Onkel Vanja - In Münster inszeniert Wolfgang Quetes seinen Tschechow texttreu
Hie Komödie, da Verzweiflung
von Kai Bremer
Münster, 1. Juni 2011. Sehen wir wirklich "Szenen aus dem Landleben", wie es der Untertitel von Anton Tschechows "Onkel Vanja" ankündigt? Als der helle, dünne Vorhang entlang der zwei vorderen Kanten der quadratischen, spitz ins Publikum ragenden Bühne zurückgezogen wird, zeigt sich eine karger, heller Raum mit hohen weißen Rückwänden. Sie geben ihrerseits den Blick durch die bis zum Boden reichenden Öffnungen auf einen dichten Wald frei. Die betonte Schlichtheit der Architektur erinnert eher an einen Bungalow mit hohen Wänden, denn an ein Landhaus. Lediglich ein paar Korbstühle und zwei Tische deuten an, dass hier auch gelebt wird und nicht nur architektonische Schönheit im Kontrast zur Natur Akzente setzt.
Doch reicht natürlich etwas Mobiliar nicht, um der Szene Stallgeruch zu verleihen. Für ihn ist zunächst die alte Marína (Penny Michel) mit ihrem blauen Kittel und den Gummistiefeln zuständig. Und sie liefert, wie das so ist, wenn kluge Landfrauen im Theater sprechen, auch die erste Pointe des Abends. Ganz in Erinnerungen schwelgend, überlegt sie, seit wann sie Vanja (Johann Schibli) kennt, dann fügt sie hinzu: "Damals warst du jung und hübsch." Das sitzt. Vanjas Schultern hängen, seine Krawatte, die nicht fällt, sondern einen hübschen Bogen über dem kräftigen Bauch schlägt, lässt ahnen, dass die Alte nicht ganz Unrecht hat.
Ekel Alfred am Esstisch
Anders als "Der Kirschgarten" und "Die Möwe" hat Tschechow "Onkel Vanja" im Untertitel nicht als Komödie bezeichnet. Dass aber auch dieses Stück komisches Potential hat, zeigt die Inszenierung von Intendant Wolfgang Quetes an den Städtischen Bühnen Münster von Beginn an. Und das hält sie bis kurz vor dem melancholischen Schluss auch durch. Als im dritten Akt der Emeritus Serebrjakov (Wolf-Dieter Kabler) zur Aussprache an den langen Esstisch bittet, kann Vanja seinen aufgestauten Frust nicht mehr kontrollieren und rotzt seinen ganzen Frust über den selbstverliebten Akademiker heraus. Das macht er mit der Emphase von Ekel Alfred, so dass es eine Wonne ist, ihm zuzuschauen.
nachtkritik.de hat alles zum Theater. Damit das so bleibt, spenden Sie hier!Doch stellt sich die Inszenierung eben mit solchen Szenen zugleich selbst ein Bein, denn Vanja ist keine Type, die immer nur das Haar in der Suppe sucht und sich darüber lauthals beschwert. Er ist ein Mensch, der zeitlebens gearbeitet und sich für andere aufgerieben hat. Sein Frust ist ganz und gar berechtigt. Quetes Inszenierung versucht auch das zu zeigen, nur gelingt es Schibli nicht, zwischen Ekel und Mitleid erweckendem Malocher mit Grips zu changieren. Seine Verzweiflung stellt er aus, indem er seine rechte Hand nervös zucken lässt oder seine Arme weit gestikulierend in den Raum wirft. So wird die Grundspannung, die Tschechows Titelfigur kennzeichnet, aufgerieben zwischen großer Geste und ein paar wohldosierten Pointen.
In traurigen Posen erstarrt
Ähnlich problematisch bleibt Serebrjakovs Tochter Sonja (Judith Patzelt). Mit ihrem durchtrainierten Oberkörper nimmt man ihr sofort ab, dass sie zeitlebens hart auf dem Gut gearbeitet hat – zumal in der Cargo-Hose, die sie in den ersten beiden Akten trägt und die ihre zupackende Art unterstreicht. Aber in den Momenten, da sie ihrer Liebe zum Arzt Astrov (Marek Sarnowski) bekennt und in denen sie sich der Aussichtslosigkeit ihrer Lage (schließlich ist ihr klar, wie wenig attraktiv sie ist) bewusst wird, wirft sie sich entweder in Marínas Schoß oder muss in traurigen Posen erstarren.
Diese nicht recht austarierte Grundspannung der Figuren fällt deswegen besonders auf, weil sie bei anderen gelingt. Bei Serebrjakov ist das noch verhältnismäßig leicht, weil er eh wenig zerrissen daherkommt. Kabler gibt ihn von Beginn an als ein hypochondrisches Familienoberhaupt, das derart egozentrisch ist, dass er kaum mehr zur Kenntnis nimmt, wie gut er es mit seiner eleganten wie attraktiven Gattin Elena (Julia Stefanie Möller) getroffen hat.
Vor allem aber Sarnowskis Astrov zeigt, dass es möglich ist, unterschiedliche Facetten einer Figur in Einklang zu bringen. Er kann ebenso für komische Momente sorgen wie Schiblis Vanja, etwa wenn sein Alkoholabusus ihn wie im Slapstick an einer Kommode entlang rutschen lässt. Andererseits aber führen seine engagiert vorgetragenen ökologischen Plädoyers immer wieder vor Augen, wie fatal sich die Naturzerstörungen auf die Gesellschaft auswirken werden. Dass diesem Kerl nichts anderes bleibt, als sich zu besaufen, muss man nicht gut heißen, aber man versteht es sofort. Beide, Kabler und Sarnowski, stützen Quetes texttreue und um Autorintention bemühte Inszenierung, weil bei ihnen die komischen Momente die abgrundtiefe Verzweiflung nicht an den Rand drängen. Doch können auch sie nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein gefälliger Bungalow kein Landhaus ist.
Onkel Vanja. Szenen aus dem Landleben
von Anton Tschechow
Regie: Wolfgang Quetes, Bühne: Manfred Kaderk, Kostüme: Anke Drewes, Dramaturgie: Wilfried Harlandt.
Mit: Regine Andratschke, Thomas Holznienkämper, Wolf-Dieter Kabler, Penny Michel, Julia Stefanie Möller, Judith Patzelt, Marek Sarnowski, Johann Schibli, Wendelin Starcke-Brauer.
www.stadttheater.muenster.de
Andere Onkel Wanja-Inszenierungen? Natürlich denkt man da an Jürgen Gosch 2008 am Deutschen Theater Berlin, natürlich auch an Andreas Kriegenburg wenig später am Thalia Theater Hamburg. Zuletzt hatte Wojtek Klemm an der Berliner Volksbühne versucht, in Diamanten sind Kohle auf Arbeit Tschechows Stück weiterzuerzählen.
Wolfgang Quetes inszeniere diesen Tschechow "konventionell, ohne Regie-Eskapaden, das Spiel ist aufgeräumt und sauber, fast ein wenig verklemmt", schreibt Sabine Müller in der Münsterschen Zeitung (3.6.2011). Es gebe zwar auch "boulevardeske Einlagen", das Hauptmotiv des Abends aber sei die Dehnung der Zeit, es gehe "darum, Langeweile zu zeigen, Routine, Alltag, das Nichts. Doch das mögliche elektrisierende Moment, das sich daraus ergeben kann, scheint zwischen den zahm gezeichneten Figuren verpufft zu sein." Einzelne Glanzlichter besitzt die Inszenierung in der Schilderung der Kritikerin gleichwohl, so etwa die Annäherung zwischen Julia Stefanie Möller als Elena und Marek Sarnowski als Arzt Astrov. "Wie die beiden um ihre zum Scheitern verurteilte Romanze scharwenzeln, gehört zu den stärksten schauspielerischen Momenten. Ihre Beinahe-Küsse sind so, wie diese ganze fast dreistündige Inszenierung sein sollte: herzergreifend und rührend."
Dass diese Inszenierung "sehr gemächlich daherkommt", notiert auch Harald Suerland für die Westfälischen Nachrichten (3.6.2011). "Nicht selten stehen Figuren scheinbar ratlos auf Manfred Kaderks rautenförmiger Bühne und schauen durch die rückwärtigen Fenster in den Wald, der irritierenderweise schon beim sommerlich-schwülen Beginn winterlich kahl aussieht." Quetes sei "kein Regisseur, der diesen Tschechow-Sound überhöht oder aufbricht, sondern einer, der ihn getreulich auf die Bühne bringt." Entsprechend hielten die Figurenporträts des Professors, Jelenas und Astrovs "keine Überraschungen" bereit; Johann Schibli gebe einen Vanja, "dem man die kurzzeitigen Zornesaufwallungen ebenso abnimmt wie die Ratlosigkeit angesichts verpasster Lebens-Chance".
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ganz herzlichen Dank für den Hinweis auf den Namensdreher am Anfang. Sie haben natürlich ganz recht, zu Beginn ist es Astrow, erst dann kommt Vanja dazu. Dieser Fehler muss mir beim Kürzen spät in der Nacht unterlaufen sein und er ärgert mich vermutlich viel mehr als Sie. Gleicheitig zeigt er aber auch, wie gut es ist, dass es Online-Journalismus gibt. Denn in den von Ihnen so geschätzten Zeitungen passieren solche Fehler auch (obwohl man dort viel mehr Zeit zum Schreiben hat), nur haben die Leser dort kaum die Möglichkeit, korrigierend einzugreifen. Mein Fehler ändert übrigens nichts daran, dass ich mit dem Abend insgesamt aus den genannten Gründen weniger anfangen konnte als Sie.
Ihr Kai Bremer
dass Sie schon während der Vorstellung müde waren ;-), denn für müde Geister waren die ganzen emotionalen Entladungen, dann doch wahrscheinlich zu viel. Da merkt man aber wieder einmal mehr, dass die vermeintliche Wissenschaft die darstellende Kunst kaputt zu machen vermag. Schade, sehr schade. Als Germanist sieht man gerne die Interpretation (ist es nur eine?....) und die Intention (ist diese auch nur die eine..?), die der Autor vielleicht (ich betone vielleicht) vorgelegt hat, aber die Akteure sehen mehr, sie sehen Spiegel, Hindernisse, Emotionen und sogar sich selber, wie es ja auch sein muss um die Gedanken auch senden zu können. Ich muss zugeben, dass ich immer ein Interpretationstölpel war und auch gerne bin und dass ich niemals dieses Stück um voraus gelesen habe. Gut so?! Ja! Aus schauspielerisch, fachlicher Sicht muss ich sagen, dass es eine grandiose Leistung und Umsetzung war. Aber Gott sei Dank sind die Geschmäcker, wie auch die Kritiken unterschiedlich.
Mit freundlichen Grüßen
Begeisterte Zuschauerin