An der Trinkhalle

von Dorothea Marcus 

Bochum, 20. Oktober 2007. In der Schweiz gibt es keine Trinkhallen. Die wurden im Ruhrgebiet für Zechenarbeiter errichtet, als das Leitungswasser Mitte des 19. Jahrhunderts dort noch nicht genießbar war. Als die Schweizer Autorin Sabine Harbeke nach Bochum kam, um für ihr Theater-Auftragswerk zu recherchieren, muss sie von der Institution der Trinkhalle tief beeindruckt gewesen sein. Denn die meisten der lose geknüpften Szenen ihres neuen Stücks "trotzdem" spielen hier, an grauen Wintertagen in einer Stadt wie Bochum. 

Da ist die spröde Vera Grodzki, die keinen Mann, aber ein Kind und einen sterbenden Vater hat und die eine Trinkhalle betreibt, in der sich die Menschen dieses Stücks immer wieder begegnen. Oder der Autohändler Herr Thiese, der Vera ab und zu ein Kompliment macht und für den Trinkhallen nichts mehr sind, nachdem er sechs Millionen gewonnen hat. Und Rose und David, die immer noch zusammen sind, obwohl David Rose einmal ins Gesicht geschossen hat und dafür drei Jahre bekam.

Realitätsverweigernde Dampfplauderin 

Rose ist am Schauspielhaus Bochum, wo Sabine Harbeke ihr eigenes Stück jetzt uraufgeführt hat, eine mit falschen Goldketten behängte, ostcharmante Sozialhilfe-Empfängerin und penetrante Lippenstiftverkäuferin (Katja Uffelmann). Ihr Freund David (Cornelius Schwalm), den sie immer so gerne "mein Mann" nennt, trägt coole Anzüge, neu erworbene Brieftauben im Käfig und seinen cholerischen Zorn mit sich herum. Von Trinkhallenbesitzerin Vera wird Rose eigentlich nur schlecht behandelt, aber wohl auch deshalb, weil sie als überoptimistische, realitätsverweigernde Dampfplauderin nervt. Ihr arbeitsloser Freund steigt hemmungslos Traute Held (Christine Schönfeld) nach, der eindrücklichsten Figur in Harbekes Stück.

Traute Held hat Krebs, täglich muss sie zur Bestrahlung. Und obwohl sie eine taffe Frau ist, einen Liebhaber sowie einen ergebenen Ehemann hat und einen Telefonsexdienst unterhält, gerät sie jedesmal in schiere Verzweiflung, wenn sie jemand an ihre Krankheit erinnert. In Bochum wechselt Christine Schönfeld in jeder Szene die Perücke, und als ihr Mann einmal romantisch mit ihr baden will und dabei aus Versehen ihre Glatze zu sehen ist, verliert sie verzweifelt ihre Haltung und jedes romantische Gefühl. Schließlich verlässt sie ihre Familie, um ins Hotel zu ziehen. Denn die Zeit, die ihr noch bleibt, ist zu knapp, um weiter in den alten Bahnen zu trotten. 

Brutale Ehrlichkeit 

Die sechs Figuren in Harbekes Stück sind durchaus schlüssig gezeichnet und werden von einer brutalen Ehrlichkeit und den Schicksalsschlägen des Lebens vereint: der eine steigt der Frau seines Freundes hinterher, die ihm 5.000 Euro verspricht, wenn er seine frisch erworbene Brieftaube mit bloßen Händen zerquetscht. Der andere liebt seine krebskranke Frau zu sehr, die ihn aber nicht mehr erträgt. Im Stil von "Short Cuts" sind die Szenen lose zusammengefügt, werden zusammengehalten durch lockere Bekanntschaften und Zufallstreffen. 

In Bochum wird auf Europaletten gespielt, die zu einem Dielenboden gefügt sind (Bühne: Julia Scholz). Darüber hängt ein riesiger Rahmen mit einem tiefblauweißen Wolkengewölbe, das langsam giftgrün wird. Wenn Vera und Rose sich in der Trinkhalle treffen, keifen sie sich an, versuchen, sich gegenseitig mit ihren trostlosen Lebensentwürfen zu übertrumpfen und beschmieren sich dabei bösartig mit Lippenstift.

Scheinschwangerer Hund 

Die eine hat immerhin einen Mann, auch wenn er latent gewalttätig und arbeitslos ist, die andere immerhin einen Job mit Dach über dem Kopf. Die elementarsten Höflichkeitsfloskeln werden hier ignoriert, man verrät und beleidigt sich. Die zweifache Mutter Rose erwartet ihr erstes Wunschkind, doch dem Mann fällt nichts weiter als sein scheinschwangerer Hund dazu ein. "Für eine Krebskranke sehen Sie gut aus", muss Traute sich anhören. Egomanisch drängen die Figuren einander jeweils ihre Geschichten auf, hören den anderen aber nie wirklich zu. Nur, als Herr Thierse sechs Millionen Euro gewonnen hat. Doch damit provoziert er David schließlich so sehr, dass der eine Flasche auf seinem Kopf zerschlägt.

Eine kosmopolitische Autorin 

Sabine Harbeke ist Jahrgang 1965, hat lange in New York gelebt und erfolgreich schon am Neumarkttheater Zürich, am Thalia Theater und am Theater Kiel gearbeitet. Ihr neuestes Stück wirkt streckenweise leicht bemüht mit Tendenz zum Sozialkitsch: Wie sich eine kosmopolitische Autorin das pralle Leben im Ruhrgebiet so vorstellen mag. Letztlich ist es dann aber das "trotzdem", dem das Stück doch so etwas wie Prägnanz verdankt: Denn so schlecht es Harbekes Figuren auch immer gehen mag, bestechen sie doch durch einen unbedingten, zähen und optimistischen Lebenswillen. So verlässt man die Kammerspiele merkwürdig getröstet. Das ist doch auch etwas.

 

trotzdem
von Sabine Harbeke (UA)
Regie: Sabine Harbeke, Bühne: Julia Scholz, Kostüme: Julia Scholz, Sabine Harbeke, Musik: Mario Marchisella.
Mit: Christine Schönfeld, Martin Rentzsch, Cornelius Schwalm, Hanna Scheibe, Manfred Böll und Katja Uffelmann

www.schauspielhausbochum.de

 

Kritikenrundschau 

Während Werner Streletz (Westdeutsche Allgemeine, 22.10.2007) die Premiere von Elmar Goerdens Inszenierung "Wie es euch gefällt" "süffig gelabt" verließ (siehe hier), musste er tags darauf "ganz stark sein: Die Uraufführung von Sabine Harbekes Alltagsgeschichten 'trotzdem' durch die Autorin selbst, erwies sich als bemühter Versuch, mit sprachlich unzulänglichen Mitteln, Personen am Scheideweg psychologische Tiefe zu geben." Die Darsteller hätten sich lediglich als "gegenseitige Stichwortgeber" erwiesen. Dennoch sei es ihnen gelungen, "den Kopfgeburten charakterliche Fragmente zu implantieren". Zum Glück. Denn Harbekes Text sei ein "mageres Melodrama", dem es an "wirklicher Notwendigkeit" mangele.

Martina Schürmann (Neue Ruhr Zeitung , 23.10.2007) kann in Sabine Harbekes Stück anfangs zwar noch ein "originelles Personal" erkennen. Aber diese "munteren Verlierer-Typen erstarren zur Mannschaft der Holzschnitzfiguren". Harbeke stelle Verletzungen aus, "mit denen sie sich aber nicht weiter beschäftigen will". All die "kleinen, wie hingetuschten Menschheits-Katastrophen sind von einer Durchlässigkeit gezeichnet, die man auch Flüchtigkeit nennen könnte". Der Autorin gehe es "weniger ums psychologische Ergründen. Sie erkundet die Wirkung von Sprache mit all ihren Möglichkeiten der Täuschung, Verletzung und des Selbstbetrugs". Dieser "theatralische Minimalismus" bleibe jedoch dramatisch "dünn".

Kurz, aber auch nicht wohlgesonnen schreibt Stefan Keim (Frankfurter Rundschau, 24.10.2007) in der Doppelrezension mit Philipp Löhles "Genannt Gospodin" über den Harbeke-Abend. "trotzdem" erzähle von Menschen in Umbruchsituationen. "Harbeke verwebt diese Geschichten locker, ohne die Szenen auf Höhepunkte zu treiben." Der Text wirke jedoch "unentschieden", die Inszenierung ebenfalls. Sabine Harbeke suche nach Feinheiten und verliere manchmal das Ganze aus dem Auge. "Trotzdem sieht man 'trotzdem' gern, weil die Schauspieler (vor allem Hanna Scheibe und Cornelius Schwalm) präsente Charaktere schaffen."

 

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