altMit dem Rücken zum Publikum?

von Simon van den Berg

Amsterdam, 23. Juni 2011. Am kommenden Montag, den 27. Juni, wird das niederländische Parlament über tiefgehende Einschnitte im niederländischen Kulturetat befinden. Die Minderheitsregierung aus liberaler VVD und christlich-konservativer CDA, unterstützt durch die rechtspopulistische PVV (unter Vorsitz von Geert Wilders), beabsichtigt, den Kunstetat von rund 950 auf 750 Millionen Euro abzusenken. Diese Kürzungen sind nicht gleichmäßig verteilt. Insbesondere die darstellenden Künste (Performing Arts) werden von einer Kürzung ihres Budgets um circa 46 Prozent betroffen sein.

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Der Drahtzieher: Geert Wilders © my.myblog.de

Bevor man sich die Konsequenzen vor Augen führt, die diese Kürzungsmaßnahmen zur Folge haben, ist es notwendig, kurz die byzantinischen Strukturen der niederländischen Kunstförderung zu erläutern. Der Staat finanziert derzeit die so genannte "Basis-Infrastruktur": Museen, große Theater, Tanz- und Opernkompanien, Orchester, einige Festivals und eigenständige "Produktionshäuser", in denen junge Theatermacher ihre Arbeit entwickeln können und die gleichsam als Zentren für kleine und mittelgroße Theaterszenen fungieren.

Diese kleinen und mittelgroßen Theater- und Tanzkompanien selbst ebenso wie die Musikensembles werden durch den Fonds Darstellende Künste (Performing Arts Fund) gefördert, einem staatlichen Topf für die professionelle Darstellende Kunst. Schließlich gibt es die städtische Förderung. Kommunen unterstützen Spielorte, stocken die Budgets national geförderter Künstler mit städtischem Geld auf oder finanzieren ihre eigenen lokalen Institutionen. Die Kommunen geben jährlich rund 1,6 Milliarden Euro für die Künste aus.

Das angelsächsische Modell

Seit dem Wahlsieg der rechtsliberalen VVD im letzten Jahr war klar, dass Probleme auf die Künste zukommen würden. Die VVD, die vom jetzigen Premierminister Mark Rutte geführt wird, kündigte bereits frühzeitig im Wahlkampf an, dass tiefgreifende Einschnitte in den Regierungsausgaben notwendig würden, um die Bankenkrise zu überwinden, und dass die Künste von den Kürzungen nicht ausgenommen sein würden. Die populistische PVV, deren Unterstützung Rutte für die Regierungsbildung benötigte, ging in ihren Forderungen noch weiter und bediente sich der traditionellen anti-elitären Stimmungen, die dem merkantilistischen holländischen Herzen seit jeher nahe sind. Geert Wilders von der PVV brandmarkte Kunstsubventionen ebenso wie Auslandshilfen und die Europäische Union als "Hobbys der Linken".

Es ist wichtig zu begreifen, dass in den Niederlanden die Debatte um die Künste zwischen konservativen und progressiven Kräften nie den bekannten europäischen Auseinandersetzungen um klassische versus moderne Positionen folgte. Das politische Interesse an den Künsten ist hier traditionell vage; linke Parteien nahmen die Künste nur insoweit ernst, wie sie ihrer eigenen Agenda nahe standen (Kunst klärt auf, führt Menschen zusammen, überwindet Gegensätze etc.); rechte Kräfte betrachteten die Künste als Luxus und forderten Künstler dazu auf, sich selbst am Markt durchzusetzen oder sich einen einträglicheren Beruf zu suchen.

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Ministerpräsident Mark Rutte © brandmeup.nl

Als die Rechte im Herbst letzten Jahres die neue Regierung bildete, verkündete sie umgehend eine zwölfprozentige Reduktion der öffentlichen Ausgaben. Die VVD hat ihren klassischen Liberalismus gegen einen überzeugten Neoliberalismus getauscht, mit dem Akzent auf schlankem Staat und niedrigen Steuern. Die Künste jedoch trafen härtere Einschnitte, die Kürzungen beliefen sich schließlich auf 20 Prozent. Um sich von öffentlichen Subventionen unabhängiger zu machen, sollten die Künste bestrebt sein, mehr Einnahmen durch Publikumszulauf, aus Sponsoring und durch Patronage zu erzielen, so die These. "Die Künste stehen mit dem Rücken zum Publikum und mit dem offenen Geldbeutel zum Staat", konnte man von Ministerpräsident Rutte hören.

Dabei orientierten sich die Niederlande am Ideal des angelsächsischen Modells: In Großbritannien und den USA übernimmt der Staat nur wenige Aufgaben in der Kunstförderung und überlässt die Finanzierung der Dynamik des Marktes oder privaten Sponsoren. Gleichwohl war Ruttes politische Strategie widersprüchlich. Angekündigt wurde z.B., dass die bildenden Künste nicht mehr unter den niedrigen Steuersatz fallen sollten, der auch für Filme, Zirkus und Sportveranstaltungen gilt. Das heißt: Die Künste sollten einerseits mehr Einnahmen über den Markt erzielen, während es ihnen andererseits erschwert wurde, genau das zu tun. Ohne jede Möglichkeit, den Folgen dieser fortschreitenden Kürzungspolitik auszuweichen, setzte sich bei vielen Künstlern der Eindruck durch, dass es sich hier nicht allein um einen Politikwechsel handelt, sondern um eine Vergeltung.

Konsequenzen

In den vergangenen Monaten sind die Konsequenzen dieser Politik deutlich geworden. Der für die Kultur verantwortliche Staatssekretär Halbe Zijlstra entschied sich, das kulturelle Erbe zu schützen. Das bedeutet, die am schwersten wiegenden Kürzungen haben die darstellenden Künste zu erwarten. Dabei will er große Institutionen wie De Nederlandse Opera, Het Nationale Ballet, Holland Festival and Nederlands Dans Theater von den Kürzungen ausnehmen. Auch große Theaterkompanien wie Toneelgroep Amsterdam werden zwar Einschnitte zu erdulden haben, doch bleibt ihre Existenz gesichert.

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Die Schwerpunktsetzung auf die "Spitzeninstitute" wird das Feld darunter mit den fruchtbaren kleinen und mittleren Gruppen schrumpfen lassen. Alle Produktionshäuser werden ihre Förderung verlieren; der Etat des Fonds Darstellende Künste wird von 64 auf 27 Millionen Euro reduziert.

Erst wenn der Fonds im nächsten Jahr über die Förderanträge entscheidet, wird das volle Ausmaß dieser Streichungen sichtbar werden. Schon jetzt aber ist klar, dass die international bekannte Avantgarde-Szene um Gruppen wie die Veenfabriek, Omsk, Bambie, Wunderbaum, Orkater und Dood Paard oder Künstler wie Dries Verhoeven, Boukje Schweigman, Anouk van Dijk, Emio Greco und Krisztina de Châtel, aber auch Festivals wie Oerol und Festival a/d Werf in große finanzielle Schwierigkeiten kommen werden.

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Staatssekretär Halbe Zijlstra  © nrc.nl

Darüberhinaus hat Zijlstra beschlossen, die Mittel für das Niederländische Theaterinstitut und für Ausbildungseinrichtungen wie die Rijksacademie zu kürzen, wobei er behauptet, dass er staatliche Mittel lieber der Kunstproduktion zukommen lassen wolle als den Förderinstitutionen oder solchen der postakademischen Bildung. Viele staatliche Aufgaben, die bisher als wesentlich für das Funktionieren des künstlerischen Bereiches betrachtet wurden, will man heute dem Markt oder gar den Künsten selbst überantworten.

Und das Schlimmste kommt erst noch: Die Gemeinden müssen ebenfalls ihre Etats senken. Die genauen Beträge werden erst später im Jahr bekannt gegeben, aber generell werden Kürzungen der Kulturausgaben um etwa fünfundzwanzig Prozent erwartet. Dies wird vor allem kommunale Einrichtungen wie Musikschulen und Bibliotheken treffen.

Ab Montag: Scherben aufsammeln

Wenn sich am Montag das Parlament versammelt, werden in Den Haag massive Demonstrationen stattfinden. Angekündigt wurden Sit-Ins in Museen, Protestkonzerte und -märsche durchs Land; weiße Kreuze auf schwarzem Grund – inoffizielles Logo des Protests – sieht man bereits an Theaterfassaden und auf Facebook-Profilen. Die öffentliche Meinung allerdings war bislang nicht gerade unterstützend. Die öffentliche Kritik an den Künsten, sie seien dem Publikum entfremdet, aber süchtig nach Subventionen, war sehr erfolgreich, umso mehr da die Kürzungspläne der Regierung für andere Bereiche wie Gesundheit, Bildung und Renten sehr weit gehen.

Auch wenn die Proteste Auswirkungen auf das politische Ergebnis haben sollten, wird die künstlerische Landschaft der Niederlande grundlegend verändern werden. Große Institutionen werden dominieren, das Mittelfeld wird verwüstet sein und junge Künstler, die gerade ihren Abschluss besitzen, werden in Zukunft kaum mehr Arbeitsmöglichkeiten finden. Nachdem die Entscheidungen getroffen und die Proteste verebbt sein werden, wird die Kunstwelt die Scherben aufsammeln und sich der enormen Herausforderung stellen müssen, die Unterstützung einer breiten Öffentlichkeit zurückzugewinnen und eine neue Beziehung zur Macht aufzubauen. Das ist eine notwendige, vielleicht sogar spannende Aufgabe, aber es ist enorm traurig, wenn unterwegs so viel verloren gehen sollte.

 

Übersetzung aus dem Englischen: Christian Rakow / Georg Kasch

 

Simon van den Berg, 1975 geboren, ist ein niederländischer Theaterkritiker. Nach dem Studium in Amsterdam und Berlin gründete er 1997 die Theaterwebsite Moose (www.moose.nl). Zurzeit schreibt er für die in Amsterdam ansässige Tageszeitung "Het Parool" und ist Redakteur bei der Theaterfachzeitschrift "TM".

 

Mehr zur Theaterlandschaft in den Niederlanden können Sie auf der Webseite nachtkritik-Spieltriebe 3 erfahren.

Und man kann nichts tun? DOCH, kann man, diese Petition unterzeichnen.

In einem von vielen prominenten Theatermachern unterzeichneten Brandbrief protestieren Regisseur Stephan Kimmig und Autor-Dramaturg John von Düffel gegen die von der holländischen Regierung geplanten Kürzungen im Kulturbereich.

Mit einer Videobotschaft wendet sich Kent Nagano, Generalmusikdirektor der Bayrischen Staatsoper, gegen die drohenden Orchesterschließungen in den Niederlanden.