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Verhaltene Party

von Thomas Askan Vierich

Wien, 7. Juni 2011. Dies ist die dritte Dramatisierung eines amerikanischen Prosaklassikers durch die prominente New Yorker Off-Broadway-Truppe Elevator Repair Service. 2006 inszenierte sie den Roman "The Great Gatsby" von F. Scott Fitzgerald und tourte damit erfolgreich durch Europa. 2008 folgte das preisgekrönte The Sound and the Fury nach William Faulkner. Dabei hielt sie sich jeweils streng an die Romanvorlagen und brachte die Texte (bei Faulkner war es das erste, strukturell besonders komplizierte erste Kapitel) Wort für Wort auf die Bühne. Mit "The Sun Also Rises", Hemingways Romandebüt von 1926, auch bekannt unter dem Titel "Fiesta", hat sie jetzt ihre "Amerikanische Trilogie" abgeschlossen.

Diesmal zeigt sie deutlich die Grenzen der Prosa-Dramatisierung auf. Obwohl sie sich bei "The Sun Also Rises" nicht buchstabengetreu an die Vorlage hält. "The Select" ist eine Romanadaption, erzählende Passagen wurden großteils gestrichen, man konzentriert sich auf die Dialoge. "Die Herausforderung bestand darin, ein Stück in Hemingways Roman zu finden und nicht die Gesamtheit des Buches einfach als Stück zu betrachten", erklärt Regisseur John Collins. Leider haben sie das Stück über weite Strecken nicht gefunden.

Alles so nette Leute

Hemingway erzählt mit großer Lakonie von der verlorenen Generation zwischen den Weltkriegen, von Verwundungen körperlicher und psychischer Natur, die die heimatlos Entwurzelten aus den USA und England im Paris der Zwischenkriegszeit durch heftiges Trinken und Feiern zu überspielen versuchen. Sie gehen dabei nicht immer nett miteinander um. Sie beschimpfen sich, betrügen sich, dann liegen sie sich wieder weinend in den Armen. Nüchtern sind sie selten, traurig fast immer. Vieles bleibt unausgesprochen – das war schon in der Romanvorlage so, und dafür ist Hemingway berühmt geworden.

Einmal drückt Jake (Mike Iveson), der Protagonist und Erzähler, die Befindlichkeiten dieser desillusionierten Menschen, die ihre Gefühle hinter aufgesetzter Fröhlichkeit oder apathischem Hinnehmen verstecken, in der Beschreibung eines Abendessens mit Freunden aus: "Es erinnerte mich an manche Abendessen während des Kriegs. Der Wein floss, da war eine unterdrückte Spannung und das Gefühl, dass etwas Unausweichliches geschehen würde. Unter dem Einfluss des Weins verlor ich mein Ekelgefühl und war glücklich. Sie schienen alle so nette Leute zu sein."

Motorengeräusche, Stierschnaufen, zersplitterndes Glas

Aber von dieser Spannung vermittelt sich nicht viel auf der Bühne der Halle G im Wiener Museumsquartier. Vor allem fehlt dem Stück Dynamik. Es wird hauptsächlich geredet und an Tischen herumgesessen. Die eingeflochtenen und zugegeben sehr bewegten Tanzszenen helfen auch nicht. Man versucht es immer wieder mit Tönen. Wenn sich jemand ein Glas Wein einschenkt, ertönt zum Beispiel ein lautes Gluckern. Jeder sieht: Die Flasche ist leer, das Glas bleibt es auch. Das hat etwas Komisches, mitunter surreal Verfremdendes.

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"The Select" in Wien. © Mark Barton

Die größte Herausforderung für Elevator Repair Service ist der ständige Wechsel des Handlungsortes, verschiedene Cafés in Paris, ein Hotel im spanischen Pamplona, ein Ausflug zum Fischen. Und schließlich das große Finale der Fiesta – inklusive Stierkampf. Man behilft sich mit Pantomime und Klängen. Das Bühnenbild bleibt die Szenerie des Pariser Café Select: Holzverschalte Wände, eine Batterie Flaschen, die Andeutung einer Theke, zwei große Tische, diverse Stühle. Aus dem Tisch wird später ein Stier, manchmal dienen die Tische auch als Bett oder die Stühle als Autositze. Dazu werden jeweils fast schon übertrieben naturalistische Klänge eingespielt: Motorengeräusche, Stierschnaufen, zersplitterndes Glas.

Momente des Absurden

Die wirklich tollen Sachen passieren fast unbemerkt: Plötzlich jongliert einer der Kellner artistisch mit Weinflaschen, ein Restaurantbesuch wird durch einen im Hintergrund speisenden Gast angedeutet. Für Momente gleitet die Inszenierung ins Absurde, die Einheit von Ort und Zeit wird geschickt aufgehoben. Überzeugend auch viele Darsteller: Pete Simpson als eifersüchtiger und trinkfreudiger Mike Campbell, Frank Boyd als streitsüchtiger Bohemien Harvey Stone (und als sentimentaler englischer Tourist Harris), Vin Knight als alternder Dandy Count Mippopoulos und Ben Williams (der wie Matt Tierney nebenbei noch für die zum Teil ausgefeilten Livesounds zu sorgen hat) als herrlich dynamischer Bill Gorton. Kate Scelsa hat im ersten Teil einen spektakulären, redseligen und vor allem sehr temperamentvollen Auftritt.

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Ausgerechnet die Hauptdarsteller bleiben schwach: Lucy Taylor nimmt man ihre männerfressende Brett Ashley nicht ab, dazu wirkt sie zu brav. Matt Tierneys unglücklich verliebter Robert Cohn bleibt viel zu passiv und erregt nicht einmal Mitleid. Vor allem Mike Ivesons Erzähler und Hauptfigur des Abends bleibt trotz beeindruckender Textfülle, die er ohne Aussetzer vorträgt, blass. Er agiert wie ein unbeteiligter Zuschauer, obwohl er mit seiner unerfüllten Liebe zu Brett mitten im Geschehen steckt. Das mag zu seiner Rolle, die ja auch Erzähler ist, gehören, aber die wirkt im Roman wesentlich überzeugender.

Etwa ein Drittel der Zuschauer ist in der Pause nach anderthalb Stunden gegangen. Der Rest bekam immerhin etwas lebhaftere weitere eineinhalb Stunden zu sehen. Richtig begeistert hat dieser auch viel zu lange Theaterabend nur die wenigsten.


The Select (The Sun Also Rises)
von Elevator Repair Service nach dem Roman "The Sun Also Rises" ("Fiesta") von Ernest Hemingway
Konzeption: Elevator Repair Service, Inszenierung: John Collins, Producer: Ariana Smart Truman, Stage Manager und Regieassistenz: Sarah Hughes, Bühne und Kostüme: David Zinn, Licht: Mark Barton, Sound Design: Matt Tierney, Ben Williams, Tanztraining: Katherine Profeta.
Mit: Mike Iveson, Matt Tierney, Kate Scelsa, Ben Williams, Pete Simpson, Kaneza Schaal, Vin Knight, Lucy Taylor, Frank Boyd und Susie Sokol.

www.festwochen.at


Kritikenrundschau

Der Gruppe Elevator Repair Service gelinge es erneut, "die Textmasse eines Romans mit einfachen Mitteln des Theaters so umzusetzen, dass man nach dreieinhalb Stunden glaubt, das Buch nicht nur ganz gelesen, sondern auch noch seine tiefere Bedeutung erfasst zu haben." So zeigt Norbert Mayer in der Presse (9.6.2011) seine Wertschätzung für das Projekt der New Yorker. Obgleich dieser Abend "nicht mehr so puristisch" wie vorangegangene sei und im Publikum "Ermüdungserscheinungen" zu verzeichnen gewesen wären, lässt sich der Kritiker von der Atmosphäre und den Charakteren gefangen nehmen: "Lauter nette Leute? Nur, wenn sie so viel getrunken haben, dass sie ihre Beschädigungen nicht mehr spüren."

Reservierter zeigt sich Ronald Pohl im Standard (9.6.2011) Die "treuherzige Hemingway-Dramatisierung" sei "denn doch ein wenig zu schön, um wahr zu sein". Zwar führe Mike Iveson als "kongenialer Erzähler freundlich und kompetent durch das Gebirge von Hemingways Prosa, die Schauspieler vollbringen wahre Wunder an Flexibilität." Doch habe "man die Vorlage auch einigermaßen vollständig um den Schmutz und jenen Mutwillen erleichtert, der Hemingways 'Coolness', seinen grandiosen, selbstmitleidigen Machismo im Kern ausmacht."

Erschöpft, aber nicht enttäuscht schreibt Hans Haider in der Wiener Zeitung (9.6.2011): "Nach der lauten Klimax der Acht-Tages-Fiesta sinkt die Spannung gegen null. In die finale Zärtlichkeit und Rückkehr der Moral. Denn Brett gibt den Torero auf, um ihn nicht zu verderben. Ein langer Abend, der sich den Beifall der Sitzengebliebenen redlich verdiente." Es sei eine Inszenierung, die "auf dem Ausgedachten, dem Fiktionalen, dem Epischen" bestünde und deren Spiel doch "genau beim Text" bleibe.

Kommentare  
The Select, Wien: völlig hineingezogen in den Abend
Dann gehöre ich zu den "wenigsten", die dieser Theaterabend "richtig begeistert" hat - und mit mir einige, mit denen ich den Abend gemeinsam besucht habe. Ich habe auch die beschriebenen Schwächen des Abends eindeutig als Stärken empfunden: Ich wurde völlig hineingezogen in diesen Abend, in die Atmosphäre dieser Welt. Die Verlorenheit wirkte ganz direkt auf mich - auch wenn ich "nur" das Alter der Protagonisten, nicht aber deren (Kriegs-)Vergangenheit teile - und offenbar ein Lebensgefühl, seltsamerweise. Wenn die beiden Protagonisten am Ende "aufwachen" und als Frage im Raum steht: "Wie weiter?" und wenn ein über ein ausgefülltes Leben heißt es "wäre schön, sich das vorstellen zu können", dann schmerzt das, wie selten etwas an einem Theaterabend der letzten Zeit. Ich fand den Abend auch keine Sekunde zu lang, im Gegenteil: Je länger der Abend dauerte, desto intensiver hatte ich das Gefühl, hier Zeit mit Menschen zu verbringen, nicht mit Figuren - obwohl oder gerade weil hier ja kein Naturalismus vorgetäuscht wurde.
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