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Wanderinnen auf blassem Rasen

von Sophie Diesselhorst

Berlin, 9. September 2011. Es beginnt mit Schubert, so wie auch bei Elfriede Jelinek irgendetwas mit Schubert begonnen hat – nur was? Fragt man sich nach dieser Jelinek-Inszenierung von Andreas Kriegenburg. Aber nicht abschweifen. Also: Bei Kriegenburg beginnt es mit Schubert. Maria Schrader übt die ersten Töne der Klavierstimme des Liederzyklus "Winterreise" und bricht jedes Mal, wenn sie sich verspielt, in eine groteske "OhgottOHGOTT!"-Geste aus.

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© Arno Declair

Ins Obsessive geschraubt

Nachdem das ein paar endlose Minuten so gegangen ist, betreten Schraders vier Mitspielerinnen die Bühne, die eine äußerst sommerliche, geradezu hypertrophe Wiese ist. Am Bühnenhimmel sieht's nach Gewitter aus, doch die vier Grazien in pastelligen langen Blumenkleidern, die sich hier anschleichen, sind ganz anderer Stimmung: sie haben in Papiertüten Schnee dabei, mit dessen Hilfe sie sich nun auf "Winterreise" begeben, nachdem Maria Schrader durch eine perfekte Aufnahme der Schubertschen "Winterreise", die ihr Klavierspiel übertönt, von ihrer Agonie erlöst oder auch einfach nur abgelenkt worden ist.

Auftritt Elfriede Jelineks Text, der bei aller typisch Jelinek'schen Lust am mäandernden Wortspiel eine sehr konzentrierte Reise ist. Ihr Wanderer, der mit mehreren Stimmen spricht und sich bei seinen Begegnungen mit so unvermeidlichen Topoi wie dem Tod, der Liebe und der (Nicht-)Beziehung zu den Eltern immer wieder ins selbstzerstörerisch Obsessive schraubt, findet trotzdem stets auf seinen Weg zurück.

Debütantinnenball-Atmosphäre

Einen Weg gibt es gar nicht auf Kriegenburgs Spielwiese, die Nikolaus Frinke gestaltet hat. Der Text ist im ersten Teil des Abends relativ gleichmäßig auf die fünf Darstellerinnen verteilt, die ihrerseits relativ gleichmäßig auf der Wiese verteilt sind. Es entwickelt sich bald ein szenisches Grundmuster, in dem eine emphatisch spricht und die anderen im Hintergrund Faxen machen, was im Publikum maximale Zerstreutheit auslöst.

"Da ist die eine Wirklichkeit, die der Zeit, da ist die andere: Ich", schreibt Jelinek ganz am Anfang der "Winterreise". Tatsächlich scheinen Kriegenburgs fünf Wanderinnen aus der Zeit gefallen. Wie soll es, beziehungsweise wie sollen sie da auch weitergehen? Während die Autorin das Paradox gewagt hat und die Wanderung nicht mit dieser Erkenntnis enden, sondern eben sogar beginnen lässt, stagniert Kriegenburgs Inszenierung hier.

Und es breitet sich eine ganz seltsame Debütantinnenball-Atmosphäre aus. Jeder Jelinek-Monolog kommt als Charme-Offensive daher. Judith Hofmann, Annette Paulmann, Maria Schrader, Anita Vulesica und Susanne Wolff: Sie alle können – auf höchst unterschiedliche Weise – sehr charmant sein, daran besteht nach diesem Abend nun überhaupt kein Zweifel mehr, falls vorher einer bestanden hat!

Drollige Orientierungslosigkeit

Im zweiten Teil des Abends spricht der Wanderer bei Jelinek mit der Stimme ihres dementen Vaters, der sich von Frau und Tochter verstoßen und verfolgt zugleich fühlt. Und da kippt der Abend im Deutschen Theater ins unfreiwillig Groteske. Wie ein Penner auf der Parkbank lungernd steigt Maria Schrader mit senilem Tremor in den Händen und den Stimmbändern in die neue Rolle ein; die folgende Dreiviertelstunde ist eine Tour de Force, in der Schrader, die den gesamten Vater-Text stemmen muss, von den anderen vier, ebenfalls als Väter verkleideten Darstellerinnen, ohne Worte an die Wand gespielt wird. Dabei vermitteln auch die netten stummen Opis nicht einmal eine Ahnung dessen, was in diesem abgründigsten und anrührendsten Teil des Stücks steckt.

Aber in ihrer allgemeinen Orientierungslosigkeit, die sie alle sehr drollig ausspielen, werden sie zu unheimlich guten Identifikationsfiguren für den verlorenen Zuschauer.

 

Winterreise
von Elfriede Jelinek
Regie: Andreas Kriegenburg, Bühne: Nikolaus Frinke, Kostüme: Andrea Schraad, Dramaturgie: Meike Schmitz, Licht: Matthias Vogel.
Mit: Judith Hofmann, Annette Paulmann, Maria Schrader, Anita Vulesica, Susanne Wolff.

www.deutschestheater.de

 

Winterreise wurde im Februar 2011 an den Münchner Kammerspielen von Johann Simons uraufgeführt. Elfriede Jelinek wurde für das Stück 2011 mit dem Mülheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet.

 

Kritikenrundschau

In "Fazit" auf Deutschlandradio Kultur (9.9.2011) berichtet Hartmut Krug von einem im ersten Teil "poetischen und gleichzeitg ernsthaften, kräftigen und harten Abend". Die Bühne, der "wunderschöne Blumengarten" von Nikolaus Frinke sei "fantastisch", die Farbwechsel von hell zu dunkel ein "ästhetischer Genuss". Die fünf Frauen spielten "keine Rolle", sondern sprächen die Texte oder illustrierten "sehr stimmig" das, was gesagt werde. Nach der Pause aber, bei der langen Passage des dementen Vaters, versuche Maria Schrader "mit Schmackes" und "mit Gefühl", "bewusst auf echt" und mit "Pathos" zu spielen, das gelinge gar nicht. Hier wirke sich die Jelineksche Redundanz und das Mäandern negativ aus und der Abend breche auseinander. Trotzdem sei es ein "richtiges Ereignis" gewesen.

"Gut sind sie, keine Frage, und sie finden mit dem Regisseur immer wieder einleuchtende Bilder für die weltwunden Gedanken der Jelinek", schreibt Patrick Wildermann im Tagesspiegel (11.9.2011) über die Schauspielerinnen. Aber Jelinek nur beim Wort zu nehmen, wie Regisseur Andreas Kriegenburg es macht, "das führt nicht weit. Wo doch die Autorin alles, was ihr in die Finger kommt, und sei es die eigene Biografie, so lange mit Skepsis beäugt, bis es fremd zurückfunkelt." Wenn man den Texten an die Gurgel gehe, wie ein Nicolas Stemann in seinen Inszenierungen, spucken sie einem schmerzliche Wahrheiten aus. "Wenn man sie zu umarmen versucht, entziehen sie sich."

Aus der leichten Schwebe im assoziativen Niemandsland schlägt die Inszenierung im zweiten Teil hart auf im pathetischen Melodrama, so Eberhard Spreng im Deutschlandfunk Kultur heute (10.9.2011). Wenn dann nämlich die Rede auf den demenzkranken Vater kommt, "ist Kriegenburg die ironische Distanz plötzlich ausgegangen". Jelinek wende das romantische Motiv des Wanderers, der auszieht, um in der Welt das äußere Abbild seines inneren Seelenzustandes zu finden in eine leerläufige Bewegungsmanie der Gegenwart. Darin stecke auch ein Trauergesang über den Verlust des lyrischen Ichs, darüber, dass nur noch in ironischer Brechung vom Ich in der Welt die Rede sein kann. "Die Inszenierung hat dafür längst keine Bilder mehr. Denn die hübsche von Nikolaus Frinke errichtet Blumenwiese und das, was der Regie dazu einfällt, ist nun nicht mehr ironischer Kontrapunkt zum Text, sondern, nach immerhin drei Stunden, nur noch eine verbrauchte Idee."

In der Welt (12.9.2011) zeigt sich Matthias Heine zunächst inspiriert von Nikolaus Frinkes Bühne, die er als "größenwahnsinnigen Traum eines Albert Speer unter den Floristen" beschreibt. Was sich dann auf dieser Bühne szenisch entfaltet, hat ihn eher skeptisch gestimmt: Kriegenburgs Inszenierung nähere sich dem Text mit zu viel Ehrfurcht und Phantasien, die meist im Rahmen des Naheliegendsten blieben. Insgesamt verbreite die Inszenierung "meist einen betäubend zeremoniellen Duft". Sie sei schön, wunderbar anzuschauen, aber auch anstrengend und "gelegentlich ermüdend wie ein Staatsbegräbnis". Eine neue Stimmung werde allerdings im zweiten Teil des Abends angeschlagen: "Maria Schrader macht aus dem Vater-Drama im Drama einen atemberaubenden Tragödienhöhepunkt."

Insgesamt wirke der Abend mehr angestrengt als gelungen, ein zu dominantes Bühnenbild und eine überdeutliche Symbolik schafften immer wieder künstliche Distanz, urteilt Barbara Behrendt in der taz. Man könne Kriegenburg zwar nicht vorwerfen, dass er mit dem kitschgefährdeten Bühnenbild von Nikolaus Frinke auf billige Sentimentalität setze. Aber das Bild dieser Blumenwiese sei übermächtig, die Schauspielerinnen müssten dagegen anspielen. "Den Kampf gegen die Plastikblumen verlieren sie. In diesem Ambiente glaubhaft von Leid, Einsamkeit, Vergänglichkeit zu sprechen, ist schier unmöglich." Die Sprechkunst der Schauspielerinnen müsse jedoch hervorgehoben werden: "Wie sie es immer wieder schaffen, die Sätze so zu modulieren, dass man sich nicht im Jelinek-Sound verliert, dass man den Wortwitz in jedem Moment greifen kann, das ist schon bemerkenswert."

"Sauberes, gefahrloses Illustrationstheater" hat Dirk Pilz gesehen, der für das Feuilleton der Frankfurter Rundschau/Berliner Zeitung (12.9.2011) berichtet. Nach einer "schön ruhigen, schön uneindeutigen poesiereichen Einstiegsszene" sei bald "die starre Grundform dieses Dreistundenabends erreicht: Vorn spricht eine, hinten sind die anderen stumm beschäftigt." Und je länger sich die fünf tollen Schauspielerinnen so durch den Text pusselten, desto mehr schwände die Poesie, um einer strammen Spielordnung Platz zu schaffen: "Arbeitsauftrag: aus dem Text ordentlich aufgedröselte Motivstränge, Bildfolgen und Sinnzusammenhänge herausklopfen." Im Zuge dessen, so Pilz, gerate "Jelineks Grunderfahrung: keinen Halt zu haben", deutlich ins Hintertreffen: Kriegenburg täte immerfort so, als ließe sich die gesamte Lebens- und Biografienot geradewegs in Wort, Bild und Szene fassen. "Ja wenn es so einfach wäre!, möchte man mit Jelinek rufen."

Einen "Werbespot für den Sommer" sieht Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (12.9.2011) in Andreas Kriegenburgs Jelinek-Debüt. Da sich Inhalt und Form des "sperrigen inneren Monologs über die Abgründe zwischenmenschlichen Verhaltens" dann aber doch immer weniger zum "flachen Bild vom Sommerschlussverkauf sinnlicher Freizeitmode" fügen möchten, habe Andreas Kriegenburg zu einem probaten Mittel gegriffen, um alle Bruchstellen zu kitten: "Die Schauspielerinnen stellen möglichst das gestisch dar, was der Text gerade bereits sagt." Der komplizierte Text erhalte durch diese schlichte Didaktik "die schöne Atmosphäre von Nachhilfeunterricht." Briegleb fragt sich angesichts dieses "dritten Großversuchs einer Inszenierung, die scheitert", ob Jelineks "Winterreise" "überhaupt mit den Mitteln des Theaters zu bändigen ist" – oder ob es sich hier womöglich um den "Faust II des zeitgenössischen Dramas" handle.

Die "äußerst zynischen Passagen zum Kapitalismus" habe Kriegenburg gestrichen und sich "auf die Gestaltung der zwischenmenschlichen Ebenen" konzentriert, so Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen (15.9.2011). Der "verheißungsvolle Ansatz" von Schraads Bühnenbild, "den klirrenden Frost mit blühenden Pflanzen zu konterkarieren", breche schnell ab, und der Regisseur überlasse die Schauspielerinnen durchweg sich selbst. Herauskomme "ein nummernrevueartiger, assoziativ organisierter Zeitvertreib auf Jelineks unterkühlten Textflächen". Manchmal funktioniere die "illustrative Regiemethode, meist sorgt sie bloß für verlegenes Kunstgewerbe, dessen Dürftigkeit die eingespielten (...) Lieder aus der 'Winterreise' noch unterstreichen". Einzig Schrader Monolog, den sie "mit unerschöpflichen Stimmnuancen und Schattengesten ganz unsentimental" spiele, rette den Abend "vor der völligen Unverbindlichkeit". Kriegenburg komme der Sphinx Jelinek letztlich "nicht im mindesten auf die Schliche".

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