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Weicher Fall auf harten Marmorboden

von Katrin Ullmann

Hamburg, 5. Mai 2011. Es ist irgendwie rührend: Der in den USA lebende Anwalt und Autor Seth Yorra, Jahrgang 1945, schreibt ein Stück über Sigmund Freuds letzte Stunde. Gemeinsam mit Mathieu Carrière adaptiert er es ins Deutsche und dieser spielt darin den Freud. Wer den Anstoß zu dieser Zusammenarbeit gab, die das Schauspielhaus wiederum in Koproduktion mit Mathieu Carrière auf die Bühne brachte, bleibt unklar. Klar ist, dass es an diesem Abend verdammt rührselig zugeht.

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Und zwar so: Sigmund Freud sitzt an einem Septembertag im Jahre 1939 in seiner Londoner Wohnung. Er ist schwerkrank und müde, lebensmüde. Seine Tochter Anna soll sein Todesengel sein. Freud starb tatsächlich an jenem Septembertag an einer tödlichen Dosis Morphin, sein Arzt hatte ihm Sterbehilfe geleistet. Seth Yorra bevorzugt die Variante mit dem Todesengel, der laut einer jüdischen Legende so wunderschön ist, dass kein Sterblicher seinem Ruf widerstehen kann. Der schönste Mensch in den Augen eines Vaters, so schlussfolgert Yorra im Programmheft, ist die eigene Tochter.

Engelsgleiche Locken, letztes Stadium

Spätestens jetzt sind alle wieder gerührt. Und denken an Mathieu Carrières Kampf um seine zweite Tochter, an seinen unerbittlichen Streit um das Sorgerecht, an seinen öffentlichen Auftritt als gekreuzigter, mit Lendenschurz und Dornenkrone bekleideter  Vater vor dem Berliner Bundesjustizministerium. Möchte dieses Stück vielleicht nicht nur rührend, sondern auch sehr persönlich sein?

In der Inszenierung und Uraufführung von Seth Yorra, die – warum auch immer – in der Hotelbar im Hotel Reichshof stattfindet, ist Barbara Lanz Tochter und Todesengel Anna Freud. Sehr schön sieht sie aus, ihre Locken sind engelsgleich, ihr Gemüt scheint besonnen. Mathieu Carrière hingegen spielt, sofern man diesen traurigen, höchst intimen Zustand überhaupt spielen kann, einen Todkranken im letzten Leidensstadium.

Schmal und abgemagert sieht er aus in seinem Morgenmantel, sitzt meist ermattet in einem der grünledernen Barsessel, stöhnt, jault, schnauft, grunzt, zuckt und erregt sich. Manchmal schließt er auch die Augen und – nach jeder Spritze Morphium – driftet er lebhaft ab in seine Erinnerungen. Dann springt er auf, zündet sich eine Zigarre an, erzählt Anekdoten und jüdische Witze, denkt an Horvath, Mozart und an den Krieg, parliert mehr als dass er philosophiert. Carrière glaubt an seine Figur, an seine Rolle: Er spielt sie mit vollem Einsatz bis zu ihrem tragischen Ende. Aus den Armen seiner Tochter – seine Todesengels – stürzt, fällt er dann rücklings auf den Marmorboden der Hotelbar. "Ich bin Optimist, ich stehe mit beiden Füßen in der Luft" sind seine letzten Worte. 

Barsessel-Erinnerung an vergangene Zeiten

Manch einer ist jetzt sicherlich wieder gerührt. Ein bisschen Text bleibt auch noch für Barbara Lanz, die ganz mädchenbrav von ihrem ernsten Papa erzählt und ihren kindlichen Versuchen, ihn aufzuheitern, dann ist das Stück zu Ende. Es soll ein Stück "zum Totlachen" sein, so lautet Yorras anspielungsreicher Untertitel. Herausgekommen ist eine pathetische, unerträglich realitätsnahe Inszenierung eines recht belanglosen und verstaubt wirkenden Vater-Tochter-Stücks. Eines Stücks, das von längst vergangenen Zeiten erzählt, von jüdischen Witzeleien, gutbürgerlichem Bildungsglück und altväterlichem Augenzwinkern. Auf Abstraktion, Interpretation, theatrale Behauptung oder gar Figurenpsychologie wurde gänzlich verzichtet. Irgendwie rührend, dass man sich das traut. 

 

Letzte Runde – Freud im Fegefeuer (UA)
Text & Regie: Seth Yorra, Dramaturgie: Michael Propfe.
Mit: Mathieu Carrière, Barbara Lanz.

www.schauspielhaus.de


Mehr: Mathieu Carrière spielte auch in Robert Guiskard. Herzog der Normänner, eine Koproduktion der Ruhrfestspiele Recklinghausen und des Schauspielhaus Hamburg, die im Mai 2010 Premiere hatte.

 

Kritikenrundschau

Mit ihrem leicht schummrigen, eleganten Ambiente im unversehrten Jugendstil sei die M&M Bar des Maritim Hotels Reichshof eigentlich eine tolle Kulisse, findet Monika Nellissen in der Welt (7.5.2011). Aber hier könne sie auch nichts retten: "Freud wähnt sich in einem Nachtklub, doch Carrière, vorzugsweise mittig in einem Sessel halluzinierend, ist nur schwer zu verstehen und bisweilen auch überhaupt nicht zu sehen." Nicht, dass Yorra aus dramaturgischen Gründen die Wahrheit korrigiert, sei verwunderlich, sondern "wie er die schillernde, reiche Persönlichkeit des Psychoanalytikers auf ziemlich dünnem Gedankeneis schlittern" lasse.  "Bleibt zu konstatieren: Mathieu Carrière spielt nicht eitel auf, er nimmt sich zurück in der Anverwandlung und Identifikation, doch glauben tun wir ihm nicht."

Ein Flop am falschen Spielort, befindet -itz im Hamburger Abendblatt (7.5.2011) knapp. "Nach dem ersten Schuss gibt Carrière den aufgekratzten Entertainer, reißt schlechte Witze, schwenkt Whiskyglas und Zigarre." Eine Komödie hätte das werden können, aber Seth Yorra wolle es anders. "Es ist eine wahre Erlösung für den sich abrackernden Mathieu Carrière wie für das Publikum, als Anna die letzte Spritze setzt. Denn solch falsches Sterbetheater ist unfehlbar des Theaters Tod."


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