Und träumen mit ihnen

von Kai Krösche

Wien, 1. Juni 2011. Dieses "Castle" ist kein gewöhnliches Schloss: Wenn sich auf der Bühne des brut Wien die Leinwand, die zugleich ein Vorhang ist, hebt, gibt sie den Blick frei auf eine – könnte man meinen – beliebige versiffte Bude im japanischen Tokio: Straßenlärm fegt durchs Theater, hupende Autos, ferne Sirenen. Durch eine Fensterfront hinter einem mit Abfallsäcken und Flip-Flops zugestellten Austritt blicken wir in das Innere dieser zugemüllten Wohnung: "Hello Kitty" hängt neben "Pokémon", japanische Popstars grinsen von Plakaten, Müllsäcke stapeln sich, links ein Fernseher, der die banalen Flimmerbilder japanischer Sender oder die ewiggleichen Animationen gestriger Konsolenspiele zeigt.

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Inmitten dieses bis zur naturalistischen Perfektion gestalteten Bildes: acht junge Menschen, fünf Männer, drei Frauen. Sie sprechen nicht miteinander (und selbst wenn, würden wir sie nicht hören). Sind sie nicht gerade in eine lethargische Starre verfallen, beschränkt sich ihre Kommunikation auf ungehemmten Sex und kurze Prügeleien. Nach einem "Black" dann fehlt die Fensterfront: Nun hören wir, was im Inneren vor sich geht. Und hören wieder nichts, denn die einzigen Stimmen, die in dem engen Apartment erklingen, sind jene bürgerlich-lächelnder Japaner aus dem Fernsehen. Die anderen schweigen. Stöhnen, sitzen, glotzen. Vielleicht träumen sie.

Überraschende Faszination

Es scheint zunächst wie eine Hardcore-Version der letztes Jahr zum Theatertreffen eingeladenen Theateradaption von Ettore Scolas Film Die Schmutzigen, die Häßlichen und die Gemeinen, was der japanische Regisseur Daisuke Miura in seiner bereits 2006 in Japan uraufgeführten und jetzt im Rahmen der Festwochen gezeigten Inszenierung "夢の城" ("Castle of Dreams") in eine guckkastenähnliche Bühne gebracht hat: Schonungslos und explizit ficken, prügeln und bedröhnen sich diese acht jungen Menschen in einem praktisch nicht mehr zu überbietenden Naturalismus (samt männlicher und weiblicher Ejakulationen) und erzeugen so binnen weniger Minuten ein desolates Bild menschlicher Abgründe voll Leere, Einsam- und Sinnlosigkeit.

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© Fotos Klaus Lefebvre

Anders als die Scola-Inszenierung von Karin Beier zieht Daisuke Miura diesen scheinbaren Naturalismus von Anfang bis Ende der Inszenierung allerdings konsequent durch, lediglich unterbrochen von musikuntermalten Blacks, die Zeitsprünge suggerieren. Dank dieser formalen Konsequenz entstehen so beim Betrachter überraschende Gefühle der Faszination; nicht jener allzu bürgerlich-distanzierten Faszination für das Ekelhafte und Widerwärtige, sondern der Faszination für ein ungeahntes utopisches Potential, das dem Treiben auf dieser Bühne innewohnt.

Utopie jenseits der Oberfläche

Das sich aller Relationen entziehende Große an diesem Abend ist der konsequente Verzicht auf jedwede Form eines moralisierenden Zeigefingers – egal in welche Richtung er auch zeigen möge. So – und nur so – findet die Inszenierung auf ganz wundersame Weise so etwas wie eine Schönheit im Häßlichen, eine Geborgenheit im Abstoßenden; indem aus all den präzise choreographierten kleinsten Gesten, den banalsten Geräuschen, dem alltäglichsten Licht – aber ebenso den Ausbrüchen, den plötzlichen Entladungen, dem Aufbegehren – eine Komposition entsteht, die gerade aufgrund ihrer (scheinbaren) Natürlichkeit durch den "unbeteiligten", voyeuristischen Theaterblick des Kunst-Rezipienten so überhöht, so künstlich wird, daß hier die Sicht auf ein Dahinter, ein Jenseits der geschlossenen, reproduzierenden Oberfläche frei wird. Dieses Dahinter sind nichts weniger als die bereits im Titel erwähnten Träume; nichts weniger als die Ahnung von einer anderen Möglichkeit des Daseins, vielleicht sogar von der Gesamtheit aller anderen Möglichkeiten und nicht zuletzt auch von der Gemeinsamkeit all dieser anderen Möglichkeiten: nämlich der Sehnsucht des Menschen und seinem Streben nach Sinn.

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So wird ein gemeinsames, von einer auf dem Keyboard geklimperten Billigversion von Pachelbels "Kanon in D" untermaltes Nudelschlürfen zu einem ganz kitschfreien Bild, das ein Gefühl von der Schönheit des Menschen mit all seinen Abgründen, Unzulänglichkeiten, aber ebenso seinen Leidenschaften vermittelt: Wie selten und wie ergreifend das ist.

Das Theater blickt zurück

Wenn dann am Ende wieder die Straßengeräusche erklingen, der Blick wieder von außen durch die Fensterfront auf die dunkle Wohnung fällt und auf die Silhouetten ihrer schlafenden Bewohner im bunten Licht einer Effekt-Nachtlampe, wenn dann plötzlich sanft hochgefahrenes Licht den Zuschauerraum erhellt und mit ihm die Spiegelung des Publikums im Glas der Fensterscheiben – dann plötzlich blickt die Bühne, das Theater buchstäblich zurück. Und mit ihm ein Gefühl des Ausgeschlossenseins. Das Gesicht des Gewöhnlichen. Die Gesichter des Alltags.

Selbst der Versuch eines Applauses verstummt bald im Angesicht dieser Spiegelung. Das Schloss der Träume hat seine Pforten geschlossen und wird sich heute nicht mehr öffnen. Und seine Insassen träumen weiter. Vielleicht aber ahnen wir jetzt, wovon. Und träumen mit ihnen.

 

Castle of Dreams
von Daisuke Miura und Potudo-ru
Text und Inszenierung: Daisuke Miura, stage manager: Akiyoshi Tsutsui, Licht: Takashi Ito, Beleuchtung: Shoko Mishima, Sound Design: Yoshihiro Nakamura, Bühne: Toshie Tanaka, Film: Norimichi Tomita, Requisiten: Michiyo Ohashi.
Mit: Ryotaro Yonemura, Yusuke Furusawa, Kotaro Inoue, Hideaki Washio, Kento Ogura, Runa Endo, Megumi Nitta, Yoshiko Miyajima.

www.festwochen.at
www.potudo-ru.com

 

Mehr über die diesjährigen Wiener Festwochen, Berichte über Simon Stephens "Wastwater", Christoph Marthalers "+-0. Ein subpolares Basislager" und Ivo van Hoves "Opening night" finden Sie hier.

 

Kritikenrundschau

Miuras szenischer Installation eigne "in ihrem Detailreichtum, in dem die weibliche Scham entblößt wird, Ejakulationen gelegentlich auch 'real' passieren, ein Moment verquerer Wahrhaftigkeit", meint Ronald Pohl im Standard (2.6.2011): "Man ertappt Menschen ohne Vergangenheit und Zukunft beim Überlebenstraining. Ihren Handreichungen eignet eine besinnungslose Würde, die gar nicht weit entfernt von jener Erhabenheit liegt, die im Flaggenbild der aufgehenden Sonne - zum Ende der Performance höhnisch zitiert - heraldisch zum Ausdruck kommt. Ein böser und zugleich zärtlicher, wiewohl pornografischer Theaterabend; nur nicht dazu geeignet, die Lieblingserbtante schick auszuführen."

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