Das soll Sittenverfall sein?

von Anne Peter

Hamburg, 27. Oktober 2007. "Ääähm... Maß für... ähh... Maß", stellt Lucio nach der ersten Szene noch mal klar, was hier gespielt wird. Fettige Haarsträhnen hängen ihm durchs Gesicht bis auf das ranzig grüne Samtjackett, in dem schlaff die langen Arme baumeln. Später lacht er dann bei jedem Auftritt ein schmieriges Lachen. Das klingt auch so: "Ähe ähe ähe". Ein müde dreckiges Lachen, in dem von Lust nichts zu spüren ist.

Lucios Erscheinung, sein Lachen sind symptomatisch für den ganzen Abend im Hamburger Thalia Theater, bei dem eigentlich kaum etwas komisch gelingt, nichts lustvoll, das meiste flach.

Shakespeares "Maß für Maß" wird meist als Komödie verbucht, jedoch als dunkle Komödie, als Problemstück. Doch so richtig komisch sind allein die Szenen um Lucio und das Bordellpersonal. Ansonsten haben wir es mit einem düsteren Spiel um Macht, Recht und Gnade zu tun, in dem das Verhältnis von Moral und Trieb verhandelt wird, das die vorgeblich aufrechte Menschennatur immer wieder gnadenlos an den Abgrund treibt.

Keine Komödie

So ist es keine allzu große Entdeckung, wenn Regisseur Stefan Bachmann uns dann in einem gähnend schwarzen Bühnenraum (Steffen Schmerse) auf schräg gekipptem Holzrund zeigt: dieses Stück ist gar keine Komödie. Ebenso wenig kann er mit der Idee überraschen, Herzog Vincentio und Co. in Anzüge zu stecken und als skrupellose Politiker von heute vorzuführen. Obwohl Stephan Schads kabarettistisches Talent dem Publikum im Saal immerhin ein paar Lacher entlocken kann. Das Adamskostüm kleidet dann – auch hierauf ist man gefasst – die unverhofft Triebhaften: den voreiligen Claudio, der seine Braut schwängert, bevor er ihr ordentlich "Ja" gesagt hat, wie den räudig werdenden Moralapostel Angelo.

Die herzogliche Macht kommt am Anfang per Hubschrauber bzw. entsprechendem Soundeffekt plus Windmaschine eingeflogen. Im Geratter und Geblase gehen die herzoglichen Unterweisungen an Stellvertreter Angelo unter. Der Bevollmächtigte glotzt ratlos ins Publikum. Und schreitet learning-by-doing gleich zur ersten Amtshandlung: dem Todesurteil über Claudio. Dessen Schwester und Novizin Isabella soll dann mit heißer Gnadenbitte bei Angelo alles richten.

Schamvoll gesenkter Blick

Dieser jedoch verfällt ihr, seinem Spiegelbild an reinheitsfanatischer Zugeknöpftheit (es entsprechen sich sein weißer Rolli und ihre hochgeschlossene Nonnen-Tracht), und macht ihr das unmoralische Angebot, mit einer Liebesnacht den Bruder freizukaufen.

Nun muss man eine Figur wie Isabella, der ihre jungfräuliche Reinheit das allerhöchste Gut ist, in einer Inszenierung, die ansonsten Insheuteholung erstrebt, irgendwie plausibel machen. Da hilft es ziemlich wenig, sie als Nonne zu kostümieren und den Großteil des Textes mit gefalteten Händen und schamvoll gesenktem Blick sprechen zu lassen. Zumal Maren Eggert diesen wandelnden Anachronismus mit denkbarster Ernsthaftigkeit ausfüllt, die kein Aus-der-Rolle-Fallen gestattet.

Auch die Gewissensbisse, die Norman Hacker als sexuell erweckter Tugendbold zu spielen hat, werden nicht plausibler, wenn er sich dafür die Kleider vom Leibe reißt und nackig in einer eigens bereiteten Pfütze Pfui-Teufel-schreiend seine für uns eigentlich erstmal nicht weiter problematischen Gelüste abzuwaschen versucht.

Zuhälter mit Pimmelnase

Das Engelsflügel-Tatoo auf seinem Rücken hilft da auch nicht weiter. Reiner Gag. Ähe ähe ähe. Überhaupt weiß man nicht so richtig, welches Problem diese Inszenierung eigentlich haben oder verhandeln will. Sie schlendert – äähm – von einer Ratlosigkeit zur nächsten. Und streut zwischendurch hier oder dort mal einen Regieeinfall ein, was in der Regel weder Zusammenhang noch Erhellung stiftet. Zur Henkersprobe wird einer Puppe effektsicher der unechte Kopf zermanscht: ein Plädoyer gegen die Todesstrafe? Der Zuhälter trägt Pimmelnase, tuntige Männer geben nuttige Frauenzimmer. Das soll Sittenverfall sein?

Bei Shakespeare weisen die Betrüger und Betrogenen auf den allgemeinen Werte- und Moralsumpf, auf dem die gesamte höfische Gesellschaft steht; Bachmann behauptet dagegen einen Wertezerfall, ohne zu zeigen, was überhaupt verloren geht: Es gibt für ihn keine Gesellschaft, die er kritisiert, er kennt nur Politiker-Knalltypen, weshalb das vorgeblich Verkommene kaum mehr als ein schlappes Stöhnen ist, um das der Herzog kein so aufwendiges Versteck- und Intrigen-Spiel inszenieren müsste. Zwischendurch darf der übrigens auch mal ein Elvis-Lied rocken. Weil er hier der "King" ist? Ähe ähe. Wenn man an diesem Abend nur einmal "aha!" sagen könnte.


Maß  für Maß
von William Shakespeare
Regie: Stefan Bachmann, Bühne: Steffen Schmerse, Kostüme: Esther Geremus, Musik/Gitarre: Felix Huber. Mit: Maren Eggert, Norman Hacker, Andreas Köhler, Jörg Koslowsky, Markwart Müller-Elmau, Axel Olsson, Stephan Schad, Hartmut Schories, Alexander Sim.

www.thalia-theater.de

 

 

Kritikenrundschau

Dem "schwierigen und zynischen Stück" habe Bachmann "nicht viel mehr Kontraste hinzugefügt, als ohnehin schon angelegt sind", schreibt Frauke Hartmann (Frankfurter Rundschau, 30.10.): "Die Dichotomie zwischen Herrscherfiguren und liederlichem Volk hat er in die graue Anzugträgerwelt der Führungselite übersetzt." Am meisten beeindrucke noch die "akustische Hubschrauberlandung auf der leeren Bühne". Warum aber, fragt sich die Kritikerin, werden die Vertreter der "bunten, verschlagenen Welt der Kuppler und Bettler" als "schwanzfixierte Drogenabhängige" gezeigt? Schauspielerisch sei der Abend gut, bleibe aber genau da "hängen, wo er hätte weitergehen können, an den sehr guten Schauspielern und den sehr unterhaltsamen Regie-Einfällen."

Laut Christopher Schmidt (Süddeutsche Zeitung, 30.10.) ist Stefan Bachmann "unter den Regievoluntaristen der blondeste und blauäugigste". Er habe einen "nicht unintelligenten, schauspielerisch nicht unbefriedigenden Abend" inszeniert, den man aber nur mit "doppelten Negationen rühmen" könne, "weil er sich mehr durch das Unglück, das er vermeidet, auszeichnet als durch das Glück, das er gewährt". Bei all seinen "Tugenden" fehle dem Abend "eine entscheidende: Energie". "Einmal", erzählt der Kritiker, "wird einem Delinquenten mit einem Vorschlaghammer der Schädel zertrümmert. Zum Glück war's nur eine Melone." Doch sie mache "aus einem alten Schinken noch kein Hauptgericht. Kalt abgespeist verlässt man das Theater, noch sehr rechtzeitig, um sich in die Harry-Potter-Schlange vor der Bahnhofsbuchhandlung einzureihen."

Mit "souveränem Zugriff" habe Bachmann das Stück als "liebevoll verdichtetes Menschheitsmärchen" interpretiert, meint Irene Bazinger (FAZ, 29.10.). Denn "ohne Umstände und Schnörkel" lasse er das "hingebungsvolle Ensemble" und einen "fabelhaften" Norman Hacker eine "schwerelos pointierte Inszenierung" spielen. Bachmann zeige dabei, was Shakespeares "nachtschwarze Komödie" bis heute "so utopisch" wirken lasse, auf dass man "unwillkürlich" lachen müsse: die "raffinierte" Versöhnung "konträrer Ideale in Bezug auf Schuld und Sühne". Am Ende der Inszenierung tauchten die "Hallodris" ins "Dunkel wie in unser kollektives Unbewusstes und werden da einfach weitermachen. Ob es uns passt oder nicht."

Die Problemkomödie dürfe laut Stefan Grund (Die Welt, 29.10.) als "Nagelprobe der Regiekunst" gelten, "denn Shakespeare stellt in großer philosophischer Weisheit die Rechtsempfindlichkeit dem Moralempfinden gegenüber". Stefan Bachmann habe diese Probe "mit Bravour" bestanden. Dabei steige er "keineswegs maßvoll in das Stück ein". Und so erzähle er bis zum Schluss: "zügig, konsequent, in klaren, eindrucksvollen Bildern von Macht und Ohnmacht". Wie etwa der Herzog als "routinierter Politiker" spricht und auftritt, "der resigniert in einem abgehackten Modus weise Worte als Perlen vor sein Volk wirft", werde man gezwungen, "den Shakespeare-Text neu zu hören", was Herr Grund auch "mit Genuss" getan hat, obwohl der Abend "keinesfalls an schwer verdaulichen Gestalten" spare.

Auch Klaus Witzeling (Hamburger Abendblatt, 29.10.) will ein "Meisterstück der Regie" gesehen haben, werde die Komödie doch als "bissige Sozialsatire im Hier und Heute" gezeigt: "Zwanglos gewinnt Bachmann Shakespeares konstruiert und verworren wirkendem Intrigen-Stück Aktualität und Assoziationsfülle durch stringente Interpretation, kluge Straffung und zeichenklare Inszenierung" ab. Schon der Beginn gelinge ihm "furios": "Der Herzog schwirrt ohrenbetäubend im Hubschrauber ab und lässt den Stellvertreter ratlos im Rotorenwind zurück." In den folgenden zwei Stunden sehe man eine "unterhaltsame Parabel" über "Macht und wie sie Politiker verleitet, sich über die Gesetze zu stellen", eine Parabel, die "erschreckend wie komödiantisch" zwischen "kruder Groteske, ulkigem Slapstick und nackter menschlicher Tragödie oszilliert".

Stefan Bachmann habe, schreibt Werner Theurich (Spiegel online, 28.10.), "eindeutig die brutal-komische Seite der Shakespeare-Hölle favorisiert". Auf der "klugen" Bühne würden dabei "die Kernszenen stets aus der Handlung hervorgehoben", was einen "effizienten Minimalismus" ergebe. Und wenn Norman Hacker als Angelo ("brillant") nackt vor Isabella auf dem Boden liege, sehe der Zuschauer "Shakespeare pur". Vincentio sei (Stephan Schad: "kraftvoll") dagegen ein "müdes Klischee". Dennoch beweise diese Inszenierung ("brillant"), wie gut Bachmann als Nachfolger von Ulrich Khuon als Intendant "gepasst hätte". Weil nun aber Joachim Lux vom Burgtheater Wien komme, bleibe es "spannend am Thalia".

 

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