Eiswüste hinein. Er singt ein koreanisches Lied, während sein Begleiter, der auf seinem Rücken steht, ihn vorantreibt. Dann lässt er sich fallen und beginnt einen wilden Tanz, bei dem er wie ein Flummi über den verschneiten Boden hüpft. Die Bewohner der Vandenbrandenstraße kommen aus ihren Wohnmobilen und schauen erstaunt und frierend zu.

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"32, Rue Vandenbranden" beim AUA-Festival
© Herman Sorgeloos

Das Tanztheaterstück "32, Rue Vandenbranden" des belgischen Kollektivs Peeping Tom um Gabriela Carrizo und Franck Chartier bildete den Auftakt des 29. Zeitgenössischen Theatertreffen AUAWIRLEBEN in Bern. Unter dem Code "Welt offen" präsentiert das Festival noch bis zum 8. Mai zwölf Produktionen: Stücke von und mit deutschstämmigen Argentiniern, türkischen Berlinern, schweizerischen Holländern und belgischen Koreanern über die Chancen und Herausforderungen einer globalisierten Welt. Der Code "Welt offen" ist durchaus mehrdeutig gemeint: Zwar scheint die Welt dank Globalisierung und neuen Medien grenzenlos. Doch: Wie offen ist die Welt, sich auf neue transnationale und -kulturelle Konzepte von Identität und Heimat einzulassen? Und: Steht diese Welt allen Menschen gleichermaßen offen? Kann ein Weltbürger überall zu Hause sein? Oder gehört er dann nirgendwo richtig hin? Das Auawirleben-Festival versucht mit seinem Programm auch die Ambivalenz der Grenzenlosigkeit deutlich zu machen.

Menschen, die sich berühren wollen

Die beiden neuen Bewohner der 32, Rue Vandenbranden (Seoljin Kim und Hun-Mok Jung) beziehen den Container neben dem streitenden, sich trennenden und wieder versöhnenden Paar Sabine (Sabine Molenaar) und Jos (Jos Baker). Gegenüber wohnt die schwangere Marie (Marie Gyselbrecht), die im blauen Glitzerkleid meist allein hinter ihrem Fenster sitzt. Dann und wann öffnen sich die Türen und geben Raum für atemberaubende Bewegungsstudien.

Die starke Stimme der Mezzosopranistin Eurudike De Beul begleitet die Begegnungen der Mitglieder dieser seltsamen Gemeinschaft im Niemandsland, in dem für Privatsphäre, Innen und Außen, Gewalt und Liebe eigene Regeln zu gelten scheinen.  Vor einer hyperrealistischen Kulisse, durch die ein eisiger Sturm fegt, fliegen die Tänzer durch die Luft und verbiegen ihre Körper in bizarren Verrenkungen. Und wenn Kim am Ende zu schmelzen scheint, ändern sie sogar den Aggregatzustand. Es sind Bewegungen von Menschen, die sich berühren wollen, aber nie richtig zueinander finden.

Der Zuschauer wird zum Beschauten

Um Selbst- und Fremdbilder geht es in der Produktion "A Game of You", das das belgische Autorenkkollektiv Ontroerend Goed im Berner Museum für Kommunikation zeigte. In einem geheimnisvollen Labyrinth, das der Zuschauer einzeln durchwandert, warten Spiegel, Videokameras und andere Projektionsflächen. Im Dunkeln wird der Zuschauer unbemerkt zum Beschauten. Zwischen dem eigenen Selbstbild, der Wahrnehmung anderer Zuschauer und der Reflektion durch die Schauspieler entsteht dabei etwas ganz Neues. Am eigenen Leib erfährt der Zuschauer etwas über die Konstitution von Identitäten, die immer auch durch die Projektion anderer Menschen gemacht werden. Das überraschende und clever konzipierte "A Game of You" ist der dritte Teil einer Trilogie über theatralische Grenzüberschreitungen.

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Das erstmals in Europa aufgeführte Stück "Fiktionland" ist ein besonderes Beispiel für gelungene interkulturelle Theaterarbeit. Im Rahmen des Festivals Dramaturgias Cruzdadas in Buenos Aires, das argentinische und europäische Theatermacher zusammen bringt, entstand es letzten Sommer in Zusammenarbeit zwischen dem in Bern lebenden Gerhard Meister und der in Buenos Aires lebenden Romina Paula. Persönlich kennengelernt haben sich die beiden erst zwei Wochen vor der Premiere, Konzept und Text entwickelten sie in Email- und Skype-Korrespondenzen.

Selbst- und Fremdbilder

Rosa (Agustina Muñoz), eine junge Argentinierin, will nach Deutschland reisen, um ihren Vater zu suchen. Sie kennt ihn nicht, glaubt aber, er sei ein deutscher Ingenieur, der nach einem kurzen Aufenthalt in Argentinien in die "Erste Welt" zurückgekehrt ist. In einer Art Familienaufstellung steht Rosa vor drei Freundinnen (Inés Efrón, Pilar Gamboa und María Villar) und debattiert das Für und Wider ihres Vorhabens. Ausgehend von vermeintlichen Kinderfotos ihres Vaters aus Europa beginnt Rosa ihre Überlegungen zu kulturellen Wurzeln und Klischees, Zugehörigkeit und postkolonialer Begegnung. Spielerisch-ironisch geht "Fiktionland" Selbst- und Fremdbildern in der Annäherung zwischen Lateinamerika und Europa auf den Grund.

"Abgesoffen" heißt das Gastspiel des Schauspiels Frankfurt. In Antú Romero Nunes Adaption des gleichnamigen Romans von Carlos Eugenio López fahren zwei Männer durch die spanische Nacht – im Kofferraum die Leiche eines "Moros", eines marokkanischen Einwanderers, den sie zuvor in einer mit Salzwasser gefüllten Badewanne ertränkt haben. Sie sind Auftragskiller im Dienste der Regierung, die jede Woche einen Immigranten umbringen. Nun sind sie auf dem Weg ans Meer, wo sie ihr Opfer am Strand ablegen wollen, um den Eindruck eines auf der Überreise ertrunkenen Flüchtlings zu erwecken.

Der Tote im Kofferraum

Vor einer schwarzen Wand stehen Nils Kahnwald und Oliver Kraushaar ganz dicht vor dem Publikum. Ihre Killer sind zwei ungleiche Typen – der eine gewieft-vulgär und im Ripp-Shirt, der andere ein ernsthafter Anzugträger – die sich auf ihrer Reise lapidar plaudernd Fragen über das Leben stellen. Sie reden und reden – über Ex-Freundinnen, Poesie, Stalin, Hitler, Julius Cäsar oder das Universum, in dem sie selbst, ihr Tun und der Tote im Kofferraum schlussendlich völlig unbedeutend sind. Überzeugendes und eindrückliches Schauspieltheater über die Suche nach Sinn und Erkenntnis, das sich zu recht ganz auf Sprache, Gestik und Mimik seiner Protagonisten verlässt.

Das diesjährige AUAWIRLEBEN-Festival ist ein multilinguales Theatertreffen verschiedenster Theatersprachen. Es versammelt Gegenwartstheater, das mit unterschiedlichsten Genres und Formaten experimentiert und präsentiert Theatermacher, die das Potenzial der kulturellen Diversität ästhetisch und inhaltlich zu nutzen wissen.

 

 

32, Rue Vandenbranden
von Peeping Tom (Brüssel)
Konzept, Inszenierung: Gabriela Carrizo, Franck Chartier, Bühne: Peeping Tom, Nele Dirckx, Yves Leirs, Frederik Liekens. Mit: Seoljin Kim, Hun-Mok Jung, Marie Gyselbrecht, Jos Baker, Sabine Molenaar, Eurudike De Beul.

Fiktionland
von Romina Paula und Gerhard Meister (Buenos Aires/Zürich)
Inszenierung: Romina Paula, Bühne: Matías Sendón. Mit: Inés Efrón, Pilar Gamboa, Agustina Muñoz, María Villar.

A Game of You
von Ontroerend Goed (Gent)
Von und mit: Alexander Devriendt, Joeri Smet, Sophie De Somere, Nicolaas Leten, Maria Dafneros, Charlotte De Bruyne, Aurélie Lannoy, Kristof Coenen, Eden Falk

Abgesoffen
von Carlos Eugenio López, übersetzt von Susanna Mende
Inszenierung: Antú Romero Nunes, Bühne: Johannes Hofmann. Mit: Nils Kahnwald, Oliver Kraushaar.

www.auawirleben.ch




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