alt

Einsam auf dem Teppichquadrat

von Nikolaus Merck

Dresden, 27. Mai 2011. Milder Abend am Elbufer. Frauenkirche, Schlosskirche, Semperoper, alles am Platz, Lachen vom Wasser her unterm letzten wolkengestreiften Abendrot. Ein Posaunentrio in der gepflasterten Gasse gibt das Air von Bach – "das Leben ist doch auch SCHÖN!", pflegte der Großsarkast Wolfgang Neuss in diesen Momenten auszurufen.

Sollten wir aber anstatt gemütsgepinselt nicht vielmehr seelenerschüttert sein? Immerhin war Johannes Vockerat eben ins Wasser gegangen.

Warum ist uns der Wassertod so wurscht?

Philosophie macht unglücklich

Vielleicht weil er gar nicht richtig stattfand? Weil am Ende die Vockerat-Familie in Stuhl und Glied aufgereiht sitzt, Johannes, die abgesoffene Leich', miesepetrig in ihrer Mitten. Und hinten dräut zeichenschwer der Eiserne Vorhang, als Müggelsee sozusagen, auf den Johannes hinausgerudert war, um niemals, niemals wiederzukehren.

Vielleicht weil wir mehr Glut erwartet hatten von der Leidenschaft, die ins Freie drängt, die intellektuelles Begehren will und sexuelles, die eine Geliebte will, eine Gefährtin, die Ehefrau und die Mutter, die Familie und die Ekstase, und wenn eine Frau dafür nicht ausreicht, dann eben zwei Frauen will (oder drei oder vierzehn)?

Vielleicht weil wir erwartet hatten, dass sich diese Leidenschaft anders ausdrückt als bloß darin, dass Johannes und seine Geliebte Anna gemeinsam im Manuskript von "Die Philosophie macht unglücklich" blättern und der Mann, als Gipfelpunkt, die Blätter dieses Machwerks auf dem Körper der Frau ausbreitet?

Vielleicht weil uns die Dramatik der Situation: Mann betrügt (und sei es nur im Geiste) vor aller Augen die Mutter seines Kindes mit einer anderen, unangemessen klein widergespiegelt erscheint, wenn die Mutter des Mannes ihre Ohnmacht vor den Sperenzchen des Sohnes dadurch demonstriert, dass sie, die Nichtraucherin, sich ungelenk eine Zigarette anzündet?

Verrückt vor Scham und Pein

Oder andersherum: Ist das vielleicht alles so ganz richtig? Vielleicht können eine 32jährige Regisseurin und ihre Hauptdarsteller, keiner älter als 40, eine solche Geschichte gar nicht anders als jenseits aller brodelnden Leidenschaften erzählen?

Zwar hatte Gerhart Hauptmann vor 120 Jahren recht, wenn er behauptete, jeder kenne die Geschichte von "Einsame Menschen", die Geschichte des verheirateten Mannes mit Kind, der sich unverstanden fühlt und gar nicht als Familienvater tauglich, der eine andere trifft und glaubt, diese nun diese endlich verstünde ihn und sein philosophisches Welterklärungsbuch, das nicht fertig wird und das auch niemanden interessiert, der "endlich einmal an sich selbst denken" und mit zwei Frauen leben will und glaubt, alle anderen müssten das doch goldrichtig und großartig finden und der gar nicht verstehen kann, dass die zur Nebenfrau degradierte Gattin Höllenqualen leidet und Familie und Freunde schier verrückt werden vor Scham und Pein.

Doch selbst wenn ein jeder diese Geschichte aus der eigenen Erfahrung kennt, hat sie doch heutzutage, im Vergleich mit den engen frauenfeindlichen Verhältnissen des Wilhelminismus, ihre Dramatik verloren. Und diesen Verlust zeigen Julia Hölscher und ihr Ensemble, wenn sie die betrogene Käthe Vockerath (Ines Marie Westernströer) nicht als das bei Hauptmann apostrophierte Hühnchen vorführen, sondern als patente junge Mutter, die sich um Kind und Finanzen kümmert. Mitleidig streicht sie ihrem Johannes übers schüttere Haupthaar, wenn der noch immer glaubt, die Zinsen des Vermögens reichten hin für seinen verschwenderischen Lebenswandel.

Allenfalls auf Küchentemperatur

Weil die Männer heute ihre gesellschaftliche Vorrangstellung, wenigstens in der herrschenden Ideologie, verloren haben, erscheint es eben als private Marotte, wenn Johannes Vockerath seine Ehefrau als intellektuell minderbemittelt und desinteressiert abkanzelt. Der Mann und sein Denken sind weniger gesellschaftliches Phänomen als ein Betriebsunfall. Und als Betriebsunfall spielt Fabian Gerhardt den "Struzel" Johannes Vockerath. Schlecht gelaunt, verdruckst und allenfalls zum Streit in Küchentemperatur aufgelegt, gewiss jedoch nicht als einen, der glaubt, er kämpfe, wenn er um die Liebe zu Anna kämpft um seine Zukunft, um sein Leben.

Und weil die Dresdner die Männerfantasie nicht ernst nehmen wollen, die davon handelt, dass einer, der Vater wird, glaubt, sein Leben, seine Freiheit seien vorbei, verkleinern sie den bei Hauptmann angelegten Plot. Da erscheint es schon als cool, wenn die Studentin Anna Mahr (Ina Piontek) Lederjacke trägt unter all den Wollhausjacken der Vockerath-Familie und der Gipfel der Coolness wird erreicht, wenn das Fräulen Anna ihre affengeilen hochhackigen Steifel auszieht und barfuß durchs Wohnzimmer hüpft und Blumen verstreut. Weil heutzutage Studentin in Zürich zu sein nicht mehr als abendfüllend durchgeht, bleibt von dem bedrohlich emanzipierten Fräulein Anna heute wenig mehr als die Radikalindividualistin, die sich, weil ohne Kind und Familie, eben nur deshalb als Projektionsfläche für ein "freies" Leben eignet.

... wo das eigentliche Leben zu finden wäre

Verkleinern die Geschichte zusätzlich, indem sie sie als Versuchsanordnung auf einem Teppichquadrat vor dem geschlossenen wasserblauen Vorhang, hinter dem vielleicht das eigentliche Leben zu finden wäre, spielen, mit Treppe hinten und Zuschauersitzen auf vier Seiten. Von wo alle Vockerats und der Vockeratfreund (Philipp Lux) den Geschehnissen zusehen. Oder die Teppiche ordnen oder sich darin einrollen oder als wandelnde Teppichgespenster darunter verschwinden oder einfach platt auf der Erde oder den Stühlen liegen, niedergedrückt von Verhältnissen, deren Schwere allenfalls angedeutet und deshalb bis zuletzt auch nicht anschaulich geworden sind.

 

Einsame Menschen
von Gerhart Hauptmann
Regie: Julia Hölscher, Bühne: Esther Bialas, Kostüme: Ulli Smid, Musik: Tobias Vethake, Licht: Andreas Barkleit, Dramaturgie: Jens Groß.
Mit: Lars Jung, Hannelore Koch, Fabian Gerhardt, Ines Marie Westernströer, Philipp Lux, Ina Piontek.

http://www.staatsschauspiel-dresden.de/home


Eine andere junge Regisseurin, Hannah Rudolph nämlich, inszenierte im Februar 2010 Hauptmanns Einsame Menschen in Frankfurt am Main.

 

Kritikenrundschau

Hölscher habe das Drama weitgehend vom naturalistischen Determinismus befreit, schreibt Tomas Petzold in den Dresdner Neuesten Nachrichten (30.5.2011). "Sie konzentriert sich ganz auf die Figuren, lässt sie einen ungeahnten Reichtum an Gefühlen zeigen, was statt der Grenzen die Möglichkeiten, statt der äußeren die inneren Gegebenheiten in den Blickpunkt rückt." Für die "tragisch und wider jede Vernunft zugespitzte Situation" finde Hölscher immer neue Lösungen, die überzeugten. Am Ende bleibe offen, welche Grenze Johannes überschreiten werde – eine "tatsächlich fast hautnah anrührende Aufführung".

Hölscher inszeniere das Drama als tiefenpsychologisches Kammerspiel, meint Johanna Lemke in der Sächsischen Zeitung (30.5.2011). "So einfach kann Theater sein. Es wird viele Momente an diesem Abend geben, an denen man das denkt." Die Szene, in der die verängstigte Hausfrau den Eindringling Anna tröstet, sei "der aufrichtigste Moment der Inszenierung, weil er statt von Schwarz und Weiß von tausenden Grautönen erzählt." So erwachse der Abend in seiner Bescheidenheit zu einem großen Theatererlebnis.

mehr nachtkritiken