Immer noch Sturm (UA) - Dimiter Gotscheff inszeniert Peter Handkes Ritt durch die Geschichte seiner Familie im 20. Jahrhundert
Ein Traumspiel, was sonst
von Hartmut Krug
Salzburg, 12. August 2011. Leer und düster die Bühne, schwarz die Wände. Ein Mann, den Hocker in der Hand, schafft sich im Erzählen (s)eine erinnerte, gedachte, bedachte Welt. Familiengeschichte und Geschichtsgeschichten fügen sich auf der Bühne zu einer Suchbewegung der Bedeutsamkeit nach einer möglich gewesenen Realität. Doch die Figuren, die sich aus dem Dunkel um den Erzähler, um das Handkesche Ich gruppieren, bebildern sich bis zur Überdeutlichkeit selbst. Sie haben keine Geheimnisse, sind immer nur Erklärungen.
Es wird viel geredet und geraunt in dieser Inszenierung, die unendlich lang und langsam ist. Und Jens Harzer kreist denkend und manieriert sprechend immer wieder über die Bühne, in sich und zu Boden gekehrt und dabei doch zugleich immer uns zugewandt. Ein Rampenredner einer neuen Art. Und es wird gespielt, mit Schauspielergesten wie aus alten Zeiten, als die direkte Als-ob-Spielerei noch geholfen haben mag.
Es ist schwer zu beschreiben – zumal gleich in der Nacht nach einem so schwerfällig langen, kompliziert ausgedachten Abend – wie sich die Spielweise der Inszenierung, während Regisseur und Darsteller nach einem eigenen erzählenden Duktus suchen, in der allergewöhnlichsten, tiefgründelnden Oberflächlichkeit verliert.
Prosa als Pose
Man steht, erklärt, bricht aus in Gestik, geht zurück in Verhaltenheit. Was bei Handke in der Sprache geschieht, in einer eigenen, poetisch wunderbar verschrobenen Sprache, und dabei zugleich die Suche der Menschen nach der Bewahrung der eigenen Sprache versinnlicht, das wird von den Darstellern auf der Bühne, obwohl oder gerade weil sie auch zu geheimnisseln suchen, in die überdeutliche Pose überführt.
Vielleicht ist es ein Irrtum, Handkes bei der Lektüre so aufregend offene Prosa in die direkte Versinnlichungsmaschine des Theaters stecken zu wollen. Heraus kommt Prosa als Pose. Da mag Bühnenbildnerin Katrin Brack noch so viel Poesie zu zaubern versuchen, indem sie während der fast fünf Aufführungsstunden aus dem Bühnenlicht im Scheinwerferstrahl unentwegt grüne Papierschnipsel regnen lässt, (und wer mag, kann sich dabei manch metaphorische Bedeutung denken, es aber auch lassen).
Schließlich ist die Bühne eingegrünt und fingertief bedeckt, – und der Erzähler rutscht, wie erwartbar, auf dem Schnipselteppich mehrfach und artistisch aus.
Dimiter Gotscheffs Inszenierung von Handkes Erzählung wird, indem sich die Figuren zur geheimnisvoll-geheimnislosen Deutlichkeit verwirklichen, zur reinen Erklärungsmasche und -maschine. Die allzu lang und langsam arbeitet. Man ertappt sich immer wieder dabei, dass man sich im grünen Papierregen meditativ verliert und das langsame Erzählen, Erklären, Erspielen, dieses bedächtig Wichtigtuerische der Figuren, darüber fast vergisst. Dass man sich langweilt und aus der Bühnenerzählung verabschiedet, – wo man doch die Erzählung oder den Roman oder den Traum bei der Lektüre nie verließ.
Zwischen Traum und Trauma
Wenn Handke seine slowenischen Vorfahren, beginnend 1936, durch das vergangene Jahrhundert schickt, indem er sie aus seiner Erinnerung in die (Selbst)Konstruktion holt, dann bleibt sein Text stets leicht, fast schwebend. Wenn Handke beschreibt, wird vor allem gesucht, nach Sprache, nach Erinnerung, nach Möglichkeiten, nach, ja, Wahrheiten. Und nach den Figuren der eigenen Familiengeschichte im Sturm der politischen Ereignisse, in dem man sich verhedderte zwischen Widerstand und Anpassung. Es ist ein komplexes Traum- und Trauma-Spiel, das Handke geschrieben hat.
Gotscheff inszeniert viele Gruppenbilder mit Ansage: Wenn in der Bühnenmitte von einem Sohn erzählt wird, der beim Militär ist, marschiert dieser "natürlich" im Hintergrund an der Bühnenseite unterm Stahlhelm auf der Stelle, die Knie fast unters Kinn hebend. Wenn ein Onkel erzählt, was er von den Engländern mitbekommen hat, nämlich die Namen von Fußballklubs, dann tanzt er uns diese begeistert vor, und wenn des Erzählers Mutter als Meisterin des Auslachens bezeichnet wird, führt sie diese Fähigkeit in einer langen Orgie vor.
Schürfen im Grundsätzlichen
Zwei Musiker untermalen, unterstreichen und erklären das Geschehen auf ihre Art und sind dabei so virtuos wie die Schauspieler. Aber auch das hilft dem Abend nicht. So wenig wie der unendliche, durch Geschichte, Welt und Krieg und weiterhin Sturm im Grundsätzlichen schürfende Schlussmonolog, den Jens Harzer in langen Kreisen auf der Bühne und durch den Text mäandern und versickern lässt.
Ein ambitioniert scheiternder Abend, mit vielen guten Schauspielern auf vergeblicher Suche. Mit allzuviel Ehrfurcht vor Handkes Text, der vor allem schauspielerisch nachbebildert wird, diesmal wohl ganz ohne ein Heiner-Müller-Zitat.
Respekt durchaus, das schon.
Immer noch Sturm (UA)
von Peter Handke
Regie: Dimiter Gotscheff, Bühnenbild: Katrin Brack, Kostüme: Ellen Hofmann, Musik: Sandy Lopicic, Licht: Paulus Vogt, Dramaturgie: Beate Heine, Mitarbeit Fassung: Ivan Panteleev.
Mit: Jens Harzer, Oda Thormeyer, Tilo Werner, Hans Löw, Bibiana Beglau, Heiko Raulin, Gabriela Maria Schmeide, Matthias Leja, Musiker: Sandy Lopicic, Matthias Loibner.
www.salzburgfestival.at
www.thalia.de
Was sonst noch geschah in Salzburg? Nicolas Stemann zeigte einen totalen Faust, also der Tragödie erster und zweiter Teil. Roland Schimmelpfennig inszenierte die Uraufführung seines Stücks Die vier Himmelsrichtungen.
Salzburg feiere mit Handkes "Immer noch Sturm", seinem "persönlichsten und zugleich universellsten" Text, die Heimkehr des verlorenen Sohns, schreibt Christopher Schmidt in der Süddeutschen Zeitung (16.8.2011). Das Beglückende der Salzburger Uraufführung durch Dimiter Gotscheff liege darin, "dass sie sich auf die offene, vielstimmige Struktur des Stücks einlässt. Anstatt den Text herunterzubrechen auf einen griffigen szenischen Realismus mit magischen Schaumkronen, hält sie das Spiel spannungsvoll in der Schwebe von Nähe und Ferne, Einfühlung und Kommentar, bei dem ihm allein aus der Sprache Dringlichkeit zuwächst." Bracks Blätterregen mache den "Ahnenkult zur Rutschpartie", die virtuosen Sprachkünstler gäben "alles, damit Gotscheffs Inszenierung nicht in Formalismus einfriert, sondern immer wieder ausbricht in heißen Feuerstößen der Expressivität". Jens Harzers vierzigminütiger Schlussmonolog sei "geradezu signifikant für den Kraftakt der ganzen Aufführung: Sie macht ernst mit dem Spiel. Sie bläst einen Sturm in die Herzen, der falsche Wahrheiten entlaubt und uns zu Partisanen macht des Dichters."
Der Papierschnitzelregen der Salzburger Handke-Uraufführung "Immer noch Sturm" sei zwar "ein hübscher, metaphorisch fruchtbarer Einfall der Bühnenbildnerin Katrin Brack. Doch weil arg überstrapaziert, erzeugt er schließlich nichts als optische Langeweile, schafft einen Schleier der Verunklärung", schreibt Ulrich Weinzierl in der Welt (15.8.2011), um hinzuzusetzen: "Keineswegs das Schlimmste, was da einem der schönsten Handke-Texte nicht nur der letzten Jahre widerfuhr: Gnadenlos, sicher nicht aus Absicht, eher aus Unvermögen, wurde er seines Kunstcharakters beinah zur Gänze beraubt." "Immer noch Sturm" verdanke "seinen Reiz auch und gerade dem Ineinander von privater und allgemeiner Geschichte", und aus dem textlichen "Oszillieren zwischen den Gegensätzen" ergebe sich bei Handke "bezwingende Leichtigkeit, das Schwebende, kurzum: Poesie. Selbst beherzte Striche könnten kaum schaden, wenn der Geist des Ganzen erkannt und bewahrt wird. Werden indes bloß einzelne Passagen herausgegriffen, bleibt plumpes Verlautbarungs- und Sprechblasentheater übrig. (…) Nein, es geht nicht um Textvollständigkeit, sondern um ein Mindestmaß an Verständnis für den von Handke geöffneten Hallraum, um Polyphonie statt tumber Eindimensionalität."
"Immer noch Sturm" sei Handkes "bisher größtes, persönlichstes und ehrlichstes Buch", meint Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (15.8.2011). "Weil er auf einmal wirklich zu wissen scheint, wovon er redet. Die anderen Handke-Bücher taten immer so stimmig. Dieses stimmt." Das Ganze sei ein "Kunststück. In fünf Verdichtungen." Und Handke sei "als 'Ich', das sich zurücknimmt und vor allem zuhört, nicht die Hauptperson, sondern das hauptsächliche Verdichtungsmittel. Keines Dramas." Dass nämlich "Immer noch Sturm" "auch auf die Bühne und nicht ausschließlich in einen lesenden Kopf gehöre", sei ein Missverständnis. Und tatsächlich kapituliere "das Theater völlig vor seinen Möglichkeiten. Und Handkes Verdichtungen, seine Bewusstseins- und Erinnerungsabenteuer" würden "zu Bindfäden, die langweilig aufgedröselt nebeneinander herumliegen." Gotscheff versuche sich hier "an einer Art Erhabenheitsgottesdienst. Absolut textfromm, aber nicht textgescheit. Immer wenn Folterer fromm werden, wird es Kitsch." Jens Harzer wiederum zeige nur die "privaten Launen, gaumigen Schnöseligkeiten und Angefressenheiten des Schauspielers Harzer, der, seit er Dieter Dorns Münchner Ensemble verlassen hat, zu kaum noch einer Abstufung im Ton mehr fähig scheint."
Für Dirk Pilz in der Neuen Zürcher Zeitung (15.8.2011) ist "Immer noch Sturm" "eine Schwarz-Messe, eine Geisterbeschwörung, wieder einmal. Immer rufen Handkes Texte in den Resonanzraum der Geschichte hinein, und was sie verzeichnen, sind Schmerzechos des Verlusts, Kartografien des Verschwundenen, die unerbittlich ihre Schatten auf das Hier und Heute werfen. Das Tragische, das Theaterdramatische ist bei Handke stets in diese Schattenwürfe gebettet, in diesem Stück besonders." In Gotscheffs Inszenierung sei daraus Theater entstanden, "das viele Worte macht und Bilder arrangiert, aber dem Text stets nur hinterherhumpelt. Die Schauspieler wirken wie Seifenblasenhäscher: Jeder Satz zerplatzt, sobald sie ihn zu fassen bekommen. Welch seltsame Leere, welch bleierne Virtuosität." Jens Harzer als "Ich"-Erzähler taste "sich in seine Rolle hinein, jongliert mit ironischen Untertönen, versucht sich in Wut und Zorn, schmeckt den Worten ihre melancholische Tiefe ab – und bleibt vor ihnen doch wie ein Fremdling stehen." Und auch die anderen leisteten nur "schwerste Textverwertungsarbeit, zäh und zahm. Niemand hat der Vorlage etwas entgegenzusetzen, hinzuzufügen."
"Aus einer Dichterseele die ganze Welt schöpfen, aus einem Bewusstsein den Geist einer ganzen Epoche filtrieren, soll das, was bei Goethe, Tschechow und Bob Dylan gelang, in unserer Zeit noch einmal mit Handke gelingen?", fragt Uwe Mattheiss in der tageszeitung (15.8.2011). "Zweifel sind angesagt an der Möglichkeit zum Dichterfürstentum – in Form und Inhalt. Das Marionettenspiel der Ahnen lässt das Individuum im Kollektiv der Sippe versinken, wie die Familienaufstellung, der sie abgeschaut zu sein scheint." Dimiter Gotscheff und sein Ensemble lasse das "ratlos zurück in einer Dissonanz der Spielweisen." "Matte Gedanken" strafe "die Poesie mit schiefen Metaphern und hölzernen Neologismen. Jens Harzer, den wunderbaren denkenden Schauspieler, werfen sie in der letzten halben Stunde fast aus der Bahn."
"Handkes Text ist mehr dialogisches Traum-Spiel als Drama oder Erzählung, nicht kategorisierbar, formal ein Bastard, wie das Ich im Text, das von der slowenischen Mutter mit einem deutschen Soldaten gezeugt wurde." So berichtet Karin Fischer auf Deutschlandfunk (13.8.2011). Alles bleibe "eine große, poetisch durchformte Fantasie in der die slowenische Apfelbaumlandschaft oder die Sprache eine ebenso große Rolle spielen wie die eingestreuten Geschichtssplitter oder politischen Hintergründe". Regisseur Gotscheff setze allerdings auf "Künstlichkeit" und stelle "den Text mehr aus, als dass er ihn spielen ließe", wobei gerade die erste Hälfte "festgewachsen, als frontales Steh- und Erzähltheater" absolviert werde. So "entsteht eine ungute Diskrepanz zwischen der leicht flirrenden Sprach-Welt des Autors und der merkwürdigen Starrheit der Szene." Wo allerdings der Text mit Musikunterstützung zum "Klang-Gedicht" werde, da entdeckt die Rezensentin die Stärken des Abends (und hebt dabei Oda Thormeyer als zweite Schwester und Mutter des Ich-Erzählers hervor). Weniger überzeugend gerate das Finale: "Den Schlussdialog zwischen Gregor und dem Erzähler legt Gotscheff allerdings alleine Jens Harzer in den Mund, wodurch die Inszenierung in schlechtem Pathos endet. Harzer verfehlt damit die klugen geschichtspolitischen Gedanken Handkes und spitzt die Szene zur näselnd-manirierten Abrechnung eines selbstmitleidigen Erzählers zu."
Beeindruckt von Handkes über weite Strecken "höchst impressiv" gehaltenen Text zeigt sich auch Norbert Mayer auf dem Onlineportal der Presse (13.8.2011). Bei ihm kommt allerdings auch Gotscheffs Inszenierung, die den "166 Seiten langen Text bis zur Neige ausgekostet“"habe, besser weg. "Es wird reichlich erzählt und nur sparsam gespielt. (…) Mit List, Sanftheit und auch mit Brutalität weist er acht Schauspieler und zwei Musiker an, in edelster deutscher Sprache das Epos vom tapferen slowenischen Volk in Koroška/Kärnten vor und im Zweiten Weltkrieg zu singen. Keine Show, sondern ein Hochamt." Wenig begeistert ist aber auch Mayer vom finalen Monolog, "der pathetisch kommentiert, was zuvor ohnehin deutlich herausgearbeitet wurde: Österreich ist das Fette, an dem Handke würgt, das schöne Jauntal hingegen ist die verloren gegangene Bleibe, die ihm das Herz zerreißt." Hier scheint es dem Kritiker, als würde der Autor Handke vom Regisseur Gotscheff "ironisch persifliert".
Ein Stück wie "eine therapeutische Familienaufstellung" hat ein gleichfalls sehr angetaner Gerald Heidegger für den ORF (13.8.2011) erlebt: Der "eigentümliche Ich-Erzähler" suche die Nähe zu Personen seines Umkreises, "vor allem zur Mutter, mit der ihn ein magisches, beinahe erotisches Moment verbindet". Hanke vermeide eine "direkte Österreich-Kritik“ in diesem Text. "Die Frage des Politischen löst er in der Grundsatzfrage seiner Kunst auf. Wie sehr erzeugt Sprache Wirklichkeit und welche Relationen zwischen Menschen, Kulturen und damit Identitäten macht sie möglich oder unterläuft sie?" Gotscheffs Inszenierung halte sich "eng an die Vorlage des Handke'schen Texts, fast zu eng – der fast halbstündige Schlussmonolog, bei dem ein mehr als bravouröser Jens Harzer von der Handke'schen Textwucht und Assoziationslust beinahe erdrückt wird, hätte Streichungen vertragen." Als "Glücksfall" eingestuft wird das Bühnenbild von Katrin Brack, "die mit ihrer vor allem von der Lichtführung im dunklen Raum getragenen Umsetzung allen Naturalisierungs-, aber auch Multimedialisierungsversuchen widersteht." Das rieselnde Laub forme den Kreis, in den der Erzähler seine Angehörigen rufe, und besitze auch eine melodische Dimension: "Es stützt den Rhythmus des Handke'schen Texts und landet das gesprochene Wort mitunter sanft im Raum."
"Es war ein Abend voller Sinnlichkeit im Umgang mit Sprache. Und es war ein wichtiger Abend wegen des Umgangs mit einem Thema, dass nur in Kärnten spielt, dass in seiner Wirkung als Stück über Widerstand, über die Verlierer der Geschichte von durchaus universeller Geltung ist." So stimmt Bernhard Flieher in einer Nachtkritik für die Salzburger Nachrichten (13.8.2011) ins Lob ein: Gotscheffs Inszenierung "lässt dem Wort viel Platz", die "Sparsamkeit der Mittel ermöglicht totale Konzentration auf den Text und dessen Sound". Aus dem überzeugenden Ensemble ragten der Protagonist und seiner Alter ego heraus: "Den lautesten Jubel gab's am Ende für die beiden Ichs. Das eine Ich, Peter Handke, das den Text, der kreist und schwebt und trotzdem sicher trifft, geschrieben hat. Und das andere Ich, Jens Harzer, weil er dieses Handke-Ich aus der Textvorlage als Aufgewühlten, Verunsicherten, Zweifelnden, Fragenden und Suchenden auf der Bühne mit vielen Untertönen, mit vielen Feinheiten spielt."
Von begeisterten Publikumsreaktionen berichtet auch Anna Ringle-Brändli für das Onlineportal des Hamburger Abendblatts (13.8.2011) ihren Lesern an Elbe und Alster, wohin das Ensemble koproduzierenden Hamburger Thalia Theaters demnächst zurückkehrt: "Handkes Stück ist textgewaltig – das unterstreicht auch Gotscheff mit seiner Inszenierung." Katrin Bracks Bühnenbild sei "schlicht" und fungiere als "Projektionsebene". "Im Vordergrund stehen die Gedankenwelten der Figuren. Vor allem Jens Harzer in der Rolle des 'Ich' bietet minutenlange Monologe akzentuiert und facettenreiche dar."
Im Rahmen einer reportagehaften Sommerregenreise nach Salzburg gibt Tobias Rüther für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (14.8.2011) auch einige kritische Einschätzungen zur Inszenierung ab: "Das Stück bleibt nah an Handkes Familiengeschichte, ist aber nicht mit ihr identisch, und was der Sache guttut, ist der ironisch-hadernde Unterton Harzers, der seinen heiseren Handkesätzen Fragezeichen nachstellt und so den dichterischen Überton, für den man Handke ja auch leidenschaftlich nicht leiden kann, sabotiert." Harzer, der auf derselben Zeitungsseite auch im Interview vorgestellt wird, könne gleichwohl auch nicht die Längen verhindern, die sich gegen Schluss von Stück und Inszenierung einschlichen: Am "Ende ist da so viel Text, dass sich Jens Harzer in einem halbstündigen Monolog darin verliert, man möchte ihm einen Stuhl und ein Glas Wasser bringen, man möchte den Regisseur fragen, warum nur er seinen großartigen Schauspieler da oben so alleingelassen hat."
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wohin ist der einstige literatur-star mit den jahren gekommen?
immerhin handelt es sich um eine uraufführung
die ganze Welt schöpfen, aus einem Bewusst-Sein den Geist einer ganzen Epoche filtrieren - ja, warum eigentlich nicht? es könnte ja sein - - aber auch:
... der dichterische Überton, für den man Handke ja auch leidenschaftlich nicht leiden kann...
man mag ihn vielleicht deswegen nicht leiden, aber: Handkes Stück sei aber textgewaltig... das den Text, der kreist und schwebt... wie sehr erzeugt Sprache Wirklichkeit und welche Relation zwischen Menschen, Kulturen und damit Identitäten macht sie möglich oder unterläuft sie?... Handke`schen Text-Wucht und Assoziations-Lust...
beeindruckt von Handkes über weite Strecken "höchst impressiv"
gehaltener Text... eine große, poetisch durchformte Fantasie...
die klugen geschichtspolitischen Gedanken Handkes...
aber auch Negatives: Zweifel sind angesagt an der Möglichkeit zum
D i c h t e r f ü r s t e n t u m - in Form und Inhalt (immer wieder diese auftauchenden Fragen nach Handkes Dichterfürstentum,
sind doch recht auffällig)...matte Gedanken strafe die Poesie mit
schiefen Metaphern und hölzernen Neologismen... eine Schwarz-Messe,
eine Geisterbeschwörung, wieder einmal... Schmerzechos des Verlusts
Kartografien des Verschwundenen, die unerbittlich ihre Schatten auf das Hier und Heute werfen. Das Tragische, das Theaterdramatische ist bei Handke stets in diese Schattenwürfe gebettet, in diesem Stück besonders... Handkes bisher größtes, persönlichstes und ehrlichstes Buch... (sollte es an seine frühesten Werke heran-
reichen, oder sie sogar übertreffen?) Handkes Verdichtungen, seine Bewusstseins- und Erinnerungs-Abenteuer... Ist Gotscheffs Inszenierung eine Art Erhabenheits-Gottesdienst?... einer der schönsten Handke-Texte nicht nur der letzten Jahre... aus dem textlichen "Oszillieren zwischen den Gegensätzen", ergeben sich bei Handke "bezwingende Leichtigkeit, das Schwebende, kurzum: Poesie...
sein persönlichster und zugleich universellster Text...
Da ist nicht mehr zu erwarten. Die Meisten sind des Lobes voll und
macht neugierig darauf, den Text zu lesen - -
Ernst machen mit dem Spiel. Und Sturm in die Herzen blasen(wäre das noch möglich?)- macht uns zu Partisanen des Dichters...
Thalia at, Buchhandlung. Ich lese die erste Seite von Peter Handkes Immer noch Sturm.
Davor war ich beim Verkäufer gewesen, hatte das plastikfolieverschlossene Buch in der Hand: Darf ich fragen, ob man dieses Buch öffnen kann, damit ich hinein schauen kann -
bisher war es immer verschlossen, heute aber wage ich zu fragen, kann man es öffnen? - Der Verkäufer lächelt mit einem Blick in mein Gesicht: Selbstverständlich, sagt er, und befreit das Buch von der Plastikhülle:
"... eine Sitzbank, eine eher zeitlose... daneben oder dahinter oder sonst wo ein
Apfelbaum, behängt mit etwa 99 Äpfel... aus der einen, dann der anderen Ferne ein
Angelusläuten, und auch wenn das wieder eine Täuschung ist: Im Nachhinein scheint es,
daß die Mutter und ich uns an der Hand halten... Das Apfelbäumchen freilich ist mir, zusammen mit dem nachleuchtenden Äpfeln, solcherart in wieder einer anderen Zeit begegnet, in einer Nachtsekunde, in einem Tagtraum, oder wann. Ich bin zunächst dagesessen mit geschlossenen Augen. Jetzt schlage ich sie auf. (zweite Seite)
Und was sehe ich nun? Meine Vorfahren nähern sich von allen Seiten..."
Ich höre ein lautes Pfeifen links von mir, oder ist es etwas anderes? Nein, da pfeift einer, aber nicht lange. Ich blicke von den Handkezeilen auf. Ich bin bei Seite 9, das sind drei Seiten, die zu lesen waren. Soll ich weiterlesen, und mich in den Text versenken?
Ich lese noch bis zur Stelle: "... Ich habe kurz ihr Spiel mitgespielt wie sie das meine zuvor: " und was muss ich mir d o r t hinten für einen Totschlägerberg, für ein Jammertal, für eine Teufelsschlucht, für eine Drachenwand, für ein steinernes Meer,
für eine Mammutfurzklamm, für einen Selbstmördergrat vorstellen?" -
- ich lese die Seite zu Ende, sie ist mit 13 bezeichnet, ich habe sieben Seiten also gelesen. Ich kenne die Manierismen Handkes, will sie aber nicht immer wieder von Neuem
lesen, aber sie sind diesmal nicht sehr arg, finde ich, da ist eine neue Leichtigkeit,
so etwas wie ein Schweben - es ist diesmal mehr Manismus (Ahnenkult, Totenverehrung)
als Manierismus...
Mit erhobenem Haupt, aber ohne Stolz und Beschwernis, trete ich hinaus in den regnerischen Abend. . .
schönste Sonnentag), als ich ihr erzählte, dass Peter Handke nicht einen einzigen
Eintrag hatte in Nachtkritik-Kommentare zu seiner Uraufführung Immer noch Sturm in Salzburg letzten Sommer:
Der Ärmste!
Ein wenig stolz sagte ich daraufhin: Ich war der Einzige, der dann drei Beiträge über ihn geschrieben hat.
Das sagte ich zu der mir Unbekannten, mit der ich ins Gespräch gekommen war, weil sie über das Handy mit jemanden über Peter Turrinis "Rozznjogd" gesprochen hatte...
Die deutsche Schauspielerin war schon vier Jahre am Ph...theater.
Unter dem Mantel hatte sie ihr Kind an der Brust (Brustkorb), momentan spielte sie nicht.
Sie kannte Nachtkritik nicht...
ist da jetzt eine Sperre für mich oder wie soll ich das verstehen
nach dem Hacker-Abgriff
(In der Tat, Herr oder Frau Partisan, haben wir derzeit technische Schwierigkeiten mit der Kommentarfunktion. Wir arbeiten dran.
nikolaus merck für die Redaktion)
Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2012/12/13/das-flustern-der-toten/
Pünktlich zur allerletzten Vorstellung von „Immer noch Sturm“, einer Koprduktion der Salzburger Festspiele und des Hamburger Thalia Theaters, die als Gastspiel an der Berliner Volksbühne stattfand, wurde der letzte Wille von Bruno Ganz bekannt: Jens Harzer soll sein Nachfolger als Iffland-Ring-Preisträger werden.
Acht Jahre ist diese Aufführung mittlerweile alt. Sie scheint aber aus viel ferneren Zeiten herübergeweht. Die Uraufführung von Handkes Familien-Aufstellungs-Saga, die den Bogen vom Jahr 1936 bis in die jüngste Vergangenheit schlägt, ist eine große Beschwörung der Ahnen. Krasser könnte der Gegensatz zum Sturm nicht sein: sanft und monoton rieseln grüne Papierschnipsel auf die Bühne (Katrin Brack), während der Ich-Erzähler seine Familie aus dem Hintergrund hervorholt.
Der Stil der Inszenierung polarisiert: „Es wird viel geredet und geraunt in dieser Inszenierung, die unendlich lang und langsam ist“, schrieb Hartmut Krug treffend in seiner Salzburger Premieren-Nachtkritik. Hier ist ein Star-Ensemble zu erleben, das tief in die Vergangenheit eintaucht, dabei aber oft manieriert wirkt.
Dirk Pilz hat dies damals in der NZZ als „bleierne Virtuosität“ bezeichnet. Treffender kann man die ambivalenten Eindrücke, die „Immer noch Sturm“ hinterlässt, nicht beschreiben.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/03/24/immer-noch-sturm-letzte-vorstellung-jens-harzer-kritik/