alt

Hannover, 26. Juni 2011. Traurig sieht er aus, dieser Mann, der im Anzug auf seinem Bett hockt und vor sich hinstarrt, als hätte nichts mehr einen Sinn. Man möchte gleich wissen, was los ist mit ihm. Und das ist schon mal wunderbar, denn, neben vielem anderen, soll es doch auch darum gehen bei so einem internationalen Festival des Theaters: Figuren, Gestalten, Charaktere. Der Mann sitzt da nun also, starrt vor sich hin, und vor ihm auf dem Schlafzimmerboden liegt ein gestrandeter Delphin. Was für ein Bild. Aber beide, Mensch und Tier, bleiben stumm, und überhaupt sind sie nur wenige Zentimeter groß. Auch ihre Bühne ist winzig, nur so eine Art Schuhkarton, und man muss sich an einen wahrlich abwegigen Ort begeben, um sie überhaupt zu finden.

gpid_1_ship_o_fools__cardiff_and_miller-jpg
Das Ship o' Fools  © Cardiff & Miller

Das "Ship o' Fools", das die in Berlin lebenden Kanadier Janet Cardiff und George Bures Miller gebaut und belebt haben, steht in Hannover – ebenfalls gestrandet und aufgebockt, wie eine Miniaturvariante der alten Arche – auf dem ziemlich weitläufigen Platz der breit und gewichtig aufragenden Oper.

Eine winzige, schrullige Nebenspielstätte der Theaterformen, aus der es dampft und aus der komische ratternde, verdammt neugierig machende Geräusche dringen. Man besteigt sie über Treppen, kriecht unter Deck und bezahlt einen (wohl hauptsächlich symbolisch gemeinten?) Euro dafür. "Der best angelegte Euro seit Ewigkeiten", sagt dann später eine Besucherin. Sie mag recht haben.

Jede Menge Weltbewegendes gibt es bei diesem Festival, das einen Schwerpunkt auf den Nahen Osten legt in diesem Jahr und überhaupt ganz viel Gegenwart nach Hannover holt, viele Sprachen und auch viel Musik und natürlich auch performative und interaktive Aktionen. Man kann zum Beispiel im Schauspielhaus-Foyer am "Europoly" teilnehmen, auf einem überlebensgroßen Spielfeld über LOS gehen und sich auf die EU-Staatsbürgerschaft zubewegen. Zum Beispiel indem man sich Berufe kauft und sich nicht prostituiert. Dejan Kaludjerovic hat sich das ausgedacht, und so wirklich mitmachen will man dann eigentlich lieber doch nicht, weil einem die Message schon von weitem so aufgeregt entgegen winkt.

Ins eskapistische Narrenschiff zu steigen, ist aber ganz was anderes. Denn im Schiffsbauch sieht es aus, als hätten Jean Tinguely und Terry Gilliam eine düster-wilde Deko-Party veranstaltet. Eine Unzahl kleiner mechanischer Apparate, Gefäße und Schaukästen überfüllen in diffusem, leicht gruseligem Halblicht den engen Raum und präsentieren eine kostbar kauzige Kette von Installations-Wundern. Stimmen kauderwelschen von irgendwo, Planken knarren, eine mechanisch betriebene Geige knarzt und quietscht. Ach, da sind künstliche Blüten, die sich ratternd öffnen und schließen, tote Minibäumchen, an denen eine Art Strick zum Erhängen baumelt, auch schwankende Wasserbassins wie aus Frankensteins Lebenserweckungs-Labor. Und jene kleinen Püppchen auf ihren Mini-Bühnen.

k6c2_2_ship_o_fools__cardiff_and_miller-jpg
Im Bauch des Ship o' Fools.  © Cardiff & Miller
 

 

 

Eine Frauen-Figur ist zum Beispiel dabei, die in Panik nach oben starrt, von wo aus sie ein Lichtkegel trifft. Gleich landen die Außerirdischen, und sie werden sie mitnehmen und bei sich Zuhause als Forschungsobjekt missbrauchen. Ganz bestimmt. Und dann sitzt da ja immer noch der schwermütige Mann auf seinem Bett. Der hat es privat ganz bestimmt nicht leicht gehabt in letzter Zeit, und vor ihm liegt der Delphin, und die beiden haben nichts – aber auch nicht das Geringste – mit der Wirklichkeit oder der EU zu tun. Die Welt wird woanders bewegt, und - bitte nicht falsch verstehen! - das muss sie auch, sie hat es nötig. Doch wenn der Aufführungs- und Diskussions- und Kritik-Trubel erst einmal durchgestanden ist, wird man sich auch an diese realitätsfernen Bühnen-Gestalten im Bauch des Schiffes erinnern. Sie werden Helden gewesen sein inmitten all des Welttheaters. Schweigende.

(André Mumot)

 

Mehr: Dagmar Walser hat mit Janet Cardiff und Georges Bures Miller gesprochen, für die Sendung Reflexe des Schweizer Senders DRS 2 (25.6.2011): Kunstkritik sei das, was hier geboten werde. Und eigentlich hätten sie ein Percussionsinstrument geschaffen, in der man die Zeit vergisst und sich selbst verliert.

Kommentar schreiben