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Onkel Wanja auf dem Schießstand

von Matthias Weigel

Berlin, 19. Mai 2011. Das Schlimme an Tschechows Dramen ist, dass sie ja eigentlich schon zu Ende sind, wenn sie anfangen. Diese treffende Feststellung steht zu Beginn dieses Stückes, das eine Fortführung von Anton Tschechows "Onkel Wanja" wagt. Im kleinen Raum im 3. Stock der Volksbühne ist das Werk des polnischen Autors Pawel Demirski zum ersten Mal in Deutschland zu erleben: "Diamanten sind Kohle auf Arbeit", lautet die Übersetzung von Andreas Volk.

Weil Tschechows Geschichten also am Anfang schon zu Ende sind und damit gleichzeitig: endlos, bieten sie sich eigentlich für eine Fortschreibung an. Die letzten Tschechow-Seiten liest man ja ohnehin oft mit dem Gefühl, dass zwar verständlicherweise der gedruckte Text irgendwann schließt, nie jedoch die gelähmten Pirouetten der ewigen Selbstbeschäftiger dahinter. Andererseits ist alles, was diese Verhungerten am Leben hält, ihre Sprache, also Tschechows Sprache, unnachahmlich. Und das macht eine Weiterführung wiederum zu einem mutigen Unterfangen.

Mikrowelle statt Samowar

Der in Polen wohlbekannte und preisgekrönte Autor Pawel Demirski lässt sein Stück inhaltlich dort anfangen, wo "Onkel Wanja" endet: Ein kläglicher Rest von fünf Personen existiert auf einem Landgut vor sich hin. Sonja, die Tochter des Gutsbesitzers, welcher sich inzwischen mit seiner neuen Frau in ein neues Leben aufgemacht hat; Astrow, der Arzt, dessen Ideale mit der harten Realität kollidieren; der verarmte Telegin und das ehemalige Kindermädchen Nianja; sowie natürlich Sonjas Onkel Wanja, dessen Schüsse man hallen hört. Es sind nicht mehr die Schüsse, mit denen Wanja damals seinen altklugen Schwager, den Gutsbesitzer Serebrjakow, erschießen wollte, als bekannt wurde, dass Serebrjakow das Gut, auf dem alle leben, aus Geldnöten verkaufen wolle. Damals verfehlte Wanja sein Ziel. Aber das nächste Mal, wenn der inzwischen wohlhabende Gutsbesitzer zurückkehrt, will Wanja ihn treffen, weshalb er nun vom Schießstand aus zu hören ist.

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Regisseur des Abends ist Wojtek Klemm, ebenfalls gebürtiger Pole. Bei ihm ist der Samowar eine Mikrowelle, in die die Teegläser gestellt werden. Bei einem Tee am Küchentisch beschließen die anderen dann auch, dass sie versuchen müssen, Wanja lieb zu gewinnen. Wanja sei schließlich der Protagonist. Aber eigentlich sind sie seiner übersatt geworden, seiner Wiederholungstat-Gelüste, seines irrationalen Willens, das Gut nicht zu verkaufen, was finanziell viel logischer und lohnender gewesen wäre.

Wanja als Opfer des deregulierten Marktes

Es findet eine gemächliche Ebenen-Tauchfahrt statt, durch schwebende Kommentare zum Tschechow-Drama, über Figuren-Selbstreflexion hin zur Beschreibung von Onkel Wanja als Opfer des deregulierten Marktes. Sätze werden nicht psychologisch vorbereitet, sondern mit bestimmten Haltungen aus dem Körper herausgeschleudert, woraus sich neue Beziehungen und Bedeutungen ergeben. An der Sprache wird sich gesteigert, aus Satzteilen Motivationen gebaut: "Diese Zitrone hat noch viel Saft", ruft Tobias Lehmann als primitiver Wanja mit Silberkettchen und Koteletten, und sieht sich als einzig verbliebene hoffnungsvolle Männerfigur. "Diese Zitrone hat noch viel Saft", schlägt sich Martin Butzke als Astrow auf die Brust, ein Jüngling im gelben Polohemd. So rennen sie gegen einander an und verausgaben sich um die Wette, zusätzlich aufgepeitscht von den Bühnenmusikern Jacob Thein und Micha Kaplan, meist an Schlagzeug und Bass.

Doch verglichen mit Anne Ratte-Polles fulminanten Auftritten in der Rolle der Sonja ist es Geraufe. Schonungslos wringt Ratte-Polle die Energie aus ihrem Körper, der in High Heels und rosa Feenrock steckt, erzeugt sie ihre Wut, Liebe und Angst aus jedem Muskel ihres Körpers. Aus dieser Hingabe entsteht ein dichtes, schweißdurchtränktes, erdiges Fundament, aus dem dann kleine Inseln der Ruhe auftauchen können, in denen die große unausgesprochene Tragik der Tschechow-Figuren dann doch ganz klein in Worte gegossen wird: Das Schlimmste ist, sagt Wanja am Schluss, das Schlimmste ist, dass ich verloren habe.

Keine Erlösung beim Psychiater

Sonst aber wird dem körperlichen Umgang entsprechend auch sprachlich gern ein "Halt die Fresse" ausgekostet. Axel Werner als kaputter knurrig-knorriger Telegin antwortet Wanja des Öfteren zu flachs – und hat prompt dessen Pistole unter der Nase. Aber der schießt ja im Zweifelsfall sowieso wieder vorbei. Und natürlich geht auch hier wieder nichts weiter für Wanja, weder beim Bewerbungsgespräch, noch beim Psychiater. Wenn er nur endlich seine lang ersehnten Schüsse abgeben könnte.

Nun, der Gutsbesitzer Serebrjakow, auf den sie alle warten, wird sowieso nicht ankommen. Er sei längst tot, verrät Sonja auf einmal, und das Gut hätte er schon Jahre vor seinem Tod verkauft, verrät Telegin auf einmal, allerdings mit der Auflage, dass alle dort wohnen bleiben dürfen. Ob das alles stimmt, oder ob sie es Wanja einfach nur antun wollen? Egal. So und so können sie auch weiterhin hier an ihrem Tisch sitzen bleiben.


Diamanten sind Kohle auf Arbeit
von Pawel Demirski nach Anton Tschechows "Onkel Wanja"
Regie: Wojtek Klemm, Bühne: Mascha Mazur, Kostüme: Katharina Jockwer, Musik: Micha Kaplan.
Mit: Martin Butzke, Tobias J. Lehmann, Anne Ratte-Polle, Gabriele Völsch, Axel Werner. Musiker: Micha Kaplan, Jacob Thein.

www.volksbuehne-berlin.de



Kommentare  
Diamanten sind Kohle auf Arbeit, Berlin: ein Kulturschock
Leider konnte ich dieser Aufführung nichts abgewinnwn - im Gegenteil, es war ein Kultuschock - mit hässlichen und ekelerregenden Grimassen, mit hysterischem und exaltiertem Geschrei, mit nicht nur uneleganten sondern regelrecht scheußlichen und geschmacklosen Verrenkungen und "Tänzen" - einfach abscheulich - untermalt von teilweise viel zu laut dröhnenden Bässen. Nur gut, dass Tschechow davon nichts erfährt! Fraglich bleibt, für wen diese Art "Kultur" sein soll. Oder geht es nur noch um Extreme? Wenn schon nicht extrem ansprechend, dann wenigstens extrem abscheulich! Warum müssen Schauspieler heute zu schweßtriefenden, wutschäumenden und spuckenden Monstern mutieren -gefallen sie sich denn selbst dabei oder muss man sich gegenseitig an Hässlichkeit übertreffen? Auch das gesprochene (oder tierisch gebrüllte) Wort war kein Genuss - am häufigsten kam das Wort "pinkeln" vor - gefehlt hatte eigentlich nur noch, das man "es" gemeinsam in Szene gesetzt hätte - vielleicht beim nächsten Mal!
Äshetik der Worte, Bewegungen und der Sprache scheint aus der Mode gekommen zu sein. Ich empfinde derartige "Kultur" als kulturlose Zumutung, für die jeder Cent Steuergeld zu schade ist.
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