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Gemeinschaft der Verlotterten

von Esther Boldt

Hannover, 24. Juni 2011. Verzweiflung ist ein denkbar schlechter Ratgeber: Sie frisst sich tief ins Gemüt und untergräbt das Urteilsvermögen. Oder wie sonst lässt es sich erklären, dass Attila und Irén in kopfloser Hast zwei 15jährige Mädchen adoptieren, weil sie gerade erfahren haben, dass Irén nach zahlreichen Versuchen, ein Kind zu bekommen, die Gebärmutter entfernt werden musste? Sie könnten auch ein Baby adoptieren, aber die Wartelisten sind so lang, dass dies gut und gern zwei Jahre dauern könnte.

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© Gabor Dusa

Dies ist die Ausgangssituation von Béla Pintérs "Miststück", das nun beim Festival Theaterformen seine Deutschlandpremiere erlebte. Mit schwarzem Witz und minutiöser Genauigkeit zeigen der ungarische Autor, Regisseur und Schauspieler und seine Compagnie Eskalationen in einem dörflichen Mikrokosmos.

Im Waisenhaus nimmt das kinderlose Paar in einer Mischung aus Willkür und Panik die erstbeste mit, die sie kriegen können: Rózsi, das titelgebende Miststück mit den hässlichen Zähnen (Zsófia Szamosi). Doch sie kann nicht ohne ihre Romafreundin Anita (Éva Enyedi) gehen, mit der sie ein Blutschwur verbindet. Also bringen Attila (Zoltán Friedenthal) und Irén (Tünde Szalontay) anstelle eines süßen Babys zwei Teenager mit Stringtangas unter knallengen Jeans in ihr Heimatdorf.

Keine Provinzposse

Aus den Blutsschwestern werden erbitterte Feindinnen, die um die Zuneigung der Adoptiveltern wetteifern. Durch einen Jahreszyklus verfolgen Pintér, seine Schauspieler und Musiker das Schicksal dieser seltsamen Familie und ihres Dorfes. Mit eindringlicher Intensität und gelegentlicher Abstraktion spielt das beeindruckende Ensemble auf einem leeren Bühnenstreifen, ihre wenigen Möbel und Requisiten bringen die Schauspieler selbst mit.

Begleitet und kommentiert wird das Geschehen von einem barfüßigen Flötisten, der im Hintergrund auf einem Hochsitz hockt. Ohnehin wird viel gesungen und musiziert in diesem Stück, eine Folklore, von der man sich nicht täuschen lassen darf: Denn dies ist keine Provinzposse.

Mit boshafter Überzeichnung erzählen Béla Pintér und seine Company von egoistischen, froststarren Menschen, die weder Empathie noch Liebe für ihre Nächsten empfinden können – ja, wohl noch nicht mal für sich selbst. Dennoch oder gerade darum gehen ihnen Liebesbezeugungen von den Lippen, als wögen sie nichts. Attila und Irén sind gierige Kapitalisten, wie der Dorfbewohner Béla einmal sagt, die alles haben wollen, was sie kriegen können – gestillt sei ihr Hunger nie.

Risse im sozialen Gefüge

Hinter der vorgeblichen Verdorbenheit der Heimkinder stehen ihre Möchtegern-Eltern kaum zurück: Die Zigeunerin Anita stiehlt und lügt, und wenn alles nichts hilft, dann legt sie einen erbarmungswürdigen Heulkrampf hin. Die zornige Rózsi hat einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit, sie macht für jeden die Beine breit und weiß nicht, wie sie ihre Gefühle artikulieren soll. Es ist herzzerreißend, wenn sie ihren Adoptiveltern ein großes Geschenk macht: Sie hat sich ihre Namen auf die Brust tätowieren lassen. Nach langer Überlegung den von Irén auf der linken Seite, über ihrem Herzen, wegen ihrer Güte.

Doch ihre Liebesbezeugung erntet bloß stilles Entsetzen, stocksteif stehen Attila und Irén da. Er fasst sich schneller und geht zum Angriff über: Er habe ja ohnehin mit ihr reden wollen, denn sie könne sich ihre Zähne doch machen lassen, er habe sich erkundigt… verletzt stürmt Rózsi hinaus, und die Grausamkeit geht ins Mark.

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Das Erscheinen der ungleichen Blutsschwestern macht Risse im sozialen Gefüge sichtbar. In Pintérs Parabel sind es die Indikatoren, die auf grundsätzlichere Übel zeigen: auf eine überalterte Gesellschaft, auf Fremdenhass und blinde Selbstsucht. Unzuverlässige Charaktere sind diese verlotterten Dörfler mit ihren harmlosen Visagen. Dabei schienen sie doch am Anfang nette, harmlose Mitmenschen zu sein, die sich umeinander sorgten.

Gefühlsverkommene ohne Rückgrat

Raffiniert entblättert Pintér allmählich ihre Abhängigkeits- und Machtbeziehungen, offenbart ihre Korruptheit: Jeden Moment kann sich der Wind drehen, in den ein jeder von ihnen sein Meinungsfähnchen hängt. Erschütternd bekannt kommen einem diese Gefühlsverkommenen mit ihrem wachsweichen Rückgrat vor, von denen ein jeder nur auf seinen eigenen Profit schielt mit bestechender Unfähigkeit, sich anders zu verhalten. Repräsentieren sie ausschließlich den Rechtsruck in Ungarn? Oder sind wir globalisierten Schwerarbeiter und Allesverschlinger, fragt man sich nachher, alle solch korrumpierten Krüppel?

Das Rotzgör Rózsi wird zu ihrem Opferlamm und Sündenbock. Sie ist die Hexe mit den schlechten Zähnen, und da hilft es nichts, dass sie diese unterdessen hat richten lassen. Sie ist diejenige, die immer stört, diejenige, die trotzig ihren Finger in die Wunde legt und schließlich zur Rechtsradikalen wird, weil sie all das nicht mehr erträgt. Doch da ist es schon längst zu spät. Sie ist diejenige, die sterben muss für ihrer aller Schuld.

 

Szutyok – Miststück
von Béla Pintér
Regie: Béla Pintér, Musik: Róbert Kerényi, Kostüme: Mari Benedek, Bühne: Gabor Tamás, Masken, Puppen: Susa Juristovszky, Licht: Zoltán Videa.
Mit: Zsófia Szamosi, Tünde Szalontay, Szabolcs Thuróczy, László Quitt, Györk Szakonyi, Hella Roszik, Béla Pintér.

www.theaterformen.de

 

Mehr vom Festival Theaterformen 2011 in Hannover? Philippe Quesne zeigte sein neues Stück Pièce pour la Technique du Schauspiel de Hanovre. Die Eröffnung bestritt Brett Bailey mit seiner mythischen Reise Orpheus.

 

Kritikenrundschau

In der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (27.6.2011) schreibt Stefan Arndt: Das Stück wirke "manchmal wie ein Märchen", sei aber auch "ein Sozialdrama, das von der Kälte erzählt, die sich von einer Kindheit im Waisenhaus auf das ganze Leben ausbreitet". Überies sei "Miststück" hochpolitisch, weil es zeige, wie eine junge Frau Teil der „Ungarischen Garde“ werde, deren Einfluss in Ungarn derzeit beängstigend wachse. Dann wiederum entpuppe sich der irgendwie auch "nostalgische" Abend als "herzhafte Groteske" oder als "Parodie". "Miststück“ sei eine Collage, die auf deutschen Bühnen "so hochdosiert" längst nicht mehr anzutreffen sei. Alles sei "recht drastisch", aber alles werde "humorvoll und mit Hintersinn erzählt" und von einem "wunderbar lebendigen Ensemble getragen".

 

 

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