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Die Gier nach Öil

von Ralph Gambihler

Leipzig, 20. Mai 2011. Kennt man noch die großen Melodramen von Douglas Sirk? "Summer Storm", "There's Always Tomorrow", "Written on the Wind", "Imitation of Life"? Ein Stück US-amerikanische Filmgeschichte der Nachkriegsjahrzehnte klingt in diesen und anderen Titeln an, und wenn sie heute dem Publikum auch nicht mehr geläufig sein mögen und der Name Sirk ein Fall für Filmkenner geworden ist, haben sie und ihr Schöpfer doch deutliche Spuren hinterlassen. Darin wandelten im Frankreich der 1960er Jahre die jungen Filmemacher der Nouvelle Vague, die Sirk für sich wiederentdeckten, und nicht viel später war es Rainer Werner Fassbinder, der den aus Nazideutschland geflohenen Deutsch-Amerikaner mit der steilen Hollywood-Karriere zu seinen Vorbildern zählte.

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"Sirk the East". © Rolf Arnold/Centraltheater

Am Centraltheater Leipzig zieht man nun eine künstlerische Linie von Sirk über Fassbinder zu Clemens Meyer. "Sirk hat gesagt, Film, das ist Blut, das sind Tränen, Gewalt, Hass, der Tod und die Liebe." So steht es im Programmflyer. Der Satz ist von Fassbinder, passt aber genauso gut auf Meyers großes Melodramen- und Tragödien-Mosaik "Sirk the East – Der Traum von Hollywood".  Dass es außerdem einen biographischen Bezug zu Leipzig gibt, macht sich auch auf der Handlungsebene bemerkbar. Douglas Sirk, der in den 1930ern Zarah Leander und in den 1950ern Rock Hudson zum Star machte, war von 1929 bis 1935 Intendant am Alten Theater Leipzig, damals noch als Hans Detlef Sierck.

Willkommen heeme!

Die Dinge fließen irgendwie ineinander in diesem sprachlich dampfenden Reißer über Verlorene. Dabei hat man zunächst einmal zwei Welten vor sich, die kaum verschiedener sein könnten. Die eine liegt im Leipziger Osten, da also, wo Meyers veristischer Debütroman "Als wir träumten" spielt und wo der Autor auch selber wohnt. Sie zeigt die vierköpfige Kneipierfamilie von Elvisthilo (Martin Brauer; der Name ist ein Kompositum aus Elvis und Thilo) zwischen Tresen, Klo und Schlafzimmer. Die Familie gehört zu den Wendeverlierern, sie ist sich selbst ihr bester Gast und wartet anfangs in gereizter Anspannung darauf, dass der eine von zwei Söhnen, Oleg (Edgar Eckert), heimkehrt. Von Beruf Soldat, ist Oleg nach einem Afghanistan-Einsatz auf dem Weg nach Leipzig Ost: "Willkommen heeme!"

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Die andere Welt wirkt daneben irreal und überzeichnet die Hollywood-Dramen von Douglas Sirk. Wir sehen die Sippe des Ölmilliardärs Jasper Hadley (Andreas Keller), wie sie in ihrer glitzernden Parallelwelt verzweifelt dem Glück nachjagt, dem Amüsement, dem Kick, der Liebe, und wie sie vor allem eins ist: kreuzunglücklich. Sohn Kyle (Christian Kuchenbuch) ist ein großer Playboy, fühlt sich aber als Versager, säuft, flieht ins Vollgasleben und kommt nicht damit klar, dass ihm mit Kathrine (Janine Kreß) das perfekte Eheglück in den Armen liegt. Tochter Marylee (Katharina Knap) ist die reine Verzweiflung, weil Kyles alter Busenfreund Mitch (Ingolf Müller-Beck) sie nicht will. Die Mutter starb zu früh, worüber der steinreiche Aufsteiger-Haudegen von Vater verbitterte.

Fluchtpunkt: Träume

"Sirk the East - der Traum von Hollywood" ist Meyers erster Bühnentext. Für die Uraufführung nachbearbeitet von Sascha Hawemann (Co-Autor und Regisseur), geht es darin in der Tat um viel Blut, Tränen, Gewalt, Hass, Tod und Liebe. Die dialogischen Szenen und epischen Monologe, in denen die Figuren reihum ihre verkorksten bis schrecklichen Geschichten enthüllen, sind dramatisch ohne Ende, changieren dabei aber stets raffiniert zwischen Wirklichkeit und ihrer filmischen Adaption nach Art der Traumfabrik.

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"Sirk the East". © Rolf Arnold/Centraltheater

Die Welt, das wird zwischen den Szenen stets mitreflektiert, ist nicht zu denken ohne ihren tanzenden und züngelnden Widerschein in der Fiktion. Im Grunde ist das kalter Kaffee, um so erstaunlicher,  wie frisch und neu der Abend wirkt. Es macht den Eindruck, als erzähle Meyer noch einmal Sirk-Figuren mit ihren uramerikanischen Dramen und Sirk erzähle auf einmal Meyer-Figuren mit ihren ostdeutschen Dramen. Und überall: die Träume – das ist der Fluchtpunkt.  Dieses Spiel gipfelt schließlich in einer Szene, in der Hindukusch-Heimkehrer Oleg seine Kriegserlebnisse emphatisch als schaurigen, blutigen XXL-Thriller imaginiert.

Die Drehbühne von Wolf Gutjahr kontrastiert die Welten. Sie zeigt neben einer kleinen, schäbigen Kneipenwelt mit Wohnklo die Riesenbuchstaben einer Leuchtreklame, die auch auf Wim Wenders "Million Dollar Hotel" stehen könnte, allerdings auf der Vorderseite gülden ist und im Wort "Öil" Kontexte und Kulturen verdichtet.

Kurz und gut: Man muss jetzt nach Leipzig fahren und dieses Stück anschauen! Es ist ein überraschender, eigenwillig drängender und welthaltiger Text, den Meyer vorstellt. Sascha Hawemann, der dem warmen Schlussapplaus am Premierenabend verlegen entfloh, hat dazu packende Bilder und punktgenau gearbeitete Szenen gefunden, nicht ohne sardonische Ironie und nicht ohne ein bemerkenswert aufspielendes Ensemble.


Sirk the East – Der Traum von Hollywood (UA)
von Clemens Meyer und Sascha Hawemann
Regie: Sascha Hawemann, Bühne: Wolf Gutjahr, Kostüme: Hildegard Altmeyer, Dramaturgie: Johannes Kirsten.
Mit: Manolo Bertling, Martin Brauer, Edgar Eckert, Sarah Franke, Andreas Keller, Katharina Knap, Janine Kreß, Christian Kuchenbuch, Ingolf Müller-Beck, Emma Rönnebeck.

www.centraltheater-leipzig.de


Zuletzt arbeiteten Clemens Meyer und Sascha Hawemann zusammen bei der Bühnenumsetzung des Buchs Die Nacht, die Lichter von Clemens Meyer ebenfalls in Leipzig. Meyers Romandebüt Als wir träumten kam noch unter Intendant Wolfgang Engel in der Regie von Armin Petras zur Leipziger Uraufführung.


Kritikenrundschau

Aufgewühlt hat eigenem Bekunden zufolge die Kritikerin für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Linda Heinrichkeit (22.5.2011), das Theater verlassen. Denn Sascha Hawemanns Inszenierung von Clemens Meyers Debütstück hat sie "in seinen besonderen Momenten" als stimmige Übersetzung der Melodramatik Douglas Sirks ins Leipziger Heute berührt. Zwar erfährt man aus der Kritik nicht wirklich Genaues über die Aufwühlungsgründe. Nur, dass Heinrichkeit im Verlauf des Abends das Amüsement sich ins Abgründige, Glamour in Trostlosigkeit sich wandeln, Seelen zerfallen oder an den Umständen zerbrechen sieht. Im Ton der Kritikerin klingt aber eine ziemliche Grundergriffenheit an, zu der womöglich auch der ein oder andere "wunderbar melancholische" Song im Soundtrack des Abends beigetragen hat.

Hawemanns Uraufführung lasse die "Fassade des Glamours" der alten Hollywood-Filme "aufs vortrefflichste bröckeln", schreibt Nina May in der Leipziger Volkszeitung (23.5.2011). In den Szenen aus dem Leipziger Osten wie im Hollywood-Strang werde mit Klischees gespielt, wobei Meyer sie "mit Sprachwitz und ironischer Übertreibung“ aufbreche und Hawemann "eindrücklich" zeige, "dass all diese Posen oberflächlich sind, dass Menschen die gleichen Sehnsüchte teilen, ob sie nun Champagner oder Reudnitzer trinken." Von der "Unzuverlässigkeit des Geschehens" künde die Inszenierung; atmosphärisch sei es "ein sehr reicher Abend, auch durch die bemerkenswerten Lichtfahrten (Carsten Rüger)." Der Kontext des Melodramen-Filmers Douglas Sirk diene für Anspielungen, typische Slapstick-Einlagen und "in jedem Moment passende Musik": "Wie ein abwesender Vater beeinflusst Sirk den Plot (eine Frau zwischen zwei Männern), die Atmosphäre (lakonisch wie schon in Hawemanns Meyer-Inszenierung "Die Nacht, die Lichter") und die Ästhetik." So ähnele dieser Abend "einem Episodenfilm mit harten Brüchen, die Drehbühne verleiht der Inszenierung Dynamik und wechselt binnen Sekunden zwischen den beiden Welten, die jedoch zusehens ineinander überblenden."

Johanna Lemke äußert in der Sächsischen Zeitung (24.5.2011) ein gewisses Überfüttertsein und ein Ungenügen an Clemens Meyers Schilderungen der Leipziger "Gosse". Im "Sirk" nun persifliere Meyer und mit ihm Regisseur Hawemann den amerikanischen Traum. "Die Klischeebilder werden gebrochen und mit dumpfem Klamauk auf den Kopf gestellt." Das sei lustig anzusehen, erzähle aber "nichts und wieder nichts", außer das alles so ironisch gemeint sei. Als einzige Schauspielerin vermöge Sarah Franke gegen die "düdelnde Hintergrundmusik anzusprechen". Auf der anderen Seite der Bühne gebe es die "volle Packung Unterschicht", effektvolle Dialoge und Meyers Beobachtungsgabe sei "bemerkenswert", seine Sprache in "all ihrer Gewalt voll Schwere und Zärtlichkeit". Doch es bedürfte der leisen Töne, die aber gäbe es nicht, die Schauspieler walzten die Szenen mit "Prekariats-Gesten und Gebrüll" platt. Wenn sich die Ebenen vermischten, zerfranse der Abend total. Wenige berührende Momente und auch der schöne Soundtrack gäben keine Struktur.

Till Briegleb registrierte große Lücken im Zuschauerraum des Centraltheaters bei der Premiere von "Sirk the East - Der Traum von Hollywood", trotz Detlef Sierck dem Leipziger und Clemens Meyer der "kleinen Leipziger Neuberühmtheit im Literaturmarkt". In der Süddeutschen Zeitung (25.5.2011) schreibt er, Sirks Rührstück erhalte vom Bühnenbildner Wolf Gutjahr "eine Art realitätstaugliches Hinterzimmer". Verlierer von Wende, Einwanderung und Bundeswehr erinnerten sich an ihre Träume von Erfolg und Reichtum, die "vorne im Glamourland knallhart diskreditiert wurden". Meyer zeichne seine Tragödien "mal lyrisch, mal grotesk oder einfach bitter ohne Lakonie". Dass im Gegenschnitt dazu in "Sirks großer Schmonzette" die Reichen "sich als Versager fühlen und schließlich untergehen" sei zwar "ein wenig plump". Aber Hawemann gelinge es, das Spiel "elegant genug zu variieren", dass der Abend "nur selten langweilig" werde. Er schwelge "kompromisslos im Melodram", wie er "den Totalfrust der 'Unterschicht' als Parodie" beherrsche und gebe den "albtraumhaften Erinnerungen von Meyers Figuren" kraftvolle Auftritte.

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