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Das grüne Kleid der Vernunft

von Marcus Hladek

Frankfurt am Main, 7. Mai 2011. Die Psychoanalyse ist ein Klebstoff, der eigens fürs US-Drama Mitte des 20. Jahrhunderts erfunden scheint. Nicht nur der "Ödipus" des Sophokles zerfiele vor unseren Augen wie trocknender Ölschiefer, wenn wir die Sache mit Vatermord und Inzest nur auf Schicksal, Fluch und Götterstrafe beziehen dürften, auch Arthur Millers Blick von der (Brooklyn-) Brücke zwischen dem proletarischen Brooklyn und Manhattan lebt von der Begeisterung, mit der Amerika die weltliche Sekte der "shrinks", der Psychiater, ans Herz drückte. "

"Blick von der Brücke" spielt unter Einwanderern aus Sizilien mit und ohne Pass: dem verheirateten, kinderlosen Dockarbeiter Eddie Carbone, seiner an Kindes statt angenommenen siebzehnjährigen Nichte Catherine, der er mehr als väterliche Zuneigung entgegenbringt, und den Vettern seiner Frau, Marco und Rudolpho, die als Illegale ins Land und bei ihnen unterkommen. Tragisch wird es, als sich Catherine und Rudolpho verlieben, was Eddies inzestuöse Eifersucht aufrührt und ihn bis zur Denunziation des Illegalen treibt. In einem Messerkampf mit dem besonnenen Marco, den Eddie provoziert ("Der da hat meine Kinder getötet" – Marco), stirbt er. Ohne Geld aus Amerika werden Marcos Kinder verhungern.

Die Leichtigkeit der Psychologie

Als Regisseur Florian Fiedler unter Frankfurts Ex-Intendantin Elisabeth Schweeger noch das Schauspiel-Labor "Schmidtstraße 12" leitete, muteten manche Regien an, als wolle er sich stracks in den Himmel schwingen, obwohl die Spielmodelle an diesem Ort mehr Flaum als Flügel hatten. "Ein Blick von der Brücke" zeigt ihn, heute Hausregisseur am Schauspiel Hannover, gereift. Die neunzigminütige Inszenierung im Kammerspiel schließt die psychologische Tragödiendramaturgie auf der Bühne bündig und (reaktionär gesagt) "ohne Mätzchen" auf.

Das Ergebnis gefällt und ist gut genug, um Martin Rentzsch (Eddie) und Henriette Blumenau (Catherine), aber auch Mathis Reinhardt (Rudolpho), Heidi Ecks (Beatrice) und Johannes Kühn (Marco) in Vanessa Eders verfremdet-realistischer Szenerie alle psychologischen Register ziehen zu lassen. Fast wünscht man sich etwas vom präpotenten Gestus der "Schmidtstraße" hinzu, als Surplus, um das gute, leicht konventionelle Handwerk seiner Regie zu transzendieren.

Um den Finger gewickelt

Musikstücke zwischen "Ciao Bella" oder Contes "Gelati al limone" und Sinatra takten das italo-amerikanische Geschehen, in dem Heidi Ecks als Ersatzmutter und verkörperte Beharrungskraft im grünen Kleid zur Vernunft rät, ohne später auch nur mitzubekommen, wie bedrohlich Eddie hinter ihr mit der Axt hantiert. Hübsch, wie Fiedler mit Symbolen spielt: der Streit über die "grünen Zitronen" (gemeint sind Limonen) findet sich im Gelb der Wand und Contes Lied, Eddies Kosewort "Madonna" in einer Statuette wieder, mit der er hantiert.

Bühnenbildnerin Vanessa Eder schlägt über der Rampe einen Laufsteg durch die Lüfte, der Ideen von Hochbahnen weckt. Die kleine Wohnung, in der ganz eng die Leidenschaften brodeln, ist ein leicht versenktes Teilquadrat der Bühne mit gelber Wohnwand und gemaltem Kaminfeuer, hinderlichen Stahlträgern, billigem Mobiliar und tiefer versenkter, gekachelter Küche vorn – Wohnverhältnisse für ein Dockarbeiter-Gehalt.

Hier verdient sich Rentzsch mit seiner körperlichen Robustheit in Jeans, die noch Arbeiterhose sind, und bodenständigem Hemd den meisten Applaus. Hier gewährt Blumenaus Catherine ihm etwas zu intime Zärtlichkeiten für ihr Alter und wickelt ihn, breitbeinig im kurzen Frühlingsrock dasitzend, mehr um den Finger, als beiden gut tut. Später spielt sie wunderschön kokett aus, wie sie von Rudolpho angesprochen wird. Marco trägt blaue Arbeiterkluft, der für Eddie unmännliche Rudolpho hingegen, der mehr kann als Ladung löschen, sehr bald modischere Klamotten.

Das Kommen der Tragödie
Die freien Räume links werden mal von Nadja Dankers und ihren Einwanderungshäschern in Uniform (Statisten japanischer Herkunft) durchschnitten, mal erfüllt das junge Paar sie und den Steg mit Leben, wenn sie in Blaulicht und Discokugel-Glamour tanzen. Meist aber bleiben sie Michael Benthins souveränem Anwalt im dunklen Anzug und Hut mit 1950er-Flair vorbehalten, der als Erzähler ungesehen umhergeistert und die Tragödie kommen sieht, wie seine "chorischen" Kommentare zeigen, und doch nichts tun kann, als sich Eddie und Marco an ihn wenden: "Es gibt keine rechtliche Handhabe."

Die Psycho-Tragödie, als unausweichlich konstruiert, schillert antikisierend, und Fiedler bringt sie frei von Umdeutungsfuror, figurennah und schlüssig auf die Bühne.


Ein Blick von der Brücke
von Arthur Miller. Deutsch von Alexander F. Hoffmann und Hannelene Limpach
Regie: Florian Fiedler, Bühne: Vanessa Eder, Kostüme: Selina Peyer, Dramaturgie: Sibylle Baschung. Mit: Martin Rentzsch, Heidi Ecks, Henriette Blumenau, Mathis Reinhardt, Johannes Kühn, Michael Benthin, Nadja Dankers.

www.schauspielfrankfurt.de

 

Zuletzt sahen wir von Arthur Miller: Tod eines Handlungsreisenden, inszeniert von Felix Rothenhäusler in Heidelberg und Alle meine Söhne, inszeniert von Roger Vontobel am Deutschen Theater Berlin.

 

Kritikenrundschau

Arthur Miller ziehe die Konstellation seines Stücks "ins Tragische hoch", wobei es nicht "so richtig einsichtig" sei, "dass die Liebe zu einer Nichte wirklich eine Tragödie sein muss", meint Peter Michalzik in der Frankfurter Rundschau (9.5.2011). "Und dass Einwanderung und Amour fou zusammengehören, ist auch nicht wirklich zwingend." Trotzdem gelinge Regisseur Florian Fiedler "eine packende Aufführung, in der die Schauspieler sozusagen Blut und Wasser schwitzen. Sie kämpfen um das Stück, das wirkt, als müssten sie um ihr Leben kämpfen." Warum Fiedler das Stück inszeniert habe, sei "trotzdem unklar. Mehr als zarteste Anspielungen auf staatliche Gewalt (in Form von chinesischen Polizistinnen!) oder Angst vor Zuwanderung (hier anspielungsreich verknüpft mit Spinnen!) wollte er sich nicht gestatten. Unter Schweeger und in Hannover als politisch-engagierter Regisseur bekannt, hat Fiedler als Miller-Interpret jetzt etwas von einem Märchenerzähler."

Fiedler vertraue "zu Recht darauf, dass das Stück auch heute noch funktioniert: Abgesehen von einigen kleinen Strichen wird Millers Text in Szene gesetzt, als sei er von so klassisch eherner Gültigkeit, wie es der Bezug des Autors auf das Trauerspiel des Altertums behauptet", schreibt Michael Hierholzer in der Rhein-Main-Zeitung der Frankfurter Allgemeinen (9.5.2011). Angesichts der Motive des Stücks "mag eine Aktualisierung von Raum und Zeit nicht nötig sein, auch wenn die hier praktizierte Form von historistischer Aufführungspraxis gelegentlich ein wenig museal anmutet. Man könnte auch sagen: Die Regie passt sich angelsächsischen Theater-Gepflogenheiten an. Der Spannung und der Unterhaltung jedenfalls ist das nicht abträglich." Andeutungen seien "nicht Sache dieser Inszenierung. Ihr Ziel ist Deutlichkeit." Die "vielen gestischen Details, die der psychologischen Charakterisierung der handelnden Personen dienen", frappierten, und so sei das Ganze ein "Abend reinen Schauspieler-Theaters. Und eine Feier des Millerschen Textes."

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