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Aqquserngit qerrukut. Gefrorene Wege.

von Stefan Bläske

Wien, 12. Mai 2011. Über allem glänzt das Eis. Tisch, Tasse, Teller und Toilette sind glaciert, mit dicker Eisschicht überzogen. Die Plakate der Wiener Festwochen 2011 bringen Frische in den Frühling, Abkühlung an sonnigen Sommertagen, sie versprechen klirrende Kultur und passen wohl zu keiner Produktion besser als zur in Grönland glückhaft entwickelten Eröffnungsinszenierung.

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Am Anfang, noch bevor es losgeht, steht der Anfang. Auf den roten T-Shirts des Einlasspersonals ist er zu lesen, vielversprechend auf der Brust: Anfang. Auf dem Rücken: Ende. Worauf es ankommt, steckt gewöhnlich dazwischen, könnte man meinen. Aber in Nullkommanichts macht Christoph Marthaler einen Strich durch derartig triviale Rechnungen und lässt von einem Buch erzählen, das sich "Sandbuch" nennt, "weil weder das Buch noch der Sand einen Anfang oder ein Ende hätten. Die Anzahl der Seiten dieses Buches ist haargenau unendlich. Keine ist die erste; keine die letzte."

Ein Eispanzer aus schellender Traurigkeit

Die phantastische Kurzgeschichte über das Buch ohne Anfang und Ende mit den immer neu hervorkeimenden Blättern stammt aus der Feder von Jorge Luis Borges und ist eine der essentiellen Text- und Denkgrundlagen für Christoph Marthalers jüngste Zuschauerherausforderung. Andere sind Alfred Döblins Zukunftsroman "Berge Meere und Giganten" über die Enteisung Grönlands und Georg Steiners "Warum Denken traurig macht". Warum? Weil's eine monströse Vergeudung ist und der maßlose Verlust an Gedanken und Erkenntnissen etwa im "ungehörten Selbstgespräch" eine "dem Leben anklebende Traurigkeit" verursacht. Wie ein Eispanzer nun klebt diese schellende Traurigkeit am subpolaren Basislager und an der – selbst an Marthaler-Maßstäben gemessen – außergewöhnlich leisen und lichtlosen, sich verweigernden, in sich gekehrten Inszenierung.

© Bo Kleffel
In Marthalers Basislager       © Bo Kleffel

Von Eislandschaft und fallendem Schnee, während die Sonne scheint, ist die Bühne der Realraumträumerin Anna Viebrock freilich weit entfernt. Der wie üblich geschlossene Raum ohne Außen und Natur ist diesmal eine Mehrzweckhalle mit bunten Spielfeldlinienmarkierungen: eigentlich ein großer und sportlicher, aber in seiner Hermetik doch auch klaustrophobischer Raum. Rechts hängt ein Basketballkorb, die Wände sind mit Matratzen verkleidet und mit jahrzehntealtem Sportlerschweiß getränkt.

"Es klingt so vertraut, aber ich kann es nicht verstehen"

In der Bühnenmitte versammeln sich die Darsteller zum Lesen, Lachen und Singen in einem pokalgezierten Aufenthaltsraum mit Tisch und als Bänken benutzten Husky-Transportboxen. Links schließlich ermöglichen Overheadprojektor und schwarze Schiefertafeln Vorträge über Klimaforschung. Dort ist zu hören, "was wir alle fürchten: dass die Nordsee demnächst an die Alpen schwappt – oder umgekehrt".

Ein Wissenschaftler-Text wird derart mit Hall-Effekten versehen, dass er kaum verständlich ist, und auch dieses Nicht-Verstehen ist einer der Schlüssel zum Basislager. Durch Dialekte, Aussprache oder technische Verzerrungen sind selbst deutsche Texte nicht immer verständlich. Das "Sandbuch", von dem Marc Bodnar auf Französisch berichtet, sei in arabischen oder indischen, jedenfalls nicht entzifferbaren Zeichen verfasst. Und ganze Passagen des Abends werden von Nukâka Coster Waldau und Gazzaalunq Qavigaaq auf Grönländisch gesprochen, mal deutsch, mal grönländisch, mal gar nicht übertitelt. "Es klingt so vertraut, aber ich kann es nicht verstehen", lautet das Motto des Abends.

Auf den Alpenhöhen des Gesangs

Es klingt nicht nur vertraut, sondern auch schön, denn natürlich spielt die Musik eine wichtige Rolle, wird an diesem Abend über den Schmelz- und Gefrierpunkt viel gesungen. Rosemary Hardy kriecht in eine enge Schlittenhund-Box und singt darin Madame Butterfly, Jürg Kienberger stimmt Mahlers "Lied von der Erde" an und bewegt mit Wasser gefüllte Gläser – eine sogenannte Glasharfe – durch Randreiben zu sphärischen Klängen. Im gemeinsamen Gesang schwingt sich das Ensemble in ungeahnte Alpenhöhen auf, mindestens bis zur Bluemlisalp. Ganz leise singen sie, zurückgenommen und gedeckelt, und darin doch so klar die Töne greifend: Gerade das scheinbare Unterdrücken und Unterkühlen bringt Kraft und Emotionalität etwa von Beethovens Allegretto der 7. Sinfonie oder Henry Purcells "Cold People" besonders luzide zum Erstrahlen.

Es ist dieses sanfte Durchscheinen, mit dem die Inszenierung besticht. Ein Scheinen durch dickes Fell und dickes Eis hindurch. Die schauspielenden Warmblüter selbst entwickeln vergleichsweise wenig Strahlkraft, sie wirken leicht blutleer und somnambul unter ihren Fellmützen, hinter den polaren Einmümmelungen oder Pinguin-Sportanzügen. Selbst der immer wieder schrillende "Alert Crew"-Alarm reißt die Figuren (und auch die Zuschauer) nur kurzfristig aus dem Dämmerzustand.

Die Texte aber, die Klänge und die Musik, sie werden zum Leuchten gebracht, matt und kalt und klar. Einige Zuschauer fürchteten vermutlich Eis-Zeit und Sandbuch-Effekt, sie warteten das Ende erst gar nicht ab. Wenn man sich aber einlassen kann auf diese schweizerisch-grönländischen Dämmerungen und Vergletscherungen, dann macht Christoph Marthalers subtile Subpolar-Inszenierung auf wundersame Weise auch das Seltene möglich: sich am Eise zu wärmen.

 

+-0. Ein subpolares Basislager (UA)
Ein musikalischer Klimawandel
Inszenierung: Christoph Marthaler, Bühne und Kostüme: Anna Viebrock, Musikalische Leitung: Rosemary Hardy, Musikalische Assistenz: Bendix Dethleffsen, Mitarbeit Regie: Gerhard Alt, Licht: Phoenix (Andreas Hofer), Ton: Fritz Rickenbacher, Dramaturgie: Malte Ubenauf.
Mit: Marc Bodnar, Raphael Clamer, Bendix Dethleffsen, Rosemary Hardy, Ueli Jäggi, Jürg Kienberger, Gazzaalung Qavigaaq, Sasha Rau, Bettina Stucky, Nukâka Coster Waldau.
Eine Koproduktion von Katuaq, Nuuk, Wiener Festwochen, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin, Festspillene i Bergen, Théâtre de la Ville, Paris, Det Kongelige Teater, Kopenhagen, Stockholms Stadsteater, London 2012 Festival, Edinburgh International Festival, Kampnagel, Hamburg und andere.

www.festwochen.at



Kritikenrundschau

"Diesem 'Basislager' fehlt der Grund", findet Patrick Wildermann im Berliner Tagesspiegel (10.9.2011) nach der Berliner Premiere. Man kenne die Marthaler-Mittel, "die verrutschten Paar-Begegnungen, das slapstickhafte Gegen-die-Wand-Rennen, das abrupte Verstummen. Und man liebt sie, so wie seinen schrägen Humanismus". Wie stets könne man sich auch diesmal in Anna Viebrocks Raum fallen lassen und die Welt vergessen. "Man vermisst auch die Erzählung nicht. Aber das Zwingende. Der Abend plätschert dahin – und aus: +-0. Tropf, Tropf." Viel mehr als vom Eisblock im Pavillon bleibe nicht.

"Was auf der Bühne vorgeführt werde, sei "so absurd, wie das Leben und damit wie immer bei Marthaler", so Sven Ricklefs im Deutschlandfunk (Kultur heute, 13.5.2011). Man sitzt zusammen und "schweigt oder singt oder geht sonstigen Absonderlichkeiten nach". Nein, "+-0" sei "natürlich kein Stück über Grönland, sondern höchstens die Beschreibung einer Annäherung und vielleicht ist das Stück noch nicht einmal das." Marthaler mache auch "kein Grönländer Ökotheater, sondern er versucht einmal mehr menschlich Skurriles freizulegen und: das Menschsein im Warten im Absitzen im Beisammensein zu zeigen". Dadurch bekomme der Abend allerdings auch etwas "Marthaleresk Austauschbares".

Der Regisseur komme "seinem Ideal, dem absoluten Stillstand", hier schon ziemlich nahe, so Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (14.5.2011). So viel "schummrige Langsamkeit, schmelzende Stille und saumseliges Nichtstun" sei "in unserer Zeit der Effizienz und technologischen Dauerpräsenz eine regelrechte Provokation". Das Publikum dämmere "angenehm tranquilisiert, hypnotisiert oder schlichtweg glücklich vor sich hin" –"Handlungs-Theater schaut anders aus." Es sei dies "kein Abend über Grönland", es gehe "nicht explizit um schmelzende Polkappen, auch wenn der Klimawandel sozusagen die Eisschicht bildet, auf der die Inszenierung ihre Spuren zieht". Viebrock habe dafür mal wieder "einen ihrer unnachahmlich ranzigen Wartesäle gebaut hat, in denen aus jeder Ritze gelebtes Leben mieft": eine Mehrzweckhalle, wie sie angeblich im US-Armeestützpunkt von Kangerlussuaq zu finden ist. Die Menschen auf der Bühne wirkten "weniger wie Forscher als wie Wartende in einer Schlechtwetterstation. Auf alle Fälle sind sie Aus-der-Zeit-Gefallene, Jetztzeitlose". Marthalers Theater sei trotz allem "eine Wärmestube", in der man "zu einem neuen Rhythmus finden" könne, "getragen von einer Musik, die wesentlich ist und die Seele wiegt".

"Viel lässt sich erzählen darüber, aber schweigen wäre die würdigere Reaktion" auf diesen Abend, schreibt Dirk Pilz in der Frankfurter Rundschau (14.5.2011). Der "tiefere Witz aller Kunst" sei schließlich "ihre Unergründlichkeit, die sich dem Geschwätz entzieht". Das Muster des Abends: "Etwas fängt an, dann hört es auf, als ob den Figuren wieder einfiele, dass mit Geschichtenerzählen und Wortemachen kein Weiterkommen ist." Und wenn etwas aufhört, fange bei Marthaler die Musik an, jeder Ton ein Schutzschild. Marthaler habe "seinen Figuren das Neckische ausgetrieben, die gestischen Kalauer, die Drolligkeiten" und sich "in musikalische und meditative Regionen zurückgezogen, in Geistes- und Seelengebiete des Schweigens" – eine Inszenierung von "fast mönchischer Natur. Sie erfordert Konzentration, Wille zur Meditation, zum Einlassen auf die Schwebezustände am Nullpunkt." Dieser Abend wisse genau, "was Klimawandel, Weltverschmutzung, Natur- und Menschenausbeute bedeutet – und fürchtet, was das für den Seelenhaushalt des Einzelnen heißen mag. Marthaler hat noch nie zur Tat, immer schon zum Eingedenken gerufen. So klar und kalt, so demutsreich und menschenherzenswarm zugleich aber hat er unsere Regionen der Einsamkeit bislang nicht besungen." Dies sei "ein Exerzitium, Einübung in die Sterblichkeit, Sturmangriffe gegen sie" – "so groß, so umfassend ist dieser Abend".

"Nur die wohlmeinendsten Alarmisten" würden Marthalers Stück "für eine Klimakatastrophenparabel halten", es sei "wie jedes seiner Stücke ganz einfach Marthaler, und das ±0", meint Paul Jandl von der Welt (14.5.2011). Viebrocks Wirklichkeitsfuror ergänze wieder einmal "aufs wunderschönste" die des Regisseurs –"Nur in diesem Hyperrealismus lässt es sich auch genau träumen." Wenn es bei ihm "auf Grönländisch singt und summt", seien das "die subpolaren Gebiete der Seele, wenn es in den Lautsprechern kracht und knackt, dann schmelzen innere Eisberge". Einen Abend lang werde in Tönen, Gesten und Wörtern die "dem Leben anklebenden Traurigkeit" (Steiner) heraufbeschworen. Rosemary Hardy singt im Husky-Käfig, und "nie klang Madame Butterfly melancholischer als hier". Marthaler lasse die Figuren "in die Räume der Einsamkeit gleiten, hinein ins Dunkel ihrer selbst". Das Stück sei "gegen glaziale Verhärtungen und eisige Gottferne" gemacht, eine "spröde Enzyklopädie der Kälte".

"Mehr hübsch als verwunschen" sei der von Viebrock eingerichtete Raum, schreibt der weniger angetane Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen (14.5.2011). Das größte Problem der hier befindlichen Akteure scheine zu sein, "dass sie nicht wissen, was sie hier sollen. Und wer nicht weiß, was er soll, langweilt sich schnell. Und uns auch." Marthalers Truppe wirke, "als wolle sie den Schrecken des Eises und der Finsternis mit einer mitteleuropäischen Gefriertruhe beikommen". Und es ist, "als wüchsen auf der Bühne lauter Weisheiten, die den Namen 'Binse' tragen". Wenn die Schauspieler "all das machen, was sie sonst bei Marthaler auch immer machen (nur mit anderem Anstrich), (...) dann haben sie speziell in Grönland eigentlich nichts verloren. Außer ein paar kulturkritische Klischees und ein paar verschmockte Sentiments." Marthaler reiche hier "nicht nach Grönland", sondern nur "bis zu sich selbst und seinen inzwischen fast schon technokratisch flutschenden szenischen Mitteln: Grönland - Territorium der Selbstbezüglichkeit."

Leider markiere "der Ausflug in den höchsten Norden zugleich auch den tiefsten Stand der Marthaler'schen Ausdrucksmittel: Die mehr angetippte denn ausgeführte Idee einer Notgemeinschaft, die auf das Wegschmelzen der arktischen Gletscher wartet", bleibe "eigentümlich blass". Ronald Pohl vom Wiener Standard (14.5.2011) fehlt die "Trennschärfe zwischen innen und außen, zwischen bloßem Aufenthalt und enervierender Dauer", was den Abend "wie eine kaum sättigende Zwischenmahlzeit erscheinen" lasse. "Die Abfolge von Stimmungen und Szenen besitzt keine gravitierende Mitte." Unterm Strich blieben "die Grotesk-Szenen einer kleinbürgerlichen Weltgesellschaft im Gedächtnis haften: Tanztee-Gruppen, die wie beim Eisstockschießen ihre Handys durch den Turnsaal kicken. Ein etwas müdes Blinzeln hinaus in die Polarnacht."

Das Mobiliar sei "einer der aufregenden Teile von '±0'", findet ein enttäuschter Norbert Mayer von der Presse (14.5.2011). "Über dem arktischen Stück Christoph Marthalers schwebt unbarmherzig die Frage, was die Grönland-Fahrer von dort berichten wollen. (...) Was haben der Regisseur und sein Team dort erlebt?" Da gebe es "gebildete Zitate zuhauf", und über die "imperialistisch-rassistischen Verordnungen über den Umgang mit den Inuit" könne man schockiert sein. "Aber warum Marthaler mit seinem oft so wunderbaren Ensemble die Zuschauer solcher Fadesse aussetzt, bleibt ein Geheimnis." Trost biete "bei so viel Theater-Tundra voll deutungsmächtiger Gesten und mysteriöser Handlungen allein die Musik". Ja, selbst bei Marthalers "schwächster Arbeit glänzt die Musik, sie ist seine eigentliche Sprache".

Das Stück zelebriere "das fortgesetzte Verstummen der Menschheit und das persönliche Verstummen des Künstlers Marthaler", schreibt Peter Kümmel (Die Zeit, 19.5.2011). Die Bühne treffe die "mulmige Stimmung der Zeit", denn diese Bühne sei eine Turnhalle, "also jener Ort, an dem nach den Katastrophen die Überlebenden bleiben". Marthalers Ideal vom Theater sei "die ahnungslos überstandene Katastrophe"; seine Helden seien von "schützender Begriffsstutzigkeit" umfangen.

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