Berichte Theatertreffen 2011

Zur Verleihung des Theaterpreises Berlin 2011 an Dimiter Gotscheff, Almut Zilcher, Samuel Finzi und Wolfram Koch

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Politisches Stadttheater im Zeitalter der Rührung

von Rudolf Mast

Berlin, 8. Mai 2011. Auch im 48. Jahr ist das Berliner Theatertreffen kein Wettbewerb. Preise werden dennoch vergeben, darunter der Theaterpreis Berlin, den die Stiftung Preußische Seehandlung, die sich der Förderung von Wissenschaft und Kultur in und für Berlin verpflichtet hat, seit nunmehr 24 Jahren an Theaterschaffende vergibt und am ersten Sonntag des Theatertreffens – in diesem Jahr Muttertag und, je nach politischem Standort, zugleich Jahrestag der Befreiung respektive der Niederlage – verleiht. Und ohne die Feierstimmung verderben zu wollen, sei ein kleiner Widerspruch gestattet.

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Der gilt nicht der Feier selbst, einer gut besuchten Matinee im Deutschen Theater, die mit weit über zwei Stunden zwar recht lang geriet, aber mit der Mischung aus Reden (u. a. von Joachim Lux, Mark Lammert und Katrin Brack) und Musik (u. a. die Band Nada mais), Spielszenen (Margit Bendokat) und Videos (Ausschnitte aus Inszenierungen), Spaß (Peter Jordan und Katrin Wichmann als Conférenciers) und Ernst (mehr oder minder alle) und der feierlichen Preis-Überreichung durch Berlins Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit dem Anlass würdig. Nur das gastgebende Haus hätte auf der Bühne mehr hochkarätige Präsenz zeigen können. Schließlich arbeiten die Preisträger schon seit Jahren am DT.

Ein Widerspruch

Der Plural deutete es schon an: In diesem Jahr wurde erstmals ein Quartett geehrt: Dimiter Gotscheff, Almut Zilcher, Samuel Finzi und Wolfram Koch, und diese vier haben jeden Preis verdient, der in Verbindung mit Theater zu vergeben ist. Seit vielen Jahren und jedes Jahr aufs Neue erarbeiten der Regisseur und die Schauspieler Inszenierungen, die vielleicht nicht immer gleich gut gelungen sind, aber immer wichtig und: bemerkenswert.

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Wolfram Koch, Dimiter Gotscheff, Samuel Finzi und Almut Zilcher © gezett.de

So lautet noch immer das Kriterium für die Einladung zum Theatertreffen, und dass 2011 keine Inszenierung der jetzt Geehrten dabei ist, ist einen Widerspruch wert (der nicht dadurch entkräftet wird, dass die Jury des Theatertreffens die Entscheidung offensiv vertritt). Schließlich gibt es zwischen beiden Veranstaltungen nicht nur den zeitlichen Zusammenhang, sondern ein Mitglied der Theatertreffen-Jury ist stets auch Mit-Juror für den Theaterpreis (in diesem Jahr Christine Wahl).

Ein möglicher Grund für das Missverhältnis zeigt sich beim Blick auf die Begründungen, die zu beiden Anlässen veröffentlicht wurden. Bei der Auswahl zum Theatertreffen ist von Dingen wie Identifikation, Rührung und Überrumpelung die Rede. Theater, das sich so beschreiben ließe, war und ist von den Geehrten tatsächlich nicht zu erwarten.

Was meint und was verdeckt das Wort "Familie"?

In dieselbe Kerbe droht jedoch eine Wortwahl zu schlagen, der der zweite Einwand gilt: Zentraler Begriff sowohl in der Begründung für die Vergabe des Theaterpreises als auch während des Festes war das Wort "Familie". Es zielt auf den Umstand, dass die Zusammenarbeit der vier Geehrten teils schon mehrere Jahrzehnte währt – und droht zu unterschlagen, dass das Theater, für das sie stehen, ein politisches Theater ist. Damit ist selbstredend nicht jene besserwisserische und selbstgefällige Belehrung gemeint, wie sie auch heute noch unter dem Begriff firmiert, sondern die Fähigkeit und Bereitschaft, vermeintliche Gewissheiten infrage zu stellen – zunächst einmal die eigenen.

Das politische Theater, von dem hier die Rede ist, zielt nämlich nicht allein auf das Resultat, die Inszenierung, sondern bereits auf die Entstehung, zu denen neben exzessiver Probenarbeit auch eine personelle Kontinuität gehört, die nicht an der Bühnenkante endet. Im Grunde also steht der Ausdruck "Familie", auf die vier Geehrten angewandt, für das, was einst Stadttheater hieß – ehe es zunächst als provinziell verunglimpft und später dem Amüsement anheim gegeben wurde. Ursprünglich gemeint ist damit jedoch jene politisch-ästhetische Ensemblearbeit, für die Dimiter Gotscheff, Almut Zilcher, Samuel Finzi und Wolfram Koch stehen. Und vielleicht darf daran erinnert werden, dass das Theater genau dafür Subventionen erhält.

Das fünfte "Familienmitglied"

Mit Weg- und Arbeitsgefährten des Quartetts kam auf der Feier zum Glück auch dieser Punkt zur Sprache. Und auch ein letzter Einwand lässt sich weitgehend entkräften. Denn zu der besagten "Familie" gehört unbedingt auch Margit Bendokat, mit der Gotscheff schon mehr als ein Jahrzehnt länger arbeitet als mit jedem anderen "Familienmitglied". Dass Margit Bendokat in diesem Jahr nicht den Berliner Theaterpreis erhielt, wird durch zwei Umstände verzeihlich: Erstens war sie auf der Feier als Lobende ebenso präsent wie als Gelobte, und zweitens hat sie ihn schon im letzten Jahr bekommen.

 

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Kommentare  
Theaterpreis an Gotscheff-Familie: was hält man davon?
interessant wäre zu erfahren, hier in dieser gegend,
was man kritisch vom "politischen theater" des dimiter gotscheff und seiner
"theaterfamilie" eigentlich hält, da es dafür subventionen erhält.
Theaterpreis Berlin: Lernen von Müller und Gotscheff
"Tag der Niederlage"?

Über politisches Theater schreiben, aber die Begriffe nicht beherrschen.

Lernen von Müller, Gotscheff und den Kindern wäre angebracht.
Theaterpreis Berlin: man kann's nicht ignorieren
"je nach politischem Standort" - steht doch da, was wollen Sie denn? Man kann doch nicht ignorieren, dass es (noch immer) Menschen gibt, die das (noch immer) so sehen...
Theaterpreis Berlin: keine abschließenden Antworten
Von Müller kann ich nichts lernen. Der bleibt mir verschlossen -
abgesehen von seinem politischen Standpunkt -
Gotscheff ist einmal gut, einmal schlecht -
kann man von "künstlerischer Gestaltung" lernen? vieles bleibt doch dabei offen - und gibt keine endgültigen und abschließenden Antworten -
Ich kann mit Kunst, und durch sie etwas erfahren -
Lernen klingt in diesem Zusammenhang ziemlich "schulmeisterlich",
womit wir wieder beim "politischen Theater" wären
und den sogenannten "Lehrstücken", die oft auch Leer-Stücke sind,
oder etwa nicht?
Theaterpreis Berlin: eine gewisse Freiwilligkeit
...man kann all dies an sich nur schwer ertragen, denn "Familie" zunächst im römischen ein Begriff für einen Besitzstand, ist er heute noch immer der soziologische Begriff für etwas das man sich nur ganz bedingt aussuchen kann; ist es doch gebunden an eine leibliche oder anders juristisch begründete Erziehungsberechtigung. Theater, sei es auch staatlich subventioniert, begründet sich jedoch in einer gewissen Freiwilligkeit, die sich die Geehrten sicher nicht absprechen lassen wollen. - Bei all dieser Ungenauigkeit und Fahrlässigkeit auch noch den Begriff des politischen Theaters einführen (?)...welch ein Grauen! Gehts noch?!
Theaterpreis Berlin: politisch involviertes Theater, sagt Wiki
Seit den 199oer Jahren haben sich in der deutschen Theaterszene durch die weithin ausstrahlnden Impulse der Berliner Volkbühne unter der Intendanz Frank Castorfs vielfältige Ansatzpunkte eines politisch
involvierten Theaters entwickelt, unter Rückgriff auf Formen von Happening, Performance oder szenischer Installation wird von dessen
Regisseuren und "Kuratoren" nach neuen szenischen Antworten auf
aktuelle politische Herausforderungen gesucht, darunter insbesondere von Christoph Schlingensief, Rene Pollesch und Christoph Marthaler. Versuche zur Neubestimmung eines explizit
aufklärerischen Theaters sowohl auf inhaltlicher als auch formaler Ebene gingen nach 2OOO auch von Volker Lösch aus.
(WIKIPEDIA)
Theaterpreis Berlin: mit quietschender Kreide
Wer hat die Kunst zum Lernen aufgefordert, fragt Pippi.

Du musst noch viel lernen, antwortet Effi.

Der Schulmeister züchtigt beide und schreibt mit quietschender Kreide an die Tafel:

Politik und Kunst / Schuld und Sühne / Niederlage und Befreiung / Pippi und Effi
Theaterpreis Berlin: statt Politik gibt's das Politische, sagt Wiki
Politisches Theater nach 1990, WIKIPEDIA
Teil 2
Dennoch erscheint gegenwärtig eine einheitliche, für sämtliche theatralen Projekte gültige Definition von " Politischem Theater"
kaum möglich, zumal der Begriff an sich kaum mehr präskriptive Verwendung findet, es bietet sich eher an, vom "Politischen" eines Theaters zu sprechen, wobei keine ideologischen Konzepte mehr postuliert werden, sondern eigenartige Relationen zwischen politischem Diskurs und Theaterästhetik festzumachen sind, die sich oftmals in Erfahrungen der Freiheit von politisch dominierten Alltagsbewusstsein manifestieren und dem Zuschauer Erfahrungen einer ästhetischen "Freiheit" im Sinne Friedrich Schillers ermöglichen, die sich weder einer politischen Ideologie noch einem
aufklärenden Lehrtheater zuordnen lässt.
Theaterpreis Berlin: Politisches Theater als Laboratorium
Das Politische Theater manifestiert sich somit vorderhand in seiner
anthropologischen Grundbedingung des Aufeinander-Treffens im Rahmen
der Aufführung. Insofern kann vom Politischen des Theaters als von
einem LABORATORIUM gesprochen werden, das soziale Konfrontationen mit
Experimentiercharakter ermöglicht und dem Einzelnen Freiheitserfahrungen ermöglicht, die sich in der Aufhebung des Dualismus von Gefühl und Verstand bzw. Körper und Geist widerspiegeln. Die Frage nach dem Potenzial des Theaters zur
realpolitischen Verbesserung der Gesellschaftszustände muss unter diesen Gesichtspunkten neu diskutiert werden.
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