altWas noch alles fehlt

von Michael Laages

Berlin, 8. Mai 2011. Zu den ulkigsten Phrasen im zeitgenössisch geplusterten Konferenz-Deutsch gehört die vom "Impulsreferat"; der englische Dramatiker Simon Stephens war eingeladen, eines zu halten beim Auftakt zum "Stückemarkt", einer der Institutionen im Gesamtprogramm vom Berliner Theatertreffen, auf die die scheidende Chefin Iris Laufenberg stets besonderes Augenmerk gerichtet hat – kein Wunder, denn hier erst wird das Festival zum Festival. Für die Inszenierungs-Auswahl selber kann ja immer nur die Jury was. Im "Stückemarkt" aber (und in vielem anderen drum herum) erweist sich erst ein Stück der künstlerischen Spürnase des Leitungsteams.

Vielleicht sind Theaterstücke auch Literatur

Nach freundlich-wohlfeilen Erföffnungstreden von Iris Laufenberg selbst, dem finanziellen Förderer und Ex-Unternehmer Heinz Dürr sowie der "Stückemarkt"-Leiterin Yvonne Büdenhölzer hat Impulsreferent Simon Stephens (hier sein Referat im englischsprachigen Wortlaut) dem folgenden "Expertentisch" unter Leitung des künftigen Düsseldorfer Chef-Dramaturgen Stefan Schmidtke nun zwar überhaupt keinen "Impuls" gegeben – nicht mal den, verschärft kontrovers zu debattieren über unterschiedliche Erfahrungen mit neuer Dramatik in (zum Beispiel) England, Polen und Rumänien –, aber amüsanterweise hat er ausgerechnet vor und für Autorinnen und Autoren ein Plädoyer gegen die Hybris der Autorenschaft gehalten: Fast alles, was er persönlich über gutes und starkes Schreiben gelernt habe, habe er im Prozess der Inszenierung gelernt, also gemeinsam mit dem Regisseur Sebastian Nübling, der Ausstatterin Muriel Gerstner und den Ensembles, die Stephens speziell in Deutschland zu Ruhm und Erfolg geführt haben.

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Daheim in England, diesem Traumland des Theaterkonservatismus, sei alles ganz anders; dort sei (mitsamt dem Text, wie er geschrieben steht) weithin noch immer der Autor heilig und unantastbar. Unendlich viel wichtiger aber als das (sagt Stephens, und er hat damit sicher recht) sei doch die Umsetzung für die Bühne – Theaterstücke seien vielleicht Literatur: aber immer nur "auch", nie "vor allem". Material sind sie, für die Herstellung einer Aufführung auf der Bühne und für ein Publikum – es tut schon gut, daran immer mal wieder erinnert zu werden. Und auch den Autorinnen und Autoren tut es womöglich gut, deren frische Texte im "Stückemarkt" erstmals vorgestellt werden – sie werden bestenfalls bemerken, was ihnen noch alles fehlt.

Brachland und Komödienstadl

Wenn die Erinnerung nicht täuscht, wurde das Ausprobieren beim "Stückemarkt" ehedem immer auf dem prinzipiell eher ein wenig unsinnlichen Weg der "szenischen Lesung" betrieben; das heißt: nur über gemeinsames Sprechen entwickelte sich so etwas wie das dramatische Potenzial eines Textes. Auch das ist den Machern längst nicht mehr genug – für "Brachland", das Stück des 1982 in Kiew geborenen und in der Schweiz aufgewachsenen Dmitrij Gawrisch, kreierte das Team um Stefan Kimmig einen Trick, um die drei Personen des Stücks von den leidigen Textbüchern in der Hand zu befreien: Maren Eggert, Felix Goeser und Christoph Franken spielten (mikrophonisch verstärkt) in Räumen vor und hinter den Glasfronten der Kassenhalle, und hinter dem Publikum lief auf einer Art Soufflage-Wand der Text mit. Was allerdings befreiend sein sollte, wirkte eher beengend – der Dauer-Blick auf die Text-Projektion nahm dem szenischen Versuch eine Menge der möglichen Konzentration.

Was so schlimm aber nicht ist – auch höchst konzentriert wüchse dem dramatischen Konstrukt nicht allzu viel mehr an Bedeutung zu. Ivan und Oleg sind auf der Flucht vor dem Elend zu Hause (vielleicht in Kiew und umzu), in Deutschland suchen sie Schwarzarbeit – und finden Petra, die freundliche Ärztin, die die beiden nicht etwa verpfeift, als sie sie (unter anderem) beim Klauen überrascht, sondern vielmehr einen von beiden heiratet und den anderen erst im Keller wohnen und sich später (als die Ehe mit dem anderen nicht so richtig läuft) auch von ihm schwängern lässt.

Hier läge die zentrale Herausforderung des Textes – weniger die Zwanghaftigkeiten der Wirtschaftsflüchtlinge, als vielmehr die sanfte Gutmenschin als ebenso berechnende Ausbeuterin des menschlichen Ost-Materials zu zeichnen. Dahin kommt zumindest der erste Versuch nicht; aber auch Gawrischs Sprache lässt nicht wirklich ahnen, dass im Text derart viel stecken könnte. Was ein wenig wie nach Kroetz kommen könnte, klingt weder nach Fisch noch nach Fleisch – und wie heißt "Komödienstadl" eigentlich auf Ukrainisch?

Der verrätselte Bürgermeister

In Malgorzata Sikorska-Miszczuks Stück "Burmistrz/Der Bürgermeister" steckt sehr viel mehr: immerhin eine geheimnisvolle Parabel über Jedwabne, jenes polnische Dorf, in dem 1941 die polnische Mehrheit die jüdische Minderheit massakrierte. Name und Thema sind noch immer eine Art Tabu in Polen – aber wenn "Stückemarkt"-Mitjuror Jan Klata das Geheimnis im Programmheft nicht lüften würde, das Publikum käme womöglich nicht notwendigerweise auf diese Spur.

Im abstrakten Hin und Her des Textes um Bürger und Bürgermeister, Gäste aus Amerika, einen deutschen Berufsbüßer und die Mutter Gottes ist bestenfalls zu ahnen, dass da eine Ebene unterhalb der Oberfläche lauern muss, die der Text mit beträchtlicher Verrätselung umschreibt. Die Ambition, auch die szenische, ist beträchtlich, die Sprache müsste aber erst noch Form gewinnen; Nina Gühlstorff, die schon in Magdeburg einen Text der Autorin in Angriff nahm, kommt diesen "Bürgermeister" noch nicht wirklich nahe.

Viel war zur Eröffnung von der Notwendigjkeit die Rede, die neuen Texte in die Spielpläne deutscher Bühnen zu vermitteln – über die Uraufführung des Sieger-Textes am Schauspiel Hannover in der nächsten Spielzeit hinaus. Die beiden ersten Texte habe prinzipiell wohl eher geringe Chancen – was auch ein bisschen an der laxen Oberflächlichkeit der Erst-Interpretationen beim "Stückemarkt" liegt. Ein konzentriertes Ensembles, lesend am Tisch, kann womöglich mehr Kraft entwickeln im Umgang mit dem ganz neuen Text.

 

Brachland
von Dmitrij Gawrisch
Einrichtung: Stefan Kimmig, Dramaturgie: Sonja Anders, Ausstattung: Kathrin Frosch, Nora Johanna Gromer.
Mit: Maren Eggert, Christoph Franken, Felix Goeser.

Burmistrz/Der Bürgermeister
von Malgorzata Sikorska-Miszczuk
Einrichtung: Nina Gühlstorff, Dramaturgie: Daniel Richter, Ausstattung: Nora Johanna Gromer.
Mit: Niels Bormann, Jonas Hien, Bernd Moss, Tilo Nest, Jenny Schily.

www.berlinerfestspiele/theatertreffen.de

 

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Kommentare  
tt-Stückemarkt I+II: Verteidigung von "Brachland"
Vielleicht müsste der geneigte Kritiker das Stück "Brachland" erst einmal in seiner ganzen Länge lesen, bevor er sich anmasst, über Inhalt und Sprache zu urteilen. Ich habe das Stück gelesen und kann sagen, dass der hier geforderte Ansatz, Petra als Gutmenschin und zugleich eigennützige Ausbeuterin des "Schwächeren" darzustellen, sehr wohl im Text zu tragen kommt. Die Sprache finde ich nicht weder "Fisch noch Fleisch", sondern von einer angenehmen Knappheit und stellenweise höchst poetisch. Und ob man das Stück als Komödienstadl versteht, liegt ja wohl einerseits in den Händen der Inszenierung, andererseits ist es aber auch sehr wohl dem Willen des Rezipienten überlassen. Ich lese Brachland weit weg von einem solchen Genre, sondern als konzentriertes Familienstück, das Fragen nach Verantwortung und Schuld stellt, jedoch genau so eine politische Dimension aufweist und parabelartig verstanden werden kann.
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