Europa würde entscheidende Theaterleute missen

25. Juni 2011. Der Regisseur Stephan Kimmig und John von Düffel, Autor und Dramaturg am Deutschen Theater Berlin, haben an die Fraktionsvorsitzenden der holländischen Parteien, an den Kultusminister und den Premierminister sowie an alle Kulturredaktionen des Landes einen Offenen Brief verschickt, in dem sie sich über das Ausmaß der angekündigten Kürzungen im Kulturbereich der Niederlande schockiert zeigen und an die Regierung appellieren, ihre Pläne zu überdenken und die "Infrastruktur zu erhalten, die notwendig ist, um die Grundbedingungen von Innovation und Kreativität in den Niederlanden und somit auch in Europa zu gewährleisten".

Neben den Verfassern haben weitere prominente Persönlichkeiten des deutschsprachigen Theaterbetriebs den Brief unterzeichnet, namentlich

Ulrich Khuon (Intendant des Deutschen Theaters Berlin)
Klaus Zehelein
(Präsident des Deutschen Bühnenvereins)
Jürgen Schitthelm
(Direktor der Schaubühne Berlin)
Armin Petras
(Intendant des Maxim Gorki Theaters Berlin)
Jack Kurfess
(Geschäftsführender Intendant des Schauspielhauses Hamburg)
Michael Börgerding
(Direktor Theaterakademie Hamburg, designierter Intendant des Theaters Bremen)
Lars-Ole Walburg
(Intendant des Staatstheaters Hannover)
Wilfried Schulz
(Intendant des Staatsschauspiels Dresden)
Karin Beier
(Intendantin des Schauspiels Köln)
Oliver Reese
(Intendant des Schauspiels Frankfurt)
Hasko Weber
(Intendant des Schauspiels Stuttgart)
Martin Kusej
(Intendant des Bayerischen Staatsschauspiels München)
Regina Guhl
(Chefdramaturgin des Schauspielhauses Graz)
Lukas Bärfuss
(Autor und Dramaturg am Schauspielhaus Zürich)

Im Folgenden dokumentieren wir den Brief im Wortlaut.

(wb)

 

An den Staatssekretär für Erziehung, Kultur und Wissenschaft,

Herrn Halbe Zijlstra

Wir sind schockiert über das Ausmaß der Kürzungen im Kulturbereich, die das holländische Kultusministerium angekündigt hat. Die Auswirkungen dieser Kürzungen auf den Zustand und das Ansehen der holländischen Kulturlandschaft innerhalb des europäischen Kontextes werden verheerend sein.

Die reiche und vielseitige Kulturszene Hollands gilt in ganz Europa als ein leuchtendes Beispiel für künstlerische Exzellenz. Im Bereich der Darstellenden Künste ist dieses außerordentliche Ansehen vor allem der großen Innovationskraft und mutigen Arbeitsweise der vielen kleinen und mittleren Kompanien zu verdanken, die konsequent am möglichen Vokabular des Schauspielers des 21. Jahrhunderts arbeiten sowie permanent neue Blickwinkel von Darstellungsweisen theatraler Wirklichkeit erforschen und entwickeln. Diese Recherche leistet einen großen Beitrag zur inszenierten Wirklichkeit heute auf den europäischen Bühnen. Und gerade diese Gruppen werden von dem Kürzungsvorhaben der Politik nun am härtesten getroffen! So wäre ein Lebenslauf wie der von Johan Simons, dem langjährigen Direktor der Theatergruppe Hollandia, der im Jahre 2000 den europäischen Theaterpreis in Taormina gewonnen hat und heute Intendant der Münchner Kammerspiele ist, nicht mehr möglich. Denn die Zeit des Experimentierens und Findens einer außergewöhnlichen eigenen Theatersprache hätte weder Ort noch Zeit. Europa würde einen entscheidenden Theatermann missen. Gleiches gilt für Judith Herzberg, die europaweit renommierte Dramatikerin, deren erste Stücke von Gruppen uraufgeführt wurden, die es nach diesen Kürzungen nicht mehr geben würde.

Die wohl balancierte Förderstruktur der Theater-, Performance- und Tanz-Szene Hollands ist die Lebensbedingung der Qualität und Einzigartigkeit des holländischen Theaters sowie seiner internationalen Bedeutung. Holländische Produktionen und Inszenierungen reisen über die nationalen und europäischen Grenzen zu Theatern und Festivals weltweit. Sie haben die internationale Theatersprache bis heute immer wieder neu inspiriert und geprägt.

Die geplanten Kürzungen von 200 Mio. Euro im Jahr werden diesen dynamischen, innovativen Sektor stark beeinträchtigen und kommen einem Kahlschlag, einer Vernichtung gleich. Sie werden katastrophale Folgen für die Kulturlandschaft in den Niederlanden und innerhalb der Europäischen Kulturgemeinschaft haben – und das zu einer Zeit, wo der kulturelle Austausch und die Verständigung innerhalb der Gemeinschaft wichtiger sind denn je. Europa hat eine über zweitausend Jahre alte gemeinsame kulturelle Geschichte und ist keinesfalls nur ein zerbrechliches Gefäß für den Euro.

Außerdem sind diese Kürzungen extrem kurzsichtig: Für relativ wenig Geld ist die holländische Theaterszene eine Kreativwerkstatt von künstlerischer Exzellenz, Innovation und Toleranz, auf die Ihr Land mit Recht stolz sein kann. Die pauschalen Kürzungen von 56% im Theaterbereich und 40% im Tanzbereich werden die Darstellenden Künste in Holland über Jahre hinweg beschädigen. Denn wenn gewachsene Strukturen zerstört werden, sind sie nicht ohne weiteres wieder aufzubauen. Und es scheint mehr als fragwürdig, weshalb gerade konservative Politiker die Zerschlagung kultureller Werte betreiben sollten, anstatt sie zu bewahren.

Der Markt und privates Sponsoring sind nicht die schnelle Lösung, für die der Staatssekretär und der Ministerpräsident sie halten. Eine privat finanzierte Förderstruktur wächst nicht über Nacht, sondern über Generationen und muss durch eine entsprechende Steuergesetzgebung von Anreizen und Vergünstigungen unterstützt werden.

Wir wissen alle, dass die Künste angesichts der großen Haushaltslöcher ihren Teil der Einsparungen leisten müssen und davon nicht verschont werden können. Doch Kürzungen von diesem Ausmaß bedrohen die Lebensfähigkeit dieser Kulturlandschaft und werden in ganz Europa spürbar sein.

Wir, die Unterzeichner, bitten den Staatssekretär für Kultur, Herrn Halbe Zijlstra und die Mitglieder des niederländischen Parlaments, das Ausmaß und die Verteilung dieser Kürzungen noch einmal zu überdenken und die Infrastruktur zu erhalten, die notwendig ist, um die Grundbedingungen von Innovation und Kreativität in den Niederlanden und somit auch in Europa zu gewährleisten.

 

Jeder kann gegen die niederländischen Kukturkürzungsvorhaben etwas tun: Hier kann man eine Petition unterzeichnen!

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Was in den Niederlanden läuft kann nur als "Kulturkonterrevolution" bezeichnet werden. Die Regierung verkündet, sie wolle eine "Kulturumschlag", einen Systemwechsel. Eine sehr verspätete Reaktion auf die "Actie Tomaat" von 1968. Scheint so, als müssten nun Tomaten auf Politiker statt auf Schauspieler geworfen werden. Wo bleibt die Hollandtomate? Verwandelt Politikerperformer in Clowns!
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