Dem Hierarchiemodell den Boden entziehen!

von Christian Rakow

Berlin, 19. Juni 2011. Es lohnt sich immer, gute Informanten zu haben. Meiner war Matthias Lilienthal vom Hebbel-am-Ufer. Der kam kurz vor Festivaleröffnung zu unserer Traube Wartender, verteilte Flyer für die nächste Show am HAU und ließ sich nebenher den entscheidenden Tipp entlocken: "Und nachher, Ann Liv Young? Gibt's wieder Trash-Talk?" – "Nein, diesmal wird man nur mit Fischwasser bespritzt, ist nicht schlimm." Nicht schlimm, ja, aber allemal ein guter Grund, sich wieder in die hinterletzte Reihe zu verkriechen. Sie ist so etwas wie die Kaiserloge für Abende der jungen New Yorker Hardcore-Performerin Ann Liv Young.

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Ann Liv Young                  © Marcus Lieberenz

Möchtest Du die Pflaume aus meiner Vagina?

Ihr eilte bereits ein Ruf voraus, als ich sie im Januar zum ersten Mal am HAU3 mit der "Cinderella"-Show erlebte: Blutig solle es gelegentlich zugehen, gekackt und uriniert werde auch gern und natürlich masturbiert. Ah ja. Der Schock stellte sich dann auch ein, nur kam er aus einer ganz anderen Richtung. Nach einem Intro mit lyrischen Texten, die lose über Cinderellas alias Aschenputtels Ausgangssituation improvisierten (geknechtet im Haushalt, aber in Erwartung besserer Zeiten) und einigen freakig mitgesungenen Popsongs der Marke Britney Spears wechselte Ann Liv Young in eine Endlosbefragung, ja eine Inquisition des Publikums: Hüben geht's einschmeichelnd zu: "Gefällt dir die Show? Was hast Du bisher verstanden?"; drüben bohrend: "Warum möchtest Du die Pflaume, die ich gerade aus meiner Vagina gezogen habe, nicht anfassen?" Wohl dem, an dem der Schierlingsbecher der Interaktion vorüber geht!

Es gibt endlich mal wieder etwas zu streiten mit Kollegen. Für die einen ist Ann Liv Young abgegriffenes Provo-Theater in der Tradition von Ron Athy, für die anderen irgendwie doch zu niedlich mit der ganzen Hübsche-Mädels-Musik und der mädchenhaften Ich-mach-mal-einfach-nicht-mit-Haltung. Wenn man das nicht so sieht, dann würdigt man, wie hier nicht nur einer weiblichen Rollenzuschreibung (der Suche Cinderellas nach einem Behüter), sondern dem ganzen dahinter lagernden Hierarchiemodell der Boden entzogen wird.

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Ann Liv Young mit Sidekick Michael Guerrero
© Marcus Lieberenz

Pars pro toto wird der theatrale Pakt zwischen Zuschauer und Spieler mitsamt seinem Erlösungsversprechen – zeige mir was Schönes und ich belohne Dich dafür – aufgekündigt. Selten ist man als Publikum derart involviert, provoziert, auf ethisch und ästhetisch bedenkliche Weise mit Emanzipationsfragen konfrontiert. So bietet Ann Liv Young eine der radikalsten feministischen Theatergesten derzeit, die Erledigung des Cinderella-Komplexes und den Ausgang der Künstlerin wie des Publikums aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit.

Anti-Theater der gesalzenen Art

Mit zwei Shows war Ann Liv Young eine der Headlinerinnen der diesjährigen achten Auflage des seit 2002 im Berliner Haus der Kulturen der Welt beheimateten Performing Arts Festivals "In Transit". Die "Sherry Show" gab leider nur einen müden Aufguss von "Cinderella", reinen Stand-up-Trash-Talk, dem der Kontext fehlte.

In der besagten Fischwasserplanscherei der "Mermaid Show" ging's ungleich schriller zu: Ann Liv Young hält als Meerjungfrau Audienz in einem Gummibassin, schlägt immer wieder angenervt mit ihrem Schwanz ins Wasser, catcht beizeiten mit einer nackten Haifischtänzerin und zersingt brutal laut Plastic-Popnummern von Katy Perry ("Fireworks") bis Nicki Minaj ("Right through me"), während sie mit Matrosen an der Angel ringt.

Dazwischen kommandiert sie das stets alles filmisch dokumentierende Team herum. Minutenlang wird das Kostüm zurechtgerückt. Antitheater der gesalzenen Art. So kann man dem Mythos der ewigweiblichen Verführung auch die Schuppen abziehen. Zum Höhepunkt wird ein frischer Seefisch vor dem Publikum zerfleischt. Sage niemand, dass sich Ann Liv Young nicht Mühe gibt, ihre Figuren angemessen zu repräsentieren!

Kopulationskämpfe unterm Kronleuchter

Überhaupt das Publikum bei "In Transit"! Aus Hildesheim und von der FU Berlin waren sie in Seminarstärke gekommen. Und hartgesotten sind sie, diese Performancegänger, respect! So schnell wird man nicht wieder erleben, wie sich Leute mit ekelhaft stinkendem Meerwasser bespritzen lassen oder sich Fischreste einfach mal locker aus dem Gesicht wischen, ohne auch nur einen Daumenbreit von der Spielmatte zurückzuweichen.

"Spectator" war das Motto, das die Kuratoren Jens Hillje, Tang Fu Kuen und Irina Szodruch dem diesjährigen "In Transit" gaben. Um die "Politik der Blicke" und die Austestung von Schamgrenzen sollte es gehen. Das führte bisweilen in triviale Übungen wie "Libido" von Dave St. Pierre, eine nackig-inbrünstige Tanzperformance, die exakt das hält, was der Titel verspricht: Kopulationskämpfe unter einem Kronleuchter, während Händel-Arien erklingen und der Regisseur unter einem Schafskopf demütig abseits hockt. So geht das da zu.

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Angélica Liddell ist Richard III.                                                  © Marcus Lieberenz

Angélica Lidells Katechismus des Grauens

Aber Debakel wie dieses bildeten die Ausnahme. Schon der Festivalauftakt mit Angélica Liddells "El Año de Ricardo" fiel furios aus. Auf einem großen roten Spielteppich mit Krankenbett und ausgestopftem Wildschwein tanzt sich die hagere, punkige Lidell als Mischung aus Baba Jaga und Bela B. in Rage. Es wird eine zweistündige energetische, teils auch enervierende Suada eines verrückten Despoten, lose um Shakespeares Kindsmörder Richard III. herum gestrickt und gespeist aus den Schreckensszenarien des 20. Jahrhunderts vom Franco-Regime und Auschwitz bis zum Napalmtod in Vietnam.

"Ich will, dass mein privates Leid zum allgemeinen wird", verausgabt sich Liddells Richard und diktiert seinen Katechismus des Grauens: "Die Sprache der Macht muss mit der Sprache der Idioten korrespondieren". Aus dem Leiden der Allerjüngsten, aus der Auslöschung von Zukunft, bezieht er seinen Lustgewinn. Ein wahrer Rabiato-Rap, ein finsteres Kindertotenlied.

Ivo Dimchev zeigt, wie Neurosen aussehen

Aber es gab nicht nur den Tanz der Furiosi, sondern auch weiche, wunderbar lakonische Arbeiten. Ivo Dimchev, der mit vergleichsweise abstrakten Soli zu einem der Stars der neueren Performancekunst avanciert ist, umspielt in "I-ON" Papiermachéskulpturen des Österreichers Franz West. In Jeans, Sakko und blonder Perücke tritt er auf und stellt etwas, das von Weitem wie eine Designer-Leselampe aussieht, auf ein Podest. Eingespielte metallene Sounds mystifizieren das Objekt, wenn er es bewegt. Dimchev knurrt wie ein Wachhund. Mit Elektrobeats unterlegte Liebeslieder und Traumszenarien mischen sich in die minimalistischen Aktionen.

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Ivo Dimchevs Performance "I-On"                                                             © Ivo Dimchev

"Ich behaupte, wenn man Neurosen sehen könnte, sähen sie so aus", heißt es von Franz West über seine geschwungenen, als Prothesen handhabbaren Skulpturen. Etwas von dieser Tiefendimension neurotischen Begehrens lässt Dimchev in seinem Spiel mit Wolfslauten und Wolfsposen aufflackern. Dabei gräbt er nicht wie wild in Innerlichkeit, sondern belässt alles distanziert, zart anironisiert, deutungsoffen. Dimchev übergießt seinen bald nackten Oberkörper mit Coca Cola. Und spätestens dort wird's auch eine Meditation über den Objektfetischismus, über den Tanz der verrückten Waren und Dinge, der unsere Kultur (nach Marx) ausmacht.

Daniel Koks optimal abgestimmte Dienstleistungslogik

"Demnächst im Brut Wien", verabschiedet sich Dimchev im ausfadenden Licht vom hochgradig amüsierten Publikum. Die Selbstvermarktung darf im Freien Sektor nicht fehlen. Niemand aber hat sie derart perfektioniert wie Daniel Kok aus Singapur (wohnhaft in Berlin) mit "Q&A". Zehn Minuten tanzt er in kurzer Hose, anscheinend vom klassischen Ballett inspiriert, mit Sprüngen, zu den Elektrobeats von Paul Kalkbrenner ("Ick muss aus dit Milieu heraus"). Und dann werden wir über das Zustandekommen ebendieses Tanzes in einer irre komischen Lecture aufgeklärt: Empirische Studien hat Kok angestellt, "qualitative" wie "quantitative", weil Künstler schließlich zuallererst Dienstleister sind. Und dabei kam heraus: Sozial und politisch muss es für Berliner nicht unbedingt sein, eher geht's um die Feier des Körpers. Das Licht bitteschön leicht abgedunkelt, die Kleidung leisure, aber körperbetont. Und Sprünge will Berlin (anders als etwa Edinburgh). Musik? Natürlich Elektro, in der Club-Hauptstadt Berlin immer Elektro!

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Daniel Kok                            © Jason Tong

Und siehe, schon beim nächsten Durchlauf erkennt man alle Elemente wieder. Alles optimal auf die Konsumentenbedürfnisse abgestimmt! Jetzt aber: Wir, das Publikum, sind ja nun live im Saal, also kann man alles noch einmal genauer hier und jetzt auf uns zuschneiden. Und Kok bringt uns witzelnd und selbstredend hoch manipulativ zu einigen entscheidenden Modifikationen für den Abschlusstanz. Den Auftritt als Mystery Man wählen wir mehrheitlich, Klassikrock und Rollen statt Sprünge.

In seiner Zuspitzung der Dienstleistungslogik wird Koks Abend zu einem der seltenen, aufregenden Siege der Kunst über das ökonomische Effizienzdenken. Denn was erblicken wir nach dem Abstimmungsprozedere? "Dies ist ein Tanz über das Begehren, wie ihn das Publikum begehrt, weil der Künstler für das Publikum begehrenswert sein will": Und Daniel Kok tanzt und rollt herum, bandagiert mit gelbschwarzem Absperrband, wie man es von Baustellen kennt (so viel zum "Mystery Man"), und das Ganze läuft zum Premiumkitschgedudel "I'd do anything for love" von Meat Loaf. Ein Triumph der Ironie!

 

In Transit 11
Spectator – Performing Arts Festival

Mermaid Show
von Ann Liv Young (New York)
Konzept: Ann Liv Young, Mitarbeit: Michael Guerrero
Performer: Ann Liv Young, Stephen West, Florentina Holzinger.

Sherry Show
von Ann Liv Young (New York)
Konzept: Ann Liv Young, Mitarbeit: Michael Guerrero, Assistenz: Stiven Luka, Annie Clinton.
Performer: Ann Liv Young, Annie Clinton.

El Año de Ricardo
von Angélica Liddell (Madrid)
Regie und Austattung: Angélica Liddell, Licht: Carlos Marquerie, Sound: Félix Magalhães Performer: Angélica Liddell, Gumersindo Puche.

Libido
von Dave St. Pierre (Montreal)
Choreographie: Sylvia Camarda, André Gingras, Vincent Morelle, Dave St. Pierre, Ausstattung: Dave St. Pierre
Performer: Sylvia Camarda, Vincent Morelle, Dave St. Pierre.

I-ON
von Ivo Dimchev (Sofia/Brüssel) in Zusammenarbeit mit Franz West (Wien)
Konzept, Choreographie: Ivo Dimchev, Skulpturen: Franz West, Soundassistent: Emilian Gatsov.
Performer: Ivo Dimchev

Q&A
von Daniel Kok (Singapur/Berlin)
Konzept: Daniel Kok, Management: Yap Seok Hui
Performer: Daniel Kok

www.hkw.de

 

Zum theoretischen Hintergrund des Festivals und seiner Frage nach dem "Spectator" lesen Sie den Essay über den kreativen Umgang mit Scham von Jens Roselt.

 

Kritikenrundschau

Im Deutschlandradio (Kultur heute, 20.6.2011) zieht Elisabeth Nehring Bilanz des Festivals "In Transit". Es verschiebe diesmal den Blick auf den Zuschauer und dessen Blick: "was sieht man, weil man es weiß, was sieht man nicht, weil man es nicht kennt? In welchem (Macht-)Verhältnis steht der Zuschauer als Einzelner und soziale Gruppe zum Performer, was macht der Blick mit dem Angeschauten?" Das seien "theorie-lastige Fragen als intellektueller Überbau", die jedoch "allesamt zu überprüfen waren an (Gott sei Dank) überaus präsenten Performern". Wie etwa Ann Liv Young, die die Zuschauer mit "nerviger, aber auch faszinierender Aggression" "mit privaten Fragen bis zur Selbstentblößung attackierte". Das sei "nicht nur provokativ und von offensiver Wut, sondern zeigt auch viel über die Mechanismen des Theaters wie Scham, Schüchternheit und Schutz der Dunkelheit". Ein Höhepunkt: die Performance von Ivo Dimchev, komisch, aber auch von "einer unheimlichen Intensität". Der Leib sei Thema der meisten Produktionen gewesen, auch in der "vorhersehbaren, sich auf das Naheliegendste beschränkenden Performance" "Libido" von Dave St. Pierre. "Überraschender, geradezu verwirrend" wirkte die Lecture-Performance von Geumhyung Jeong über ihr Coming-out als Hermaphrodit und ihre Hingezogenheit zu Baggern – "einer der Höhepunkte des Festivals, das zwar starke Darsteller, aber wenig wirklich neue Zugänge zum Verhältnis von Performer und Zuschauer bot".

 

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