alt

Einen Meta weiter

von Martin Pesl

Wien, 10. Mai 2011. Wie bringt man Publikum mit möglichst wenig Aufwand zum Nachdenken? Oder anders: Wie erfüllt eine Performerin am einfachsten den Stückauftrag eines Festivals? Oder wieder anders: Was mache ich hier eigentlich? Solche Fragen muss sich Ivana Müller mit dem Auftrag zu ihrer neuesten Performance-Arbeit "60 Minutes of Opportunism" in der Tasche gestellt haben, und um sie zu beantworten, brachte sie sie schlichtweg auf die Bühne.

nachtkritik.de hat alles zum Theater. Damit das so bleibt, klicken Sie hier!

Diese Bühne, hier jene des Wiener brut im Konzerthaus, ist praktisch leer. Lediglich ein langes rotes Kabel, "vor dem ich mich ein wenig fürchte", verbindet den Kassettenrekorder, den sich Ivana Müller um den Bauch geschnallt hat, mit der Technik. Die neutral bis freundlich blickende, eher unscheinbare Mittdreißigerin trägt zudem ein kariertes Hemd und einen Rucksack mit ihren Utensilien: eine Decke, eine Packung Zigaretten, Stöckelschuhe. Wir sehen den Körper Ivana Müllers als den einer Tänzerin, denn so was in der Art erwartet man ja von einer Performance, doch ihre eigene Stimme auf Kassette bittet uns, uns die tanzende Ivana doch einfach vorzustellen. Sie sei schließlich nur eine Repräsentation.

Der banale Materialismus hinter der künstlerischen Entscheidung

"Ich möchte diese Gelegenheit nutzen", stellt die Stimme fast jedem Satz voran. Und Gelegenheit hat Ivana Müller, denn sie hat einen Auftrag. So einfach ist das, und so schön ist es, in geistreichen Worten darüber zu hören. Die gebürtige Kroatin arbeitet von Amsterdam und Paris aus vorwiegend als Choreografin. 2009 bestellte ein gewisser Robert, wie wir erfahren, "15 Minutes of Opportunism": Müller solle erstmals seit 2002 endlich wieder mal selbst auftreten (und sich ja nicht einfallen lassen, ein Video von sich zu projizieren!), um in englischer Sprache den schmalen Grat zwischen "opportunity" und "opportunism" abzuwandern. "60 Minutes of Opportunism", die erweiterte Version, war erstmals im Oktober 2010 in Amsterdam zu sehen.

Bei so vielen Vorgaben liegt es nahe, sie allesamt durch eine Flucht in die allseits erholsame Metaebene ein-, sie dem Auftraggeber aber auch gehörig vorzuhalten. Während viele Performances auf eine Reflexion, ein Selbst-Bewusst-Sein des Publikums abzielen, steht Müller nochmal drüber: Sie thematisiert den Akt der Performance selbst, die Erarbeitung, die Durchführung eines Soloauftritts, aber auch – und das überrascht – den banalen Materialismus, der hinter künstlerischen Entscheidungen steckt: Ist es nicht Verschwendung, wenn ich für jede Vorstellung eine neue Zigarettenpackung öffne, nur um eine zu rauchen? Wie viele Minuten darf dieser Statist, der mich gerade auf den Schultern trägt, präsent sein, bis ich ihn bezahlen muss? Am Theater lauert der Opportunismus an jeder Ecke. Ihn offenzulegen ist nicht weniger feige, aber – zumindest in diesem Fall – befriedigend, für alle Beteiligten. Denn diese Fragen haben wir auch schon gestellt, nicht selten mit gehässigem Unterton. Hier kriegt man einmal so richtig meta-mäßig den Wind aus den Segeln genommen.

Pure körperliche Anwesenheit

Wenn sie sich eine halbe Stunde nicht vom Fleck bewegt, dann einen Meter weiter geht und kommentiert, eine Veränderung sei nötig, oder wenn sie sich eine Decke über den Kopf zieht, aus dem Wunsch heraus, unsichtbar zu sein, erzählt Müller pure körperliche Anwesenheit. Sie inszeniert diese Momente, wenn einem das eigene physische Dasein an sich bewusst wird, jetzt, und jetzt, und jetzt, und das alles eigentlich gar nicht sein kann und total absurd ist, und man versucht, diesen Augenblick, obwohl er klarerweise aus vielen punktuellen Augenblicken besteht, möglichst lang auszudehnen. Dann wiederum, vielleicht um die Stunde komplett auszufüllen, kommt es zu montypythonesken Überraschungen: Sie singt uns ein Lied, "Time is on my side". Bevor uns das Tonband erklärt, wieso (sonst tut es das meist), ist die Stunde dann auch leider schon um. Ivana nutzt die Gelegenheit, sich beim Auftraggeber zu bedanken, und haut ab.

Soll dieser rundum sympathischen und durchwegs unterhaltsamen Feier der Selbstreflexion auf Biegen und Brechen etwas vorgeworfen werden, so könnte es höchstens eine gewisse Harmlosigkeit sein. Im Zweifelsfall hat Müller immer ein Lächeln auf den Lippen. Die von ihr thematisierten Vorhersehbarkeiten ihres Publikums kreidet sie niemals an, sie beschreibt sie nur im sanftmütigen Tonfall einer verbindlichen Flugbegleiterin. Doch selbst, würde ihr dieser Vorwurf unterbreitet, hätte Ivana Müller, die alte Opportunistin, bestimmt eine Antwort darauf – und wieder neues Material, etwa für "80 Minutes of Opportunism".

 

60 Minutes of Opportunism
von und mit Ivana Müller

Künstlerische Mitarbeit: Agata Maskiewicz, Paz Rojo, Jefta van Dinther, 
David Weber Krebs, Gaëlle Obiégly, Inge Koks, Bill Aitchison, Thomas Brosset,
 Licht: Martin Kaffarnik
, Technik: Martin Kaffarnik / Ludovic Rivière,
 Ton: Nils De Coster.

www.brut-wien.at

Mehr zur Performerin Ivana Müller finden Sie im nachtkritik.de-Lexikon.

Kommentare  
Ivana Müller, Wien: Immer ein Lächeln?
Libyen, Fukushima, Klimawandel, Fundamentalismus, Finanzkrisen..usw. Und die Antwort des Theaters? Ivana Müller und "60 Minutes of Opportunism". Wenigstens ist der Titel ehrlich, wenn nicht einmal deutsch. Natürlich hat Müller "immer ein Lächeln auf den Lippen". Sie verarscht uns.
Ivana Müller, Opportunismus: keine Verarschung
@ Kassmann, Rainald

Ja, es gibt viele Probleme auf der Welt, die es anzupacken gilt. Muss aber jede Kunst auf sie reagieren? Darf man jetzt die "Hochzeit des Figaro", "Was ihr wollt", die 6. Symphonie von Beethoven, "Taken by a stranger" und "60 Minutes of Opossumism" nicht mehr spielen, weil in Libyen ein Diktator durchknallt und uns die Atomkraftwerke um die Ohren fliegen? Kunst bewegt sich zumeist in einem anderen Raum als dem politischen, und in diesem Raum sind Ivana Müllers Meta-Fragen absolut zulässig und nicht einfach nur Verarschung.
Ivana Müller, Opportunism: Bezüge zu Diskursen der Angst
Es gibt durchaus Bezüge zu Politik und Welt in dieser Inszenierung. Ivana Müller wirft ein schwarzes Laken über ihren Körper und steht lange Zeit da wie eine Burka-Trägerin, ein knappes Dutzend Statisten kommen ebenfalls in schwarzen "Burkas" auf die Bühne. Was Ivana Müller als "Kassettenrekorder" umhängen hat, hat auf mich eher wie ein Fernzünder gewirkt, immer wenn sie ihn anmacht kommt ein Geräusch wie bei einer scharfen, tickenden Bombe. Sie trägt (ebenso wie einige der anderen Burka-Statisten) einen Rucksack, thematisiert mehrfach die Möglichkeit, dass wir jetzt alle in die Luft gehen könnten, und dass auch niemand die Rucksäcke der Zuschauer kontrolliert habe.
Parallel dazu die Aktion mit dem Rauchen. Die Frage, ob sie als ehemalige Raucherin nun rückfällig wird, wenn sie auf der Bühne raucht (dabei ist das ja "nur" Theater und Representation.) Ob wir als Zuschauer Mitverantwortung tragen, wenn sie aus der Bühne ihren Körper "schädigt". Für mich waren so besonders an der Inszenierung gerade die klugen Bezügen und Kommentaren zu Diskursen der Angst und deren politischen Instrumentalisierungen. Vorwürfe der reinen Selbstreferentialität scheinen mir also ungerechtfertigt.

Dass die Kritik den Fokus anders setzt mag darin begründet sein, dass die Inszenierung im brut den Themenschwerpunkt "Backstage" und also eine Reihe von Inszenierungen über das Theater selbst eröffnet. Für mich war die Inszenierung aber gerade darum intelligent, weil sie die Fragen der Repräsentation mit aktuellen politischen Themen wie Terrorangst, Rauch- und Burkaverbot verknüpft.
Kommentar schreiben