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Tickende Weltuhr im Bauch

von Georg Kasch

Hamburg, 3. September 2011. Am Anfang dreht sich nur ein Baum auf der dunklen Bühne, aus dessen wackelnder, klingelnder Krone zwei Narren purzeln, spielbereit. Am Ende liegt die Bühne wieder wüst und leer, nicht mal ein Baum schüttelt sich – aber die zwei Clowns sind immer noch da. "Ich will nicht mehr spielen, es ist doch alles sinnlos", jammert er. Und sie? Zirpt im kindlich süßesten Quengelton: "Trotzdem spielen". Bis das Licht verlischt.

Das ist so ein typischer Nunes-Schluss: Argument prallt auf Gegenargument, Resignation auf Hoffnung. Eine bessere Lösung als Hölderlin auf die Frage, was der Mensch sei, weiß Regisseur Antú Romero Nunes auch nicht: "Ich bin noch da", sagt Artus am Ende seines "Hyperion"-Monologs, den schon Tankred Dorst und Ursula Ehlers vors Finale ihres "Merlin oder Das wüste Land" stellten.

Wie mit Knallerbsen gezaubert

Dass sie da sind, ist schließlich auch die einzige Gewissheit der Helden und Versager in diesem maßlosen Weltentwurf, ein Antwortversuch des 20. Jahrhunderts auf "Faust" und den "Ring des Nibelungen", so prall an (Artus-)Geschichten, Bildern und Deutungen, dass man bei knapp 400 Seiten und weit über 50 Charakteren schon wissen muss, was man erzählen will, um sich nicht vollkommen im literarischen Unterholz zu verheddern.

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Kraft der Windmaschine              © Heji Shin

Man muss sich Nunes wohl als eine Art Merlin vorstellen, ein kindlich naiver Ausprobierer, der hier mal ein paar Knallerbsen hinpfeffert, dort die Windmaschine anschmeißt und so im Hamburger Thalia Theater in dreieinhalb Stunden und mit neun Spielern eine Welt erschafft aus Fantasie und Magie: Ein Brett gilt als Tür, eine Bretterwand als die Tafelrunde (als Quadratur des Kreises, sozusagen), die bald schon Lücken aufweist. Auf einem Labyrinth aus Papierbahnen blühen die allerschönsten Projektionen: Psychedelisch bunte Landschaften wachsen samt tickender Weltenuhr in Merlins Magen, der später den Narr verschluckt und wieder ausspuckt. Vom Mars-Refugium aus lässt sich gemütlich der Erduntergang beobachten. Dazu salbt ein Chor von den Rängen aus die Bilderflut emotionssatt mit Requiem- und Gloria-Klangflächen.

Jux gegen Pathos, Gefühl gegen Ernüchterung

Merlins Schöpfungsprozess beginnt als Aneignung. Kaum ist er auf der Welt, will er, anders als seine Narren-Eltern, nicht Quatsch, sondern Sinn. Mit dem Kronleuchter entdeckt er die Sterne und uns, das Publikum ("Die sind immer da", sagt sein Vater-Clown, und aus seiner Perspektive stimmt's). Während man noch lacht über diese Pointe, trifft einen Merlins metaphysisch naive Erkenntnis ins Mark: "Ihr sterbt ja!"

So heiß-kalt skizziert Nunes Illusionen und Emotionen, kantet Jux gegen Pathos, Gefühl gegen Ernüchterung, ein schillernder Orkan der Bilder und Brüche, in dessen stillem Auge die herzzerreißende Wahrheit ruht: Wir sind sterblich, DEN Sinn gibt es nicht, aber wir sind da. Immerhin. 

Bei Jörg Pohls Merlin kommt noch ein "Hoppla" hinzu: Leicht verpeilt, ein großer Knabe mit großen, neugierigen Augen und Schelmengrinsen unter dem Rastalockenschopf, vergreift er sich schon mal in der Methode, wenn er Galahad die Ewigkeit schauen lässt und ihn danach nicht mehr so richtig zum Laufen kriegt (bewundernswert Sebastian Zimmlers Körperbeherrschung als Zombie-Automat). Als Artus, dieser freundlich-melancholische Weltverbesserer mit eingeschränktem Machtbereich, am Ende kritisch anmerkt, dass vielleicht Merlins Prophezeiung, sein Sohn Mordred könne ihm gefährlich werden, Schuld sei an dem ganzen Schlamassel (weil der sich vom frühen Mordversuch des Vaters nie richtig erholt und schließlich der Krone sich bemächtigt wie ein Richard III.), sagt der nur: "Dumme Sache."

Dicht an der Fantastik

Was soll man auch groß sagen nach so einer "Die Tafelrunde sucht den Superritter"-Story mit schmachtendem Ehebruch, Nachwuchsdiktator-Imitator und blödtumben Gralssucher? Vielleicht: Was für ein Versuch! Nichts weiter als die Vision einer gerechten Welt skizziert André Szymanskis gelassen privater Artus, ein gelehriger Schüler seines Zauberfreundes. Aber natürlich scheitert die Sache an den menschlich-allzumenschlichen Fallstricken. Der Liebe, zum Beispiel, vor der Franziska Hartmanns etwas steife Ginevra und Daniel Lommatschs überkorrekter Lancelot mit einer Wucht kapitulieren, die jeden Einspruch vergessen macht. Oder am Liebesentzug: Rafael Stachowiaks Mordred schwitzt eine klebrige Verlorenheit aus, die jede Grausamkeit als Schrei eines ungeliebten Kindes nach der Aufmerksamkeit des Vaters nachvollziehbar macht. Oder an der Blutspur, die Julian Greis' naive Bestie Parzival hinterlässt auf seiner autistischen Heilssuche.

Und doch bleibt das fantastisch. Alle wissen: Wir spielen. Zumal die grandiosen Clowns Mirco Kreibich und Lisa Hagmeister, Narren aus dem Geist der Commedia, puckisch-tückische Einmischer, Einspringer und Antreiber, um das teuflisch unterhaltsame Spiel am Laufen zu halten. Aus einer Laune heraus – wie schon Merlins Erzeugung. Nur als der schließlich im Dornbusch gebannt ist und der Zauber perdu, halten auch sie sich zurück: Auf der kahlen Bühne, dem wüsten Land, steuern die verbliebenen Menschlein unaufhaltsam, lustlos fast, auf das unvermeidliche Ende zu. Ein Spiel? Ja, aber was für eins!


Merlin oder Das wüste Land
von Tankred Dorst, Mitarbeit Ursula Ehlers
Regie: Antú Romero Nunes, Bühne: Florian Lösche, Kostüme: Matthias Koch, Musik: Johannes Hofmann, Video: Sebastian Pircher/Peer Engelbracht, Dramaturgie: Sandra Küpper, Live-Kamera: Anna Fenske, Annemarie Drexler.
Mit: Julian Greis, Lisa Hagmeister, Franziska Hartmann, Mirco Kreibich, Daniel Lommatzsch, Jörg Pohl, Rafael Stachowiak, André Szymanski, Sebastian Zimmler. Chor: Karin Pawolka, Nico Cornehl, Sybille Förster, Thorsten Schuck, Janina Troost, Lotta Marei Allewelt, Ines Maria Eberlein, Janina Kriszun, Vanessa Derkum, Marie Laackmann, Manuela Stange, Thomas Bernardy, Sigurd Hartwigsen, Bastian Kohn, Wolfgang Ahrens, Alexander Grimm, Christian-Malte Seidl, Lady Cindy Memsah.

www.thalia-theater.de

 

Kritikenrundschau

Michael Laages schreibt auf der Webseite von Deutschlandradio seinen Fazit-Beitrag vom 3.9.2011 nieder: Nunes interessiere sich herzlich wenig für Dorsts "Debatten um Glaube und Zukunft und Wahrheit" – "als wolle er bekunden, dass versponnene Grübler wie Dorst, Sinnsucher wie Merlin, der Gegenwart nicht viel zu weisen hätten." Stattdessen: "Clowns, wohin das Auge schaut". Jux und Dollerei und ironische Verbrämung machten sich breit, wohin die Ohren hören in der Nunes-Fassung. Mit der Zeit staune man nicht schlecht "über das rüde Desinteresse an Sprache und Dramaturgie, das die Aufführung durchzieht". Die Qualität von Dorsts speziellem Erzähler-Ton bleibe "völlig unerkennbar", so fragmentiert sei der Text, der obendrein mit einer auf Dauer schwer erträglichen Ulk-Glasur überzogen worden sei. Nunes nutze eine Spielweise, in der alles irgendwie wie improvisiert wirken solle, "der eigentliche Kern von Wort und Sinn ist wie versteckt in elend-endlosem Geplapper und Geschnatter". Und die Clowns seien "vor allem laut". Mit Merlin zeige der Regisseur eine "immense Lust auf alle möglichen Tricks, die so ein schöner großer Theaterapparat hergibt". Nett sei das. "Effektvoll. Handwerklich weithin überzeugend in Florian Lösches Bühnen-Apparat; ein wenig überreizt in weiten Teilen des Ensembles und dominiert von diesem elenden Improvisationspalaver."

Im Hamburger Abendblatt (5.9.2011) schreibt Klaus Witzeling: Als "kalauerndes und rotziges Kasper-und-Narren-Spiel" werfe Nunes das große Weltenepos "ins leere, offene Bühnenhaus". Er verwandele die "hehre Artus-Sage in eine Posse" und gewinnet ihr trotzdem Ernst und Tiefe ab. "Ein Witz über dem Abgrund." Passagenweise entfessele der Regisseur "hinreißendes Chaos". Die Helden würden von den jungen Leuten in "charmante Witzfiguren" verwandelt, die an ihren "Idealen oder Leidenschaften und der Wirklichkeit tragikomisch scheitern müssen". Merlins Späße kippten stets "unvermittelt" in Ernst. Er schnappe sich den jungen Galahad und verwandele ihn von einer Minute zur anderen in einen Greis. Mehl im Gesicht, gelinge Sebastian Zimmler eine "beklemmende Sterbeszene". Und Merlin nutze dies, um das Publikum daran zu erinnern: "Ihr sterbt ja." Das Publikum sei immer wieder direkter Adressat und Bezugspunkt der Inszenierung.

In der Süddeutschen Zeitung (5.9.2011) schreibt Till Briegleb: Tankred Dorsts Skepsis gegenüber großen Reformversprechen habe Antú Romero Nunes nun komplett "auf die Zinnen der Satire getrieben". Sein Merlin sei ein "Freak" und seine Ritter "so nahe an der Kokosnuss", dass man "ihre Legenden vergessen müsste, würden sie nicht ab und zu mit Schwertern herumfuchteln". Die dreieinhalb Stunden böten eine "Samstagabend-Unterhaltungs-Gala", eine "Art 'Klingsors Zaubergarten' im 'Wetten-dass'-Format". Mit wirklich beeindruckender Sicherheit und Phantasie machten Nunes und sein "gut aufgestelltes" Team "Film und Fernsehen in Echt-3-D". Entsprechend zähle vor allem das Handwerk des Clowns, "der wendig den tödlichen Ernst von Aussagesätzen pariert". Mirco Kreibich spiele den Teufelsclown als "manisch-depressiven Verzweiflungskomiker" brillant, ebenso wie Jörg Pohl den Merlin als "obercoolen Zauberkünstler" oder Lisa Hagmeister die "akrobatische Verführerin zur Unmoral". Nunes gehöre der falschen Generation an, um "aus dem Riesen-Drama ein Anliegen zu destillieren". Mit der ironischen Haltung zu jeder Form von Pathos, die Nunes gerade auszeichne, bleibe die Auffrischung dieser Weltbetrachtung dann eben bei konfliktfreier Lakonie stehen.

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (5.9.2011) schreibt Volker Corsten: Wohl noch nie sei "Merlin" so "luftig leicht, so spiel- und ideenwütig und, zumindest bis zur Pause, auch so bezwingend" gespielt worden wie hier. Nunes habe aus der "prallen Endzeit-Elegie" ein "überbordendes Narrenstück" gemacht. Zwar bediene er sich gerade im Mittelteil bisweilen überflüssiger Technik à la Live-Kameras, Filmchen, Illustrationen in Monty-Python-Manier, aber er lasse phantasievoll mit und gegen und durch die vierte Wand spielen und nehme das Leiden bei allem Spaß ernst. Die beiden Narren agierten wie Spielleiter, Mirco Kreibich wie ein "klassischer, dabei verzweifelt-agiler Narr", Lisa Hagmeister eher wie "eine Art grenzdebiler Pipi Langstrumpf aus Dingsda". Jörg Pohl als Merlin sehe aus wie ein "seltsamer Erlöser", nackt bis auf die Unterhose, Dreadlocks bis über den Hintern: Momo aus der "Lindenstraße" auf LSD. Der Schmerzensmann als Idealist, der "jede New-Age-Sekte sofort übernehmen könnte".

Frauke Hartmann schreibt für die DuMont-Gruppe Frankfurter Rundschau und Berliner Zeitung (5.9.2011): Der Baum der Erkenntnis falle bei Antu Romero Nunes gleich zu Anfang um, durch Merlins Zauberhand. "Zugunsten einer höheren Erkenntnis, versteht sich." Nunes entfessele ein "wahres Feuerwerk der Komik und Subversion". Der Abend strotze vor Regie-Einfällen. "Unablässiger Motor des Geschehens" sei "die Verwandlung und damit die Verschiebung von Bedeutungen". Der Merlin von Jörg Pohl bediene sich "lässig" der "Gestik und Zaubersprüche Harry Potters", veranstalte mit Knallerbsen und Gummitieren Albernheiten und sei doch "magischer Antreiber". Unschlagbar werde der Abend dadurch, "dass die Spieler blitzartig ihre Rollen verlassen, diskutieren und wieder hineingehen". "Ein großes Bekenntnis zum Theater, das Hoffnungen macht."

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