altEau de Cologne

von Stefan Bläske

Berlin, 6. Mai 2011. Wasser flutet die Bühne, koste es was es wolle. Danach beim Feiern fließt Kölsch fer umme. Und schon vor der Vorstellung plätschert reichlich Wasser auf die Mühlen. In seiner kurzen Eröffnungsrede bekennt sich Kulturstaatsminister Bernd Neumann – trotz "Krise" – mit einem dreifach kräftigen "Ja" zum Theater. Ja, ja, ja, sagt er wie schon vor Kurzem bei der Verleihung des Gertrud-Eysoldt-Ringes, Kultur müsse sein, und die 150 mit öffentlichen Mitteln subventionierten Theater seien Leuchtpunkte innerhalb der Kulturlandschaft in Deutschland. So einfach kann man ihn sich holen, den Applaus im ausverkauften Haus der Berliner Festspiele.

Wasserklar, dass es Karin Beiers Inszenierung schwerer haben würde vor dem von Festspielintendant Joachim Sartorius begrüßten "höchst kenntnisreichen, kritischen, das Theater liebenden Publikum". Die Berliner Theatertreffen-Besucher sind bekanntlich anspruchsvoll und argwöhnisch, die Auszeichnung als "bemerkenswerte" tt-Einladung und -Eröffnung legt die Latte hoch, und nicht zuletzt: die Kölner Inszenierung lebt u.a. von einem nur schwer transportablen Lokalkolorit.

Käsekrainer? Ukrainer!

Zum einen ist da die österreichische Wurzel der Jelinekschen Texte (etwa wenn Ukrainer zum Käsekrainer werden, also zu Brühwürsten und "Eitrigen", oder mit der Bio-Marken-Werbung "Ja! Natürlich" einer österreichischen Lebensmittelkette das Natürliche zur Handelsware verkommt). Zum anderen gibt es sehr konkrete Bezüge zur Kölner Kommunalpolitik. Angesichts des Stadtarchiv-Einsturzes stellt der dritte und letzte Teil von Das Werk / Im Bus / Ein Sturz Fragen nach Verantwortung von Politik und Unternehmen. Eingespielte Bürgermeister-O-Töne, ein Rheinischer Dialekt der Schauspieler und natürlich der unmittelbare Bezug zum tragischen Ereignis geben der Inszenierung in Köln eine Brisanz, die in Berlin schwer herzustellen ist. Dennoch – man muss ja nicht unnötig Wasser in den Wein gießen – gab es nach dreieinhalb Stunden langen und anschwellenden Applaus.

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Karin Beier nahm den tt-Preis und die von Iris Laufenberg vorgetragene Jury-Laudatio entgegen, ohne die Gelegenheit für ein paar Worte zu ergreifen, aber kurz zuvor im "Fazit live"-Interview beschrieb sie dem Deutschlandradio-Mikrophon, wie die Inszenierung in Köln regelmäßig "rührt", "emotional" und mit "stehenden Ovationen" aufgenommen wird.

Warum machen wir das?

Seit der Premiere indes habe der Text für sie nochmal eine neue Bedeutung bekommen. Nicht durch ihren Beschluss, jener Kölner Kulturpolitik den Rücken zu kehren, die ihr das Wasser abgraben wollte. Sondern durch ein fernes Ereignis. Seit Fukushima, sagt die Regisseurin, höre sie den Text nochmal neu, bekomme das eigentlich zeitlose Thema ihrer Inszenierung eine "erschreckende Aktualität". In allen drei Jelinek-Texten gehe es um Hybris und Verantwortungslosigkeit des Faust'schen Menschen, der zerstörerisch in die Natur eingreife. Zentral für Beier ist die Selbstbefragung und lakonische Antwort in Jelineks Text: "Warum machen wir das? Weil wir es können."

werk145lefebvreVom Wasser haben wir's gelernt – Szene aus "Das Werk / Im Bus / Ein Sturz" in Köln © Klaus Lefebvre

Aber vieles können wir eben auch nicht. So ist eines der schönsten, traurigsten und (irr)witzigsten Bilder der Inszenierung, wenn am Ende das Wasser marschiert, die nassen Massen auf die Bühne sprudeln, und die Darsteller versuchen, das Wasser mit dem Fuß in das Loch, aus dem es quillt, zurückzuschieben wie einen störenden Stein am Wegesrand, wenn sie mit bloßen Händen die Fluten löffeln, das Becken leeren wollen, ganz ohne alles Maß und Erfassen der Dimensionen. Wenn sie schließlich versuchen, das Leck zu stopfen, gehen sie doch mehr aufeinander los anstatt gemeinsam gegen die Flut an. Das alles ist von Elfriede Jelinek wie üblich intelligent verwortwurstet und von Karin Beier kongenial und kraftvoll in Szene gesetzt, mit Chor vor und Choreographie nach der Pause, mit einem Großaufgebot an sechzig Sängern und mit Erde und Wasser, die es mit einander treiben.

Leben auf Kosten anderer

Welchen Boden aber bewässert diese Inszenierung, gerade nach den aktuellen Ereignissen und Reaktionen rund um Fukushima? Ist dieses Baustellen-Bashing, diese Faust- und Homo-Faber-Anklage etwas, das aufrütteln kann und soll, oder ist es vielmehr zur Illustration des Zeitgeists in einer Republik geworden, in der Bürger gegen beinahe jede kleinere und größere Baustelle demonstrieren? In der die Menschen ökologisch vorbildlich aus der Kernkraft aussteigen wollen, aber konkret vor Ort sich dann stets über den Bau von Hochspannungstrassen, Windrädern und Wasserkraftwerken empören, die für den entsprechenden Ersatz doch nötig wären?

Wird mit dieser Inszenierung nicht Wasser in den Rhein geschüttet in einem Land, das von Energiesparen spricht, aber seinen Energiehunger weiterhin durch Raubbau an der Natur und auf Kosten anderer, ärmerer Menschen stillt? Dessen oberste Maxime ist: Wasch mich, aber mach andere nass? Wo übermütige Ingenieure, profitgierige Baufirmen und unfähige Politiker angeklagt werden, der Finger nur auf sie und also auf andere zeigt und nicht auch auf das eigene Wahl- und Konsumverhalten, ist mit der Inszenierung wenig gewonnen.

Auch das Haus der Berliner Festspiele war gerade noch eine Baustelle. Nun ist's mit 15 Millionen Euro Steuergeld frisch renoviert, mit Lampions und Lagerfeuer war's Kulisse für eine gemütliche, unaufgeregte Eröffnungsveranstaltung. Es floss nur wenig Wasser, dafür viel Wein, Sekt und Freibier. Genießen lässt sich so ein Abend, wenn man das übliche Bussi Bussi mit Hinz und Kunst denn mag, sich von Photo- und Fernsehkameras nicht stören lässt und es gelingt, noch rechtzeitig einen der Buffet-Gutscheine zu schnorren. Ein Leben auf Kosten anderer ist nunmal besonders angenehm, und Schuld sind eh immer nur die anderen. Am Ende behält freilich die Autorin recht: Glücklich ist, wer vergießt, was noch nicht verschüttet ist.

 

Die Kölner Premiere von Elfriede Jelineks Das Werk / Im Bus / Ein Sturz sah im Oktober 2010 Andreas Wilink.

Die Theatertreffen-Übersicht von nachtkritik.de: Ausführliche Kritiken zu den zehn eingeladenen Inszenierungen, Kritikenrundschauen, die zum Stückemarkt gebetenen Stücke und alles rund um das Theatertreffen finden Sie hier.

Kommentare  
TT-Eröffnung: ein Fall für Transparency International?
"Nun ist‘s mit 150 Millionen Euro Steuergeld frisch renoviert,....." schreibt Stefan Bläske, das ist hoffentlich ein Druckfehler mit einer Null zu viel.
Ansonsten sollte die "Transparency International"-Truppe anrücken. ........und der Kölner Klüngel würde durch einen noch größeren Berliner Klüngel zu ersetzen sein.

(Werte(r) Nomos,

nein, kein Fall für Transparency International, sondern der einer Null zu viel, wie Sie richtig vermuten. Ist korrigiert.

MfG
Georg Kasch für die Redaktion)
Eröffnung tt 11: Erwartbares aus Köln?
Na, das war sicherlich der am leichtesten zu durchschauende Bestandteil des Kölner Spielplans. Moralisch derart unangreifbar, dass einem schlecht wird. Ping. Zwei Stück Personen. Ping. Und Fukushima soll ja bekanntlich überall sein. Im Fernsehen heute reizte es besonders zur Übelkeit. Da dürfen wir doch gespannt sein, was der Kirschgarten von der inhaltlich ebenfalls nicht schwer berechenbaren zweiten Karin zum emotional aufwühlenden Thema der gemeinsamen Schuld der Erfolgsmenschen beiträgt. Warum arbeitet Laurent Chetouane nicht mehr in Köln? Oder Jürgen Kruse?
Eröffnung tt 11: gerechtes Lob
Lieber Heinrich, lesen Sie doch einfach den Spielplan des Schaupiel Köln für die Spielzeit 2011/12, dann werden Sie ihren geliebten Chetouane auf der Liste der Inszenierungen entdecken. Gähn.
Ich finde, nur ganz nebenbei, daß Karin Beiers Inszenierung die fulminanteste Arbeit der letzten Saison war und zu Recht mit Lob überschüttet wird.
tt-Eröffnung, Berlin: trotzdem berauschend
.......bis zum Chor hält die Regie auf atemberaubende Art und Weise die Balance. Text und Darstellung bilden wahrlich eine berauschende Einheit.
Es konnte einem schwindelig werden. Man glaubte, philosophische Höhe zu erklimmen.

........danach ist die Balance dahin und nach der Pause wird aus der „Theaterdarstellungskiste“ herausgeholt was herauszuholen ist. „Die Pferde gehen durch“.
Sowohl Text, als auch Darstellung stürzen ab und werden seicht.
Trotzdem ein berauschender Theaterabend.
tt-Eröffnung, Berlin: virtuos und vielschichtig
Ein grandioses Stück Theater, virtuos in jedem Moment, vielschichtig und vielseitig, der ganze Abend ein polyphoner, vielstimmiger Chor. Requiem und Staire, wütender Appell und beißende Satire, hochdynamisch, ungemein spielfreudig. Beier inszeniert den erhobenen Zeigefinger Jelineks heraus, ohne auch nur das Geringste ihrer Schärfe zu opfern. Wer Relevanz im Theater einfordert, hier findert er sie. Vielleicht sogar mehr,als ihm lieb ist.

Kritik: http://stage-and-screen.blogspot.com/
tt-Eröffnung, Berlin: ein wunderbarer Abend
Ein wunderbarer Abend. Ich wußte, warum ich mir ein Karte für's TT gekauft habe.
tt-Eröffnung, Berlin: durchweg eitel
ein durchweg eitler abend mit durchwegs geschlossener vierter wand. auf der bühne schnurrt und knattert die "wie kann ich die nächsten fünfzig zeilen von jelinek in eine neue regie-idee packen" maschine und - wie schon so oft - verwandelt sich jelineks spott in nichts anderes als theater-sport, und am ende beklatschen wir frenetisch unser sitzfleisch und die blauen flecken der darsteller. puh.
tt-Eröffnung, Berlin: Wem gehört der Baugrund?
Ein toller Abend! Insofern man nicht nur auf die pantomimische Darstellung der geilen Vereinigung von Erde und Wasser fokussiert. Denn dafür schreibt keiner Gutachten, für diese Vorrichtung des Pornos, der wieder nur den Interessen der Firma dient. Der Mensch denkt, die Firma lenkt. Gegen "die Natur" kann "der Mensch" nunmal leider nichts machen, sorry, aber das folgt alles dem "natürlichen Lauf der Dinge". Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um, und keiner ist verantwortlich. Nein, unsere Herren-Regierung reagiert ja auch nur noch auf selbstverursachte Katastrophen, anstatt zu agieren. Da wird die Sklavenarbeit bürokratisch verwaltet.

Wem gehört die Stadt? Wir Bürger sollen hier doch wieder nur im Glauben gehalten werden, dass wir gegen diese kriminellen Machenschaften "der Natur" sowieso nichts machen können, obwohl es ja eigentlich gar nicht um die Natur geht, sondern wieder mal nur ums stahlharte Geld. Ja, das Geld hat immer eine Stimme, aber die Naturkräfte, die haben keine Stimme. Und die brauchen auch keinen Anwalt, der immer nur im Namen der Stärkeren spricht, im Namen der großen wirtschaftlichen Profiteure. Lasst uns lieber singen und dabei zuschauen, wir wollen doch nur dabei zuschauen, wir lieben doch diesen himmlischen Gesang von des Wassers Seele, wir wollen doch verblendet werden.

Aber wir Bürger dieser Stadt, wir könnten uns - analog zum Kölner Klüngel - auch fragen, wem dieser Baugrund rund um das Haus der Berliner Festspiele jetzt eigentlich gehört. Den Privatinvestoren und Baufirmen, weil der Bürgermeister der Stadt Berlin eben irgendwie klamm ist und friert? Oder vielleicht doch uns Bürgern? Wem gehört der öffentliche Raum? Wer hat uns verraten?

"Das Wasser macht alles, das kann alles, das kommt überallhin, das braucht keine Eintrittskarte. Ja, freilich, ansonsten kassieren wir, damit die Baufirmen in dich, Erde, hinein oder oben drauf dürfen, damit sie über dich drüber dürfen, Erde, die du so lieb uns bist, gratis geben wir dich nicht her. Hör mal, du, Wasser, brauchst gar nicht so zu drängeln, dich gibt es umsonst. Und dich läßt die Erde natürlich auch umsonst drüber. Das ist nicht gerecht. Das wird sich rächen." (Elfriede Jelinek)

Vielleicht können wir ja auch noch ein wenig diskutieren, zum Beispiel über Löcher, Gräber, Schlitzwände, Schmiergelder, Bewährungsstrafen, Wohngemächer, "gemach, gemach!", grüne Hügel, Burgtheater und geile Fotos. Oder bleibt am Ende wieder nur das große Schweigen, die Verdrängung des (eigenen) Todes? Was können wir tun? Auch wir können es tun, weil wir es können. Mut zum Politischen!
Theatertreffen-Eröffnung: Solidaritäts-Ohrwurm
Ich kriege seit 3 Tagen das Solidaritätslied nicht aud dem Kopf. Auch ein Zeichen einer wirkungsvollen Inszenierung.
Eröffnung Theatertreffen 2011: Nur mit Führer singen?
Dieses "Solidaritätslied" birgt aber auch Widersprüche, fragt man danach, wie es eigentlich zustandekommt. Tatsächlich nur durch den Dirigenten, welcher in der Mitte des Zuschauerraums steht? Können wir Bürger wirklich nur gemeinsam singen, wenn wir einen "Führer" haben, dessen Leitung wir uns anpassen? Es ist ja auch leichter, menschliches Fehlverhalten als Strafe Gottes zu betrachten als sich die eigene (Mit-)Verantwortung einzugestehen. In diesem Sinne sind auch die einzelnen Stimmen, welche sich aus dem Chor herausschälen, aufschlussreich. Auf der einen Seite die Megaphonsprecherstimmen als Aufrufe zum politischen Widerstand aus dem Arbeitervolk selbst, auf der anderen Seite die brav dem kirchlichen Gesang folgenden, kieksigen Mädchenstimmen, welche zugleich einem verbotenen, lustvollen Katastrophenvoyeurismus frönen, sprich dabei - beim Untergang der Anderen - nur zuschauen wollen. Funktioniert Solidarität nur über eine übergestülpte (politische und/oder religiöse) Ideologie? Wird auch die dem eigenen Handeln eingeschriebene potentielle Schuld miteinbezogen oder nur interpassiv delegiert?

"Der Begriff der 'zweiten Natur' ist demnach heute relevanter denn je, sowohl in seiner wörtlichen Bedeutung (als künstlich erzeugte neue Natur: Naturmonster, deformierte Kühe und Bäume oder - als positiver Traum - genmanipulierte Organismen, die in unserem Sinne 'optimiert' wurden) als auch im gebräuchlichen Sinne der Verselbständigung der Ergebnisse unseres eigenen immer schon gesellschaftlichen Handelns: wie uns die Folgen unserer Handlungen entgleiten, wie sie Monster hervorbringen, die ein Eigenleben führen. Es ist DIESES Entsetzen über die unvorhergesehenene Folgen unseres eigenen Tuns, nicht die Naturgewalt, über die wir keine Kontrolle haben, das für Schrecken und Ehrfurcht sorgt; es ist DIESES Entsetzen, das die Religion zu zähmen versucht."
(Slavoj Zizek, "Auf verlorenem Posten")
Eröffnung Theatertreffen 2011: erst singt einer alleine
Liebe Britta, Sie vergessen, dass dass das Lied zuerst von einer einzelnen Figur angestimmt wird, die es erstmal auch sehr einsam vor sich hin singt. Der Chor greift es auch wesentlich später auf. Was natürlich Ihre These nicht zwangsläufig untergräbt, denn tatsächlich findet erst dass zu wirklicher Macht und Kraft, wenn es der - ja, geleitete - Chor schmettert, während es vorher, von einem aus der Masse gelösten Einzelnen angestimmt, nicht auf fruchtbaren Boden fiel.
Eröffnung tt 11: entscheidend ist der Dirigent
@ Prospero: Das erinnere ich nicht mehr so genau. Entscheidend ist hier für mich, dass der Chor auf der Bühne von einem Dirigenten aus dem Publikum heraus dirigiert wird. Heisst das, dass die Masse der Zuschauer dazu verdammt ist, stumm, passiv und romantisch glotzend immer nur weiter zuzuschauen, wie die da vorn von Solidarität oder vielleicht auch von was ganz anderem singen? Hört doch eh keiner so richtig zu, klingt bloß so schön, nicht wahr? Ist das jetzt der ESC? Sind wir dadurch nicht fein raus? Ich persönlich lasse mich lieber durch einzelne Stimmen des Widerstands anstecken, welche mit mir als einzelner Zuschauerin direkt und tatsächlich dialogisch interagieren, mich also mit ihrer eigenen individuellen Leidenschaft zum Politischen anstecken.
Eröffnung tt 11: wird Sie das Solidaritätslied 2012 noch angehen?
Sie kriegen also das Solidaritätslied seit drei Tagen nicht mehr aus dem Kopf, und das sei zudem ein "Zeichen" für eine wirkungsvolle Inszenierung. Naja, vielleicht fiel ja das Solidaritätslied bei Ihnen schon auf fruchtbaren Boden, bevor der Chor einsetzte: mal sehen, ob Sie das beim nächsten TT immernoch so angeht...
Eröffnung tt 11: ironischer Verweis
@ Britta
Sie überbewerten hier die Verwendung des Solidaritätsliedes. Erst fand ich es etwas unpassend, dann als die Köpfe von Mao und Karl Marx zur Rampe tanzen, wird es als ironischer Verweis auf die gescheiterten Utopien der Arbeiterbewegung deutlich. Auch der Aufbau zum Beispiel in der Sowjetunion nach der Oktoberrevolution war uneingeschränkt fortschrittsgläubig und mit Parolen geprägt wie „Kommunismus - das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes“ (Lenin). Es kommt da auf die Zeilen an: "Auf ihr Völker dieser Erde, einigt euch in diesem Sinn, daß sie jetzt die eure werde, und die große Nährerin." Das Ausbeuten der Erde als "große Nährerin". Fast eine Umkehrung der eigentlichen Bedeutung dieser Zeilen im Kontext der internationalen Solidarität.
Als politischen Agit-Prop-Song benutzt Karin Beier den Song meiner Meinung nach nicht und der Dirigent steht im Publikum, weil er wahrscheinlich auf der Bühne schlecht ins Bild passen würde. Für diese hochkomplizierten Sprechchorpassagen brauchen sie aber einen Dirigenten. Ob das zeigen soll, dass es immer einen geben muss, der den Hut auf hat, ist m.E. reine Spekulation. Und was hat das mit ESC zu tun? Singt da etwa jemand im Chor? Das ist doch die größte aller Individualistenshows. Wer da zusieht, wäre wahrscheinlich selbst gerne auf der Bühne und deligiert seine unerfüllbaren Wünsche an eine Stellvertreten, z.B. an unseren Liebling der Nation Lena.
Eröffnung tt 11: Chöre immer
Liebe Britta, vielleicht liegt das schlicht daran, dass Chöre in der Regel immer dirigiert werden?
Eröffnung tt 11: Zuschauen in der Spektakelgesellschaft
@ Stefan: Nicht ich, das war Prospero. Ich habe in diesem Chor vor allem auch die Ironie bzw. den Widerspruch dieser gesungenen Arbeitersolidarität im Kontext der NS-Zwangsarbeiter gesehen. Ihr Verweis auf "das Ausbeuten der Erde als 'große Nährerin'" klingt für mich ebenso interessant. Und stimmt, der ESC ist eine Individualistenveranstaltung, ich glaub, ich bin da mal eben gedanklich in die gestrige Jette Steckel-Premiere am dt rübergerutscht. Gleichwohl, ob nun das individualistische Starsystem oder der auch nur vermeintlich mit einer Stimme sprechende/singende und dirigierte Chor im Theater, bei beidem geht es vor allem ums Zuschauen - Stichwort: Spektakelgesellschaft. Da müsste man ansetzen.

@ Prospero: Kann schon sein, aber warum steht der Dirigent hier dann voll sichtbar und ausgeleuchtet im Publikum und nicht unsichtbar im Orchestergraben? Schon bisschen anders als sonst in der Oper, oder?
Eröffnung tt 11: Warum den Dirigenten verstecken?
Liebe Britta,

warum den Dirigenten "verstecken" wie in der Oper? Ich fand das sehr schön, daß er zu sehen, zu beobachten war. Sehr stolz, sehr klar. Ich finde es auch erwachsener, die Menschen bei ihrer Arbeit im Theater zu sehen, die nicht im direkten Sinne 'Darsteller' sind. Es ist viel weniger spektakel- bzw. illusions-verliebt. Und, wie oben schon erwähnt, ist es für komplexe Chorwerke (und nicht nur dafür) unerläßlich, einen Dirigenten zu haben.
Im Übrigen saß während der Berlin-Premiere ein Mann neben mir, der spontan in den "Solidaritäts-Song" einstimmte ...

Darüber hinaus bin ich mir nicht sicher, ob nicht Elfriede Jelinek den Text dieses Liedes zitiert - das also keine Idee der Regie ist. Und wenn doch, dann wäre das ebenso sinnfällig: Die Verkehrung des ursprünglichen Gedanken des Liedes, darauf zu verweisen, was die ursprüngliche Forderung auch bedeuten kann - heute - da wir genau wissen, was es bedeutet sich die Erde vollständig untertan zu machen und wie hybrid dieser Herrschaftsdrang ist. Wiewohl uns dieses Wissen darum niemals schützen wird, uns nicht doch genauso hybrid zu verhalten. Und: Bedeutet es nicht den Tod, darauf zu verzichten, Tatmensch zu sein?
Eröffnung tt 11: Geht es nicht auch ohne Machthierarchie?
@ kolja: Ich meinte damit gar nicht, dass ich den Dirigenten verstecken will. Ich habe mich bloß gefragt, warum der hier so exponiert wird und ob ich den jetzt wirklich brauche, um ein "Tatmensch" - wie Sie schreiben - zu sein.
Übrigens ist der Gestus des Dirigenten dem mit dem Rücken zu den Zuschauern aufgebauten Lenin-Denkmal auf der Bühne von Jette Steckels "Kleinbürgern" ähnlich. Frage: Brauchen wir die (neuerliche) Fokussierung bzw. Fixierung auf einen einen (historischen) Helden?
Ausserdem fällt auf, dass der Dirigent bei Karin Beier diesen Chor alles singen lassen kann, bis hin zum total banalen Nonsens eines "Dahahanke" zum Beispiel. Wiederum die Frage: Geht das politische Engagement der bürgerlichen Zivilgesellschaft nicht auch ohne die Machthierarchie zwischen "Führer" und "Volk" bzw. ohne einen vorgegebenen Text im Sinne einer abstrakten Ideologie? Ich würde sagen, dass es mehr auf das einzelne Individuum ankommt, welches sich mit anderen Individuen im Rahmen einer alltagspraktischen Solidarität vernetzt. Sie kommen da ja auch auf ähnliche Schlüsse, indem sie die "Hybridität des Herrschaftsdrangs" erwähnen.
Eröffnung tt 11: Dirigent vom Rang aus nicht sichtbar
So exponiert fand ich ihn gar nicht, von meinem Rangplatz habe ich ihn z. B. nicht einmal gesehen.
Eröffnung tt 11: was für eine Arbeit
Vom Seitenrang war der Dirigent sehr gut zu sehen. Ich fand das schön. Es zeigt doch auch, was da für eine Arbeit dahinter steckt und dass so ein Chor nicht nur ein plattes Masseninstrument ist, sondern aus vielen Einzelakteuren zusammengebaut ist. Zu Kolja:
es muss kein Widerspruch sein Tatmensch sein zu wollen und gleichzeitig auf andere Rücksicht zu nehmen. Ein Chor funktioniert nur, wenn alle mitwirken und keiner ausgeschlossen ist. Es treten ja immer wieder Einzelakteure hervor, jeder hat eine/seine ganz spezielle Stimme.
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