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Arschloch, Wichser, Hurensohn!

von Klaus M. Schmidt

Essen, 18. Juni 2011. Es wird gedribbelt, gegrölt, gesungen, Bier getrunken, erzählt. Marc-Oliver Krampe schickt im Schauspiel Essen sieben Experten ins Rennen, um die schönste Nebensache der Welt zu erklären: Vier Fans, ein Schiedsrichter, ein Stadionsprecher, ein Fanbeauftragter erzählen von ihrer Beziehung zum Fußball, zu ihrem Verein, zu anderen Fans. Die Schauspielerinnen Lisa Jopt und Floriane Kleinpaß bringen die Außensicht ins Spiel. Das gut Gemeinte bremst das Authentische zwar oft aus. Am Ende heißt es aber doch klar 4:1 für die Schauspiel-Laien – und den Fußball.

Eine Bierflasche, rechts und links daneben zwei Minifußballbälle. Das Plakatmotiv symbolisiert so unmissverständlich ein männliches Genital, wie der Fußball überwiegend immer noch Männersache ist. Die Schauspiellaien laufen im weißen Fußballdress auf, in der Männerschar gibt's aber auch Rike und Anni Silber, Mutter und Tochter, beide aktiv im Fanklub "RWE-Mädels und ihre Kerle".

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© Diana Küster

Achtung, Verfremdung!

Die beiden Schauspielerinnen hat man in Kostüme gesteckt, die modisch das Thema Sportdress variieren, aber hier deplatziert wirken. Die beiden Damen müssen einerseits furchtbar schlaue Sachen über den Fußball aufsagen. So wird etwa der französische Soziologe Pierre Bourdieu viel zu ausgiebig mit einem Text über Männer- und Frauenrollen zitiert. Andererseits – Achtung Verfremdung – legt ihnen die Regie derbe Macho-Sprüche in den Mund, damit auch der Letzte begreift, dass Männlichkeitswahn und Frauenverachtung zusammengehören.

Auch die Themen Homophobie im Fußball und Billiglohnarbeit bei der Produktion des runden Leders in Pakistan werden politisch korrekt abgehakt. Lebendig wird der Abend erst durch die Fans, die auf zwei Quadratmeter großen Kunstrasenstücken hocken, einer von ihnen einen Kasten Bier unterm Hintern, ein anderer einen unglaublich hässlichen Plastikstuhl. Kurze Statements, etwas längere narrative Texte und eigene Geschichten sind geschickt montiert. Die Laien schaffen es problemlos, den Anschluss zu den Profis zu halten. Chorisches Sprechen wird pointiert eingesetzt, Songs und typische Fanslogans sowie kleine Choreographien mit und ohne Ball sorgen für weitere Auflockerung.

Die Gemeinschaft ist eben alles

Der eine ist durch seinen Onkel zum Verein gekommen, der andere durch den Kameraden aus dem Kinderhort, Rike hat als fußballverrücktes Mädchen mit Willi "Ente" Lippens auf der Straße gekickt. Das Ruhrgebiet mit seiner hohen Dichte an Fußballvereinen ist ein Soziotop, in dem es schwer ist, kein Fußballfan zu werden. Das machen die Initiationsgeschichten der Akteure am Anfang klar.

Und dann steht man irgendwann im Block und singt mit. Die Gemeinschaft ist eben alles. Singt auch mit: "Arschloch, Wichser, Hurensohn! Deine Mutter hatt' ich schon", oder: "Ihr seid die Hauptstadt der Schwulen" ... Der Großteil des Ensembles kennt sich gut aus mit dem Liedgut der rechten Fans von Rot Weiß Essen, die nicht nur im Revier ihren besonders schlechten Ruf gerne in verletzungsträchtigen Keilereien verteidigen. Dennis Heisterkamp ist der Absprung aus der Szene geglückt, weil ihn Familie und weiteres Umfeld nicht fallen gelassen haben. Davon berichtet er in einem Monolog, der mit leisen Tönen besticht.

Keine moralischen Verlierer

Torsten Knippertz, im wahren Leben Stadionsprecher bei Borussia Mönchengladbach, sagt: "Fußball ist eine der wenigen Sachen, die mich wirklich innerhalb von wenigen Sekunden ausrasten lassen können." Knippertz ist der quirligste Akteur, teilweise vibrierend vor Energie. Man möchte ihm am liebsten ab und zu beruhigend die Hände auf die Schultern legen. Roland Sauskat hingegen, jahrzehntelang als Sozialarbeiter in einem Fanprojekt tätig, wirkt abgeklärt, weiß aber seine Anekdoten mit Lebenserfahrung zu grundieren. Diese beiden bilden sozusagen die Eckpfeiler des Teams.

Das Gemeinschaftsgefühl der Fans hat seinen Preis – die Ausgrenzung von Schwulen, Frauen, anderen Fans und so fort. Die Identifikation mit dem eigenen Verein kann jederzeit in Gewalt münden, auch das. Nichts von dem bleibt ungesagt. Bei der Premiere aber erntet das Fanteam Standing Ovations, und König Fußball verlässt nicht als moralischer Verlierer den Platz. Dafür haben einen die Damen und Herren einfach auch zu sympathisch an ihrer Obsession teilhaben lassen.

 

Balls – Fußball ist unser Leben (UA)
Ein Abend über das, was uns verbindet
ein Projekt von Marc-Oliver Krampe
Regie/Konzept: Marc-Oliver Krampe, Bühne: Elena Ortega, Lisa Maria Rohde, Kostüme: Asima Amriko, Christina Hillinger, Musik: Felix Reisel.
Mit: Lisa Jopt, Floriane Kleinpaß sowie Jan Birkemayer, Dennis Heisterkamp, Torsten Knippertz, Marvin Slablonsky, Roland Sauskat, Anni Silber, Rike Silber.

www.schauspiel-essen.de

 

Mehr Fußball auf nachtkritik.de? Zum 100. Geburtstag von Borussia Dortmund brachte das Theater Dortmund im September 2009 Bruno Knusts Fußball-Revue Leuchte auf mein Stern Borussia heraus. Marcus Lobbes inszenierte im Dezember 2009 am Theater Freiburg Marc Beckers Fußballszenen Wir im Finale. In Halle erarbeitete der Dramatiker Dirk Laucke mit radikalen Fußballfans sein Stück Ultras.


Kritikenrundschau

"'Balls' ist kein Theaterstück, und das ist sehr gut so", findet Kai Süselbeck auf dem Onlineportal der Westdeutschen Allgemeinen derwesten.de (19.6.2011). Marc-Oliver Krampe widerstehe "fast allen Versuchungen zu theoretisieren. Er stellt den Fans mit Lisa Jobt und Floriane Kleinpaß zwei Bühnenprofis zur Seite, die polemisieren, Bälle zuspielen, das Tempo hoch halten." Der Abend sei in seiner Verarbeitung von Fan- und Fußballthemen nicht schönfärberisch. Im Ganzen "vermitteln die Fans auf der Bühne ein immer greifbareres Bild davon, wie das ist, im Fußball ein Stück Heimat zu suchen und zu finden."



Kommentare  
Balls, Essen: Richtigstellung
Hallo liebe Nacht-Kritiker,

als einer der Darsteller von "Balls" möchte ich mich zumindest im Namen der Laien-Darsteller für die Kritik bedanken. ;-)
Leider ist Ihnen aber ein grober Fehler unterlaufen: Mir ist mit ca. 15 Jahren der Absprung aus der rechten Szene gelungen und nicht aus der Ultra-Szene!
Der Ultra-Szene in Essen ist es mit zu verdanken, dass es überhaupt eine Diskussion um Diskriminierungen innerhalb der gesamten Fan-Szene gegeben hat! Hier handelt es sich nicht um eine politische oder kriminelle Vereinigung und hier musste mir auch kein "Absprung" gelingen...ich bin aus ganz anderen Gründen einfach ausgetreten!
Bitte ändern Sie doch diese Stelle, da sonst ein schlichtweg falscher Eindruck der Essener Ultras entsteht.

Vielen Dank!
Dennis Heisterkamp


(Lieber Herr Heisterkamp, wir haben das geändert. Herzliche Grüsse, Esther Slevogt)
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