alt

Man sieht nur die im Dunkeln

von André Mumot

Hannover, 24. Juni 2011. Es ist ein Akt der Gerechtigkeit, aber ganz leise nimmt er seinen Lauf. Fast stumm. Immer mal wieder hört man das Knacken der Walkie Talkies, das undeutliche Aufforderungs-Flüstern, das aus den Geräten dringt. Auch ein Murmeln zwischen den Akteuren. Und dann ruft einer von ihnen plötzlich etwas, das sich anhört wie: "Maschine! Eins und zwei – 75 auf!" Woraufhin sich die Bühne ein stückweit hebt.

Etwas wie Weihnachten

Im Schauspiel Hannover hat sich für diesen Abend die Welt gedreht. Keine Schauspieler auf den Brettern und keine deklamierten Texte an der Rampe. Das Personal, das hier auftritt, bleibt sich treu und gibt sich wortkarg. Was diese Männer miteinander zu besprechen haben, während sie beieinander stehen, auf- und abtreten und sich auf die Schultern klopfen, taucht – wenigstens am Anfang noch – nur in lakonischen Übertiteln auf der Rückwand auf.

"Ich seh' gern anderen beim arbeiten zu", heißt es da einmal. "Das erinnert mich an meine Mutter." Schön ist das, weil es gleich auf sehr anschauliche Weise beschreibt, wie man sich im Zuschauerraum meistens fühlt, während man dieses gut 70-minütige "Pièce pour la Technique" beobachtet.

nachtkritik.de hat alles zum Theater. Damit das so bleibt, spenden Sie hier!

Regisseur Philippe Quesne hat es sich als Hommage ausgedacht und inszeniert. Weil er bei den Gastspielen seines Vivarium Studios für die Theaterformen 2009 so gut mit den Technikern des Schauspiels Hannover zusammengearbeitet hatte, war ihm die Idee gekommen, ihnen ein ganzes Stück zu widmen, ihre Arbeitsabläufe und ihr wohl koordiniertes Zusammenspiel zum szenischen Thema zu machen.

Dafür gibt es sogar so etwas wie eine Geschichte – was ebenfalls die Übertitel klarmachen: Die knapp zwanzig sichtbaren Herren (und eine mit Headset den Gesamtablauf koordinierende, aber selten auftauchende Frau) haben vor, eine kleine Feier auszurichten, die offenbar etwas mit Weihnachten zu tun hat. Einige dieser Schnür- und Beleuchtungsmeister, einige dieser Techniker und Requisiteure und Werkstattmitarbeiter aus den unterschiedlichsten Bereichen kommen nämlich, begleitet von sanft melancholisierender Musik, in Weihnachtsmannskostümen auf die Bühne. Und es werden auch geschmückte Bäumchen aufgebaut und am Ende einige Pakete ausgelegt.

Fast wie bei Tschechow

Vorher aber gilt es offenkundig, den vorhandenen Bühnenraum für die adventliche Frühsommer-Sause möglichst kreativ zu präparieren. Dazu wird zum Beispiel eine kleine Hütte herbeigerollt, in die sich die Herren versuchsweise hineinquetschen, die sie dann mit Birkenstämmen und ausgestopftem Reh umlagern und auf die sie atmosphärischen Schnee rieseln lassen.

piece2_philippe_quesne
© Philippe Quesne

"Fast wie bei Hänsel und Gretel", sagt der Übertitel. "Oder bei Tschechow." Und dann zündet einer das Dach an, und es heißt: "Schön. Aber nicht sehr weihnachtlich." Also: Feuerlöscher raus. Neue Idee. Eine gigantische Reproduktion vom Floß der Medusa von Théodore Géricault wird aufgefahren, von der sich die Akteure nicht entscheiden können, ob sie sie lieber links oder rechts oder mittig auf der Bühne aufbauen wollen. Sie stellen das Gemälde auch nach, werden also doch noch zu Schauspielern und machen dabei selbst den Eindruck, schiffbrüchig geworden zu sein.

In diesen Momenten sind die Techniker tatsächlich nicht in ihrem Element und man meint, die Fäden zu sehen, an denen sie der Regisseur zieht und versetzt und positioniert.

Im Aufenthaltsraum

Denn Philippe Quesne, dessen Leidenschaft es ohnehin ist, Gruppen zu inszenieren, interessiert sich an diesem Abend kaum für die mechanischen Wunder des Theaters, höchstens für die sozialen. Nicht um die Möglichkeiten der Technik geht es ihm, nicht darum, zu zeigen, was sich mit Hebebühnen und Licht, mit Farben, Requisitenstücken und Vorhängen alles anstellen lässt. Man hätte das Grundkonzept gewiss für eine hektisch pulsierende Show der Effekte nutzen können, stattdessen herrscht entspannte Schlichtheit vor.

Immer wieder hebt und senkt die Bühne sich dementsprechend, als gäbe es hier einen Organismus, der selbständig atmet und den Technikern beruhigenden Lebensraum gibt. Konsequenterweise bauen diese dann auch ihren eigen Aufenthaltsraum nach – inklusive Kühlschrank und Herd und Flipperautomat. Dann kommt noch so ein Spielautomaten-Esel hinzu, wie er eigentlich vor Supermärkten steht, der elektronisch betrieben vor- und zurückschaukelt und auf dem sich schließlich ein Mitarbeiter im Eichhörnchen-Ganzkörperkostüm niederlässt. Und das war's auch schon.

Eigenartig entrückt wirkt Quesnes poetisch zarte Samthandschuh-Behandlung, und die ritualisierten Abläufe dehnen sich hier und da ins Artifizielle. Zugleich aber ist die Idee dieser Theaterformen-Premiere vollständig entwaffnend, so bescheiden und schön und überfällig sie eben ist. Und wenn diese Akteure, deren Aufgabe es seit jeher war, im Dunkeln zu bleiben und Illusionen zu ermöglichen, mitten im Licht ihre Chipstüten und Kekspakete aufreißen, ist das in jedem Fall eine große Freude.

Und wenn sie sich verstohlen an ihre Einsätze erinnern und über sich selbst lachen müssen, wenn ihre Bierflaschen aneinander stoßen und ihre Walkie Talkies knacken, wird im Zuschauerraum die Erinnerung daran wach, dass Theater aus sehr viel mehr Leben besteht, als man für gewöhnlich zu Gesicht bekommt.

Pièce pour la Technique du Schauspiel de Hanovre
Ein Bühnenstück für Theatertechnik
Konzeption, Regie, Ausstattung und Musik: Philippe Quesne. Dramaturgie: Vivica Bocks.
Mit Mitarbeitern der Abteilungen Technik, Maschine, Licht, Ton und Requisite des Schauspiel Hannover in Zusammenarbeit mit den Werkstätten der Staatstheater Hannover

Koproduktion mit dem Festival Theaterformen

www.staatstheater-hannover.de
www.theaterformen.de


Zuletzt sahen wir von Philippe Quesne Big Bang, vor einem Jahr im Berliner Hebbel am Ufer.


Kritikenrundschau

Einer "eigensinnigen Parallelgesellschaft" wollte sich dieser Abend widmen: einer "Art proletarischer Geheimgesellschaft in dem geistigen Betrieb" Theater. So schreibt Till Briegleb von der Süddeutschen Zeitung (25.6.2011) und verortet diesen Ansatz im Oeuvre des Künstlers: "(V)erschlossene Charaktere, Liebe zur Bastelei, ästhetische Genügsamkeit, was die Dinge des Alltags angeht, und eine sonderliche Poesie der Privatschrullen" zeichne Quesnes Bühnensprache aus. Demgegenüber seien im "Pièce pour la technique" nun aber weniger die Menschen als die Requisiten die Helden, womit nicht nur "die kleine Unausgegorenheit des Abends offenbar" werde, sondern ein tiefer liegendes Problem: Frühere Werke von Quesne lebten "eben nicht nur von den sonderlichen Ideen des Regisseurs, sondern von Akteuren, die aussehen wie die Geschundenen von Sozialhilfe und Hochhausvierteln und diesen Ausdruck auch gekonnt einsetzen". Demgegenüber sei "dieser Requisiten-Slapstick weniger eine Inszenierung der Techniker als der Technik geworden – als solcher kam dies Fest aber an wie eine rundum gelungene Bescherung".

Auch Roland Mayer-Arlt stellt in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (25.6.2011) Quesnes Kunst noch einmal grundsätzlicher vor: Sie biete ein "Theater des Bastelns und Entwerfens. Im Zentrum steht das Bühnenbild. Seine Helden (meist sanfte Depressive wie aus den Romanen von Michel Houellebecq) erschaffen Welten nicht mit Worten oder Gesten, sondern mit dem Zeug, das es im Baumarkt gibt". In diesem Kontext sieht der Kritiker das neue Werk, das "weitgehend ohne Sprache, ohne Handlung, ohne Reflexion und ohne Konflikt" auskomme. "Manchmal ist das poetisch, manchmal lustig, manchmal wirkt es wie eine Verweigerung. Und mit der Zeit auch langweilig."

Nicole Korzonnek schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (28.6.2011) über das "Bühnentechnikwunderland": Das Theater werde zu einem "magischen Raum voller kindlicher Wunder". Wie in einem Märchen, das manchmal von der Realität gestört werde, wenn es zum Beispiel, einen "Kurzschluss gibt" und "die Inspizientin hektisch mit Headset auf die Bühne hetze, um Anweisungen zu geben, damit die Show weitergehen kann". Ohne groß Worte zu verlieren, zeige Quesne, dass das Theater ein "Zauberkastenmikrokosmos" sei, mit seiner Hommage an die pure Theatertechnik vermöge es Quesne "den Theaterhorizont aufzureißen".


mehr nachtkritiken