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Ich auch

von Willibald Spatz

München, 17. Juni 2011. Etwas Unfertigem beizukommen, indem man es noch unfertiger macht: Thomas Mann hat den "Felix Krull" nicht geschafft, da hätte noch so viel kommen sollen. Jedenfalls ist so viel noch angedeutet in dem vorliegenden Teil, aber irgendwie hat er es nicht hinbekommen, hat mehrere, teilweise über Jahrzehnte auseinanderliegende Versuche unternommen und es dann nach ungefähr 400 Seiten sein lassen.

Anscheinend. Es könnte allerdings auch ganz anders sein: Die Geschichte ist vielleicht schon zu Ende erzählt und erscheint unfertig, weil es ja auch der Titelperson vor allem um den Schein geht. Jener Felix Krull erzählt uns das ja alles aus seiner Perspektive und er erzählt uns, dass er allen Menschen, die in seinem Leben eine Rolle spielen, seit frühester Kindheit nur Dinge erzählt, die ihm wahr und passend erscheinen für seine Zwecke. Konsequenterweise müsste er also seine Leser – uns – genauso anlügen.

Pickel unter der Schminke

An diesem Punkt setzt Bastian Kraft mit seiner Inszenierung an. Ihm geht es um die Lügen oder besser die doppelten Wahrheiten, denen sich der Theaterbesucher so bereitwillig aussetzt. Diesem Drang, etwas vorgemacht zu bekommen und dafür auch noch Geld auszugeben. "Die Erwachsenen und im üblichen Maße lebensklugen Leute aber, die sich so willig, ja gierig von ihm betören ließen, mussten sie nicht wissen, dass sie betrogen wurden", beschreibt Felix Krull einmal seine Eindrücke, als er nach einer Operettenaufführung zusammen mit seinem Vater den Star des Abends in seiner Garderobe aufsucht und dort eklige Pickel unter der Schminke sieht.

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"Felix Krull", hier mal zwei. © Andrea Huber

Auf der kleinen Bühne des Volkstheaters stehen drei Krulls, für jeden hat Anna van Leen einen eigenen Rahmen zum drin Stehen gebaut. Und jeder von den dreien behauptet, die wahre Geschichte zu erzählen und den wahren Charakter des Hochstaplers zu repräsentieren. Sie fallen sich gelegentlich ins Wort, wenn ein anderer etwa das Ziel einer Reise falsch angibt. Oder rufen schnell "ich auch", wenn einer im Nachbarrahmen etwas über sich behauptet, zum Beispiel, dass er auch in Unterwäsche eine gute Figur mache. Den Beweis für diese Aussage zu erbringen, sehen sich alle drei gezwungen; es startet ein vorsichtiger Strip, bei dem jeder peinlich darauf achtet, nicht schneller als die anderen nackt zu werden. Als alle im Feinripp dastehen, befinden wir uns mitten in der Musterungsszene. Zwei spielen den Krull, einer den Arzt, jeweils gekennzeichnet durch verschieden farbig aufleuchtende LEDs, die die Spielrahmen der Schauspieler umgeben.

Immer höher hinaus

Für die knapp zwei Stunden, die der Abend dauert, wurden aus dem Roman vor allem die dialoglastigen, amüsanten Passagen ausgewählt. Durch ein bisschen Lichtwechsel und blitzschnelle, häufige Rollenwechsel kommt gehörig Leben in die Aufführung, die Handlung schreitet geschmeidig und flott voran; ein lustiges Theater mit wenigen, effizient eingesetzten Mitteln schnurrt an einem vorbei. Die drei Herren treten zunächst alle ähnlich aalglatt und geschniegelt vor einen hin.

Erst im Verlauf des weiteren Spiels zeigen sich einzelne Facetten der Krull-Figur, vor allem, nachdem die drei in Nebenrollen schlüpfen mussten. Nicola Fritzen ist der Krull, dem am unwohlsten in seiner Haut ist, der schnell die Identität wechseln will, um aus der brenzligen Situation rauszukommen. Seine in einem Hotelzimmer verführte Kloschüsselfabrikantengattin ist eine dezente Travestie ohne jede Übertreibung. Justin Mühlenhardts Krull ist der Vorsichtigste, der den anderen warnt, einen Diebstahl auszuplaudern. Der Harte, Berechnende ist schließlich Pascal Fligg, der immer höher hinaus muss.

Willkommen im Impro-Teil

Das abrupte Ende des Romans erlaubt es auch, seine Adaption an jedem beliebigen Punkt abzubrechen oder ins Leere laufen zu lassen. Als Krull in seiner neuen Haut als Marquis de Venosta von Paris nach Lissabon aufbricht, stellen die drei ein Jenga-Spiel auf. Dabei muss man aus einem Holzturm einen Baustein herausziehen und ihn hoch auf den Turm stapeln. Verloren hat der, bei dem der Turm einstürzt. Die drei spielen echt: Die Aufführung endet, sobald der Turm umfällt. Mit jedem Stein müssen sie – Willkommen im Impro-Teil – eine weitere Episode der Krull-Reise erfinden.

Als die Steine dann fallen und der Applaus beginnt, hat man sich amüsiert, großartig fraglos, man hat auch eine virtuose Umsetzung eines Romans in seine Theaterversion gesehen. Und man wurde intellektuell nicht allzu belästigt mit einem Schein-Sein-Diskurs, den man ja eh fortsetzen kann bei jedem Theaterbesuch in seinem Leben.

 

Felix Krull
nach Thomas Mann
Regie: Bastian Kraft, Ausstattung: Anna van Leen, Musik: Arthur Fussy, Dramaturgie: Kilian Engels.
Mit: Pascal Fligg, Justin Mühlenhardt, Nicola Fritzen.

www.muenchner-volkstheater.de



Kritikenrundschau

"Wie schön ein Abend sein kann, wird man an der Nase herumgeführt," schreibt Linda Heinrichkeit in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (19.6.2011). Sei schließlich genau dies die Erwartung an einen Theaterbesuch. "Es ist ein allgemeines, menschliches Bedürfnis, sich täuschen zu lassen", habe schließlich schon Thomas Mann seinen Hochstapler Felix Krull sagen lassen. Und so sitzt sie gespannt da und schaut den drei Krull-Darstellern und ihren unterschiedlichen Geschichten zu: "jeder glaubt, die seinige sei die richtige. Und alle stapeln sie hoch, wie man so schön sagt, aus ihren erhöhten Positionen. Den Boden berührt keiner." Denn in München stehen sie über der Erde in einem Rahmen. Besonders herrlich findet die Kritikerin das Spiel: "Nicola Fritzens als Geliebte Felix Krulls, Madame Houpflé, deren Weiblichkeit er mit sanften Gesten und gehauchter Stimme zu imitieren weiß. Alles wirkt locker, wie improvisiert und unkonventionell. Die Sprache ist frei von Stelzen, das Handeln der Darsteller ist voller Slapstick-Komik. Mit nur wenigen Mitteln, aber dank großem Können seiner Schauspieler hat Kraft ein Theater der Leichtigkeit erschaffen, wie es sonst selten zu finden ist."

Für die Glamour-Stadt München sei dieser „Felix Krull” mit seinem gelackten Charme und eleganten Esprit genau die richtige Inszenierun, findet Michael Stadler in der Münchner Abendzeitung (20.6.2011). Die drei jungen Herren, die "im Volkstheater lange Zeit den Boden der Tatsachen buchstäblich nicht berühren wollen", spielten auch "die Satelliten, die um Krull kreisen. Der Narziss sieht ja sowieso in jedem nur sich selbst". Die Bühne mit ihren "Daseinskästen", aus denen Fahrstühle oder Zugabteile werdenkönnen, mache mit ihrem  "Boden-Tabu" Kabinettstückchen nötig: "mit dem Mikro nach heruntergeworfenen Jacketts angeln oder an Deckenrohren hangelnd doch die Positionen wechseln – in einen anderen Rahmen." Stadlers Fazit: "Diese pfiffige Inszenierung müssen Sie schon selber sehen! Ungelogen."

Egberth Tholl schreibt in der Süddeutschen Zeitung (21.6.2011): "Eine Aufführung wie süßes Konfekt. Allerliebst gemacht, mit drei reizenden Jungs auf der Bühne. Und am Ende bleibt davon nichts weiter als der Eindruck einer großen Hochstapelei." Kraft, Jahrgang 1980, kenne sich aus "mit der Herstellung perfekter Oberflächen, erstaunlich für einen, der in Gießen angewandte Theaterwissenschaft studiert hat". Und er habe Lust am Erzählen, "am Erzählenlassen". Eine "kommentierende Haltung" zu den von ihm bearbeiteten Vorlagen finde man allenfalls in subtilen Nuancen". Jeder der drei Schauspielerinnen verdiene den Titel des Hochstaplerkönig. "Flott" gehe es durch einzelne Episoden des Romans. Manns "preziöse Sprache" bleibe erhalten. Und wenn die drei sich verhedderten könne Kraft auf die "altmodisch swingende, cremig-dicke und herrlich ironische Varieté-Musik" von Arthur Fussy vertrauen. Zur Geschichte komme allerdings erst mit dem "Holzklötzchenspiel" am Ende etwas hinzu. Trotzdem, mehr als "ein virtuoses Live-Hörspiel" werde aus diesem 'Felix Krull' nicht.

Kommentare  
Felix Krull, München: echtes Theater
Felix Krull
Es ist witzig, es ist drollig, skurill, akrobatisch, virtuos, grotesk, frisch und großartig gespielt: Seit 2011. Ein ähnlicher Longseller wie der Brandner Kaspar, der ja auch irgendwie ein Hochstapler war, zumindest ein dem Leben allzusehr zugewandter Todtäuscher. Bei diesem Felix Krull ist man gar nicht so sicher, ob und wo er überhaupt hin will, ins Leben oder darüber hinaus, und Thomas Mann wußte das offenbar auch nicht so genau.
Jedenfalls ein köstlicher Theaterabend, auf meiner persönlichen Hitliste neben Rasches Räubern ebenfalls mit voller Punktzahl bewertet (Tiefer Schweb mit Null): Einmal weil die drei Akteure brillant sind und dann, weil die Aufführung weder belehrt noch pädagogisiert, sondern das Denken dem Zuschauer überlässt. Und man kann aus diesem Felix Krull eine ganze Menge heraus hören und heraus schauen: Vom Diesel-Skandal über multiple Persönlichkeitsstörung bis hin zum Zen ist alles drin. So muss Theater sein. Außerdem ist es unterhaltsam. Sehr unterhaltsam. Richtig gut. Gut gemacht, gut gespielt. Echtes Theater halt und kein Betrug.
Felix Krull, München: Paralleltheater
Ich war schon drin, aber ich möchte noch mal rein und zwar mit den Familienmitgliedern, die den Krull noch nicht gesehen haben.
Es ist praktisch unmöglich; man bekommt keine Karten. Dieses Stück ist ständig ausverkauft. Wahrscheinlich hocken die Leut' auf Anspannung und geiern auf den Erstverkaufstag, um sich sofort nach Kassenöffnung auf sämtliche Karten zu stürzen. Ich bin jedes Mal zu spät. Zu allen nächsten vier Vorstellungen heißt es: 'Derzeit sind alle Karten vergriffen. Eventuelle Restkarten erhalten Sie an der Abendkasse.'
Es gibt - soweit ich die Münchner Verhältnisse überblicke - nur den Polt und den Brandner Kaspar, die gleicher, überbordender Nachfrage ausgesetzt sind. Wahrscheinlich muss man zeitflexibler Rentner sein, um sich in das Zeitfenster der Kartenvorverkäufe zu adaptieren, oder über eine ultraschnelle Online-Verbindung verfügen und exakt die Freischaltung des Portals abpassen.
Seltsamerweise gibt es hier, obwohl seit neun Jahren übergut besucht, außer dem meinigen keinen Kommentar.
Ist das nicht merkwürdig?
Bedienen diese drei Veranstaltungen ein völlig anderes Publikum? Warum etwa haben die Kammerspiele, dieser Durchlauferhitzer, der die Inszenierungen schneller absetzt (Doktor Alici), als ihre Bühnenerprobung gedauert hat - den Polt lassen wir jetzt außen vor - so gar nichts im Programm, was sich dauerhaften Publikumszuspruches erfreuen würde?
Mittlerweile glaube ich, dass es neben dem 'offiziellen' Theater, das viel Getöse und viel mediale Aufmerksamkeit erhält und viel Personenkult, eine Art von Schattentheater gibt, ein Paralleltheater, das gänzlich andere Bedürfnisse eines anderen Publikums reflektiert und das der Kritik, aus welchen Gründen auch immer, wohl zu profan ist, um sich darüber zu artikulieren.
Wenn Theater seit jeher in der Aufgabe steht, das Verborgene in das zu Entbergende zu bringen, das Numinose ins Erahnen und Begreifen, dann frage ich mich, ob sich in diesen Stücken am Rande, diesem Beiseitegelassenen, diesem Übersehenem nicht eine andere Art von Wahrheit offenbart, jenseits aller bühnengesellschaftspolitisch zu verhandelnden Relevanz aktuellsterer Globalproblematiken.
Welche Wahrheit könnte das wohl sein?
Ich muss unbedingt noch mal in den Krull rein.
Vielleicht geht mir dann ein Licht auf.
Felix Krull, München: Paralleltheater
Sie haben vollkommen recht, lieber Thomas Aushauser!

Felix Krull hat bei den Bayerischen Theatertagen 2013 in Nürnberg gastiert, dort habe ich es gesehen und war genauso begeistert wie Sie. Die Aufführung geht mir seitdem nicht aus dem Kopf, die intelligente Spielwut der Schauspieler und die nicht nachlassende Energie der Inszenierung drängen sich immer wieder in die Gedanken - zum Beispiel, wenn es darum geht, Pläne fürs eigene Theater zu machen. Nur die jeweilige Nähe zu München und das beeindruckende Gewicht dieser „Referenzaufführung“ haben bisher dafür gesorgt, dass wir die Finger von diesem gerade heute wieder inspirierenden Stoff gelassen haben. Um die Ursache für das Abhandenkommen eines langfristigen Repertoires an den Kammerspielen muss man allerdings kein großes Geheimnis machen: der Paradigmenwechsel zum Festival-Dauerbetrieb, der im schnellen Rhythmus die überschaubare Klientel mit immer neuen Produkten versorgen muss, war politisch gewollt und gehorcht eigenen Gesetzen.
Felix Krull, München: versandet
Kurz vor dem 10jährigen Jubiläum steht der "Felix Krull"-Dauerbrenner in Originalbesetzung an zwei Abenden wieder auf dem Spielplan. Der Anfang ist spielerisch-leicht. Thomas Manns Hochstapler und Blender in das Setting des TV-Quizshow-Klassikers "Sag die Wahrheit" zu verlegen, funktioniert als Regie-Konzept gut. Sehr präzise sind die komischen Momente wie das gegenseitige Belauern beim Striptease-Duell oder der Wechsel der Boxen im letzten Drittel inszeniert.

Schade ist, dass dem Abend zum Schluss die Luft ausgeht, Die Kalauer-Impro-Show der letzten zehn Minuten lässt den Abend versanden. Die Flucht in Sparwitze und Kalauer hat dieser "Krull"-Abend leider mit den beiden "Krull"-Versionen von Alexander Eisenach am BE 2019 gemeinsam.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/05/24/felix-krull-bastian-kraft-munchner-volkstheater-kritik/
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