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Explosion der Gehirne

von Charles Linsmayer

Zürich, 27. August 2011. Drei Jahre hat der Darsteller des Polyneikes – jenes Ödipus-Sohnes, der nach dem Bruderstreit nicht beerdigt werden durfte und für dessen Bestattung sich Antigone unter Todesgefahr einsetzt – nach einem Modell für seine Rolle gesucht. Bis ihm am 6. Dezember 2008 der Zufall zu Hilfe kommt und ihm ein Vorbild von brennender Aktualität zuspielt. An jenem Tag hat die Athener Polizei am Rande einer Demonstration den 15jährigen Alexis Grigoropoulos erschossen und tot liegen lassen.

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© Valentina Bianchi

Das Antigone-Projekt wird in "Alexis, eine griechische Tragödie" umbenannt, und ein Jahr nach der Tötung dieses Alexis – die in Griechenland eine nach wie vor nicht zur Ruhe gekommene gewaltsame Protestwelle ausgelöst hat – reist die Theatertruppe nach Griechenland, um mit der Videokamera Fakten und Stimmen zu jenem tragischen Vorfall einzusammeln.

Brecht, Tanz, & Video

Was die im italienischen Rimini domizilierte Theatergruppe Motus nach der 2010 in Modena stattgefundenen Premiere unter dem Titel "Alexis. Una tragedia greca" am diesjährigen Zürcher Theaterspektakel präsentiert, ist eine Mischung aus Tanz, Auszügen aus Brechts "Antigone"-Bearbeitung, Videodokumentationen und Agitprop-Theater.

Zu Beginn führt die schmächtige Silvia Calderoni, die ebenso gut als Antigone wie als Alexis durchgehen würde, vor roten Bodenlichtern zu litaneiartiger Popmusik bis zum Gehtnichtmehr Rumpfbeugungen vor, die von einem durch die Lautsprecher verstärkten beängstigenden Hecheln begleitet sind: äußerste Anstrengung, Sterbenwollen in der körperlichen Extase wird da signalisiert. Dann geht es per Videofilm auf eine Wanderung auf den Spuren von Antigone und Odysseus nach Athen.

Und dort sind dann jede Menge Grafitti zu sehen, die zum Mord an Alexis Grigoropoulos Stellung beziehen und darauf hinauslaufen, dass sein unschuldig vergossenes Blut nach Rache schreie. Und schon liegt der Tote mitten in der viereckigen roten Spielarena und die Kommentare zu seiner Ermordung mischen sich mit Texten von Sophokles und Brecht.

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© Valentina Bianchi

Ich glaube an die Ungeduld

Eine Revolution sei durch den Märtyrertod des jungen Mannes nicht ausgelöst worden, wohl aber eine Revolte, und gefühlvoll-euphorisch verkündet die junge Frau, die die Antigone spielen soll: "Ich glaube an die Ungeduld, aus der Ungeduld entsteht Bewegung."

Die Spurensuche in Theben ist dann zwar eine Enttäuschung – an die berühmte Tote erinnert einzig noch eine Antigonestrasse – aber bald schon wird König Kreon mit seinen modernen Nachfolgern identifiziert, mutiert die Gegnerschaft gegen den Despoten zum Widerstand gegen die griechische Polizei und schliesslich auch gegen die von den Euro-Ländern erzwungenen Sparbeschlüsse. Und wie Che Guevara einst verkündete: "Schaffen wir eins, zwei, drei, viele Vietnams", so heisst es nun: "Wenn aus zwei drei werden und aus drei vier und aus vier fünf..." Mit flehender, bald verzweifelter Stimme fordert die Schauspielerin das Publikum auf, auf die Bühne zu kommen und mit dem Ensemble zusammen zu aggressiver Musik die Fäuste zu ballen.

Mit Verve und Vitalität

Aus der Tragödie soll ein Kampf werden und zur Explosion der Gehirne führen. Aber der Aufforderung kommen nur drei – offensichtlich darauf vorbereitete – junge Leute von der Bühnencrew nach. Das Publikum, mehrheitlich mittlere bis ältere Generation, bleibt sitzen und hört zu. Siegessicher verkünden die zum Widerstand Entschlossenen: "Wir kommen aus der Zukunft!" Zu beschwörend-litaneihafter Musik wird am Bildschirm eine Unmenge von Schlagzeilen zum Thema Jugendrevolte gezeigt, und am Ende richtet sich die Videokamera auf die Zuschauer, so dass die sich in globo auf einer Leinwand im Bühnenraum sehen können. "Da, schaut, da sitzt ihr und kommt uns nicht zu Hilfe!"

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© Valentina Bianchi

Die Themen Jugendrevolte, arabischer Frühling und Widerstand gegen die Staatsgewalt liegen in der Luft, und als leidenschaftlicher Appell, die Chancen zu nützen und verhärtete Fronten und Systeme in jugendlichem Elan aufzubrechen, hat die seit der Premiere vor neun Monaten da und dort sanft aktualisierte Produktion durchaus Verve und Vitalität.

Doch ist die Auseinandersetzung mit dem antiken Stoff über Andeutungen und offensichtliche Parallelen hinaus kaum wirklich geleistet. Und trotz begeisterter Kritiken in italienischen und französischen Zeitungen muss man konstatieren, dass das exzessive Spiel mit Videobildern und Life-Aufnahmen den dürftigen Text mehr belastet als befreit.

Dabei erzielt gerade das Theaterspiel durch den Einsatz von Körpersprache und Mimik, ja auch im Tänzerisch-Choreographischen immer wieder schöne Effekte. Dass sich aus dem allzu heterogenen Ganzen in der Gestalt der schlaksigen und agilen Silvia Calderoni vor dem Auge des Publikums schliesslich doch eine berührende, sinnlos gegen das Unsinnige anrennende Antigone herausschält, ist jedenfalls weit weniger der Regie als der wunderbaren Präsenz und Ausstrahlungskraft dieser Schauspielerin zu verdanken.

 

Alexis. Una tragedia greca
von Motus
Regie und Idee: Enrico Casagrande und Daniela Nicolò.
Mit: Silvia Calderoni, Vladimir Aleksic, Benno Steinegger, Alexandra Sarantopoulou.

www.motusonline.com/it
www.theaterspektakel.ch

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