Politisch ein Kind

von Nikolaus Merck

17. Juni 2011. Als im Jahr 1932 der erfolgreiche Basler Theaterdirektor Oskar Wälterlin wegen einer Missbrauchsaffäre – ein Opernsänger hatte einen 13-jährigen Statisten mit einer Geschlechtskrankheit angesteckt – aus dem Amt gedrängt worden war, suchte er eine neue Stelle. Wälterlin, ein offenes Geheimnis in Basel, war homosexuell. In der Schweiz galten damals Männer dieser Orientierung als "pervers", die Polizei registrierte und überwachte sie.

Es dauerte bis zum Frühjahr 1933, dann fand Wälterlin ein neues Engagement. Herbert Graf, der Oberspielleiter der Oper in Frankfurt am Main, die gerade von den Nazis gleichgeschaltet worden war, musste die Position räumen. Wegen seiner "jüdischen Herkunft". Er wechselte ans Theater Basel. Und Oskar Wälterlin ging als Opernchef nach Frankfurt.

Durchbruch für Frisch und Dürrenmatt

Thomas Blubacher erzählt diese Episode in "Oskar Wälterlin und sein Theater der Menschlichkeit". Ein Buch, das dem Leser Fragen aufgibt. Denn recht eigentlich erzählt der Autor, Regisseur und ausgewiesene Kenner der Schweizer Theatergeschichte zwei zum Teil gegensätzliche Geschichten. Die erste, die bekannte vom Humanisten Oskar Wälterlin geht etwa so: Schon in den zwanziger Jahren versuchte der 1895 in Basel geborene Regisseur im Verein mit Adolphe Appia dessen Bühnenreformen zu verwirklichen – strengere, formale Raumlösungen anstatt des Butzenscheibenrealismus. Nach seinem Rausschmiss wich er nach Frankfurt aus, kehrte 1938 in die Schweiz zurück und machte das Zürcher Schauspielhaus, dessen Intendant er bis 1961 blieb, zum "bedeutendsten Stützpunkt deutschsprachigen Exiltheaters außerhalb des nationalsozialistischen Machtbereichs" (Klappentext). In den fünfziger Jahren verhalf Wälterlin Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt mit seinen Inszenierungen zum Durchbruch als Dramatiker.

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Oskar Wälterlin. © N.N.

Die zweite, untergründige Geschichte des Oskar Wälterlin ergibt kein zusammenhängendes Narrativ, sie besteht vielmehr aus einer Reihe offen bleibender Fragen. Thomas Blubacher macht unzweideutig klar, dass der Basler sein Frankfurter Engagement wesentlich der Intervention des Schweizer Gesandten in Berlin und des Chefs der Schweizer Fremdenpolizei Heinrich Rothmund verdankte. Wieso jedoch geht ein homosexueller Schweizer Theatermann freiwillig nach Nazi-Deutschland, wo Schwule jederzeit im KZ landen können? Wieso verhilft ein antisemitischer Schweizer Polizeioffizier – Heinrich Rothmund ist mitverantwortlich für die Einführung des "Judenstempels", eines roten "J" in den Pässen jüdischer Deutscher – ausgerechnet einem homosexuellen Künstler zu einer Anstellung in Nazi-Deutschland?

"Verschweizerung" des Theaters?

Auch der offiziellen Version, Wälterlin sei 1938 aus Frankfurt in die Schweiz zurückgekehrt, weil ihm Pressionen drohten, widerspricht Blubacher. Im Gegenteil verhandelte der Opernregisseur auch nach seinem Weggang über Gastinszenierungen in Frankfurt. Wiederum war es der Polizist Rothmund, der die Rückkehr des Theatermannes in die Schweiz forcierte. Mit dem unpolitischen Wälterlin ("politisch ist er ein Kind", zitiert Blubacher ein Schreiben Rothmunds) sollte ein konservativer, nicht-jüdischer Schweizer an der Spitze des als jüdisch-linkem Emigrantentheater verschrienen Schauspielhauses installiert werden. Rothmund und mit ihm das konservative Bürgertum versprachen sich von Wälterlin die "Verschweizerung" des Theaters.

Und tatsächlich sorgte der neue Chef für eine Abmilderung der politischen Militanz des Hauses. An die Stelle des angefeindeten Antifaschismus trat nun die allgemein humanitäre Botschaft der Klassiker. Er engagierte mehr Schweizer Schauspieler und sorgte dafür, dass Schweizer Singspiele und Volksstücke in Mundart auf dem Spielplan erschienen.

Drei Brecht-Uraufführungen in drei Jahren

Aber Wälterlin war kein bloßer Erfüllungsgehilfe der "geistigen Landesverteidigung", die durch Schweizerischen Nationalismus die mentale Abwehrkraft aufzurüsten trachtete. Der Kompromisskandidat entpuppte sich als begnadeter Theaterleiter. Er ergänzte wohl das Ensemble durch Schweizer Schauspieler, ließ es aber ansonsten unangetastet. Weiterhin inszenierten Leopold Lindtberg und Leonard Steckel, und der Chefdramaturg Kurt Hirschfeld bestimmte wesentlich den Spielplan. Auf dem tauchten weiterhin in Deutschland verbotene Autoren auf wie Bertolt Brecht, von dem allein drei Stücke zwischen 1941 und 1943 in Zürich uraufgeführt wurden. Mit seinem Kurs, "das bislang als politisches Theater der Emigration wahrgenommene Schauspielhaus als neutrales Theater der Schweiz zu etablieren", schreibt Blubacher, sei es Wälterlin gelungen, die bisher abseits stehenden Bürger zu gewinnen und während des Krieges eine "später fast mythisch überhöhte Einheit von Ensemble und Publikum" zu schaffen.

Doch diese glückhaft enge Verbindung endete bei Anbruch des Friedens. Für die nach Wien, München und Ostberlin abwandernden Schauspieler holte Wälterlin, trotz Protesten von Therese Giehse, ausgerechnet Protagonisten des vormaligen Nazi-Theaters wie Will Quadflieg, Ewald Balser und Gustav Knuth ans Haus. Ein Kurswechsel, den Blubacher, diesmal unkommentiert, referiert. Welche Gründe Wälterlin der Giehse für die Engagements der deutschen Stars präsentierte, wie er den Antifaschisten den Zuzug der Opportunisten erklärte, bleibt unerwähnt.

Gallionsfigur mit historischer Pointe

So entsteht letztlich wieder der aus vielen Schauspieler-Biographien bekannte Eindruck, das Theater sei eben kein Ort für Ethik und Gesinnung. Eine Plattitüde, für die das antifaschistische Zürcher Schauspielhaus selbst den Gegenbeweis darstellt.

Neben den offenen Fragen, die Blubachers Buch nicht beantworten kann oder will, bleibt zum Schluss vielleicht bloß die Ironie der Geschichte. Leopold Lindtberg und Leonard Steckel mögen prägender gewirkt haben als Regisseure, Kurt Hirschfeld mag der profiliertere und fleißigere Theaterleiter gewesen sein, aber Oskar Wälterlin, als Regisseur zwar produktiv, doch bloß mittelmäßig, politisch ein Opportunist und als Pädophiler gesellschaftlich ein Außenseiter, dieser Oskar Wälterlin wurde zur Gallionsfigur für den außerordentlichen ethischen und künstlerischen Ruf des Zürcher Schauspielhauses, das seither zur Creme der deutschsprachigen Theater gehört.


Oskar Wälterlin und sein Theater der Menschlichkeit
von Thomas Blubacher
Henschel Verlag 2011, 287 Seiten, 24,90 Euro.



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