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Das hieße ja denken!

von Dirk Pilz

Berlin, 11. September 2011. Verführt mich! Stürzt mich in Anfechtung! Lasst mich zweifeln! Darum geht es doch, oder?

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© Arno Declair

Am Ende dieses Dreistundenabends in den Kammerspielen des Deutschen Theaters postiert sich Daniel Hoevels mittig auf dem goldglänzende Dollargroßzeichen; es folgt die harsche Ansprach' ans tumbe Volk. Hier der entscheidende Abschnitt: "Den Menschen ist beigebracht worden, Abhängigkeit als Tugend anzusehen. Der Mensch, der versucht für andere zu leben, ist abhängig. Er ist aufgrund seines Motivs ein Schmarotzer, und er macht Schmarotzer aus denen, denen er dient. Er schafft ein Verhältnis wechselseitiger Korrumpierung – sonst nichts." Das Übel dieser Welt: der Altruismus, mithin der Sozialstaat. Und: "Alle großen Gräueltaten der Geschichte wurden im Namen eines altruistischen Motivs begangen." Abhängigkeit oder Unabhängigkeit? Individuum oder Kollektiv? Darum geht es. Heißt: "Zivilisation ist der Prozess der Befreiung des Menschen von den Menschen." Heißt also: Der Einzelne ist alles, die Gemeinschaft ist nichts.

Glauben Sie das? Eben. Aber Daniel Hoevels spricht es – in gleisnerisches Messiaslicht getaucht, die Augen scharf gestellt, die Gesten weltumfassend – derart im Verführerhochton, dass er uns just dies glauben machen möchte, was in der Logik dieser Inszenierung für den Zuschauer bedeutet, sich in Denken zu üben, nämlich lieb gewonne Selbstverständlichkeiten, ungeprüfte Voraussetzungen in Zweifel zu setzen und also wider jenen ideologischen Stachel zu löcken, der in aller Denkselbstzufriedenheit nistet. Das ist ja die Freiheit (und Gefährlichkeit) des Denkens, gleichsam gegen sich selbst auch dort noch Alternativen als möglich zu erachten, wo einem alles unverrückbar scheint.

Wider die Wohlfahrt

Insofern ist dieser von Tom Kühnel und Jürgen Kuttner zu verantwortende Abend eine hervorragende Sache. Er will uns aus den Sofaecken der Geistesgemütlichkeit locken, setzt uns zur Prüfung vor, was wir uns längst abtrainiert haben, in Frage zu stellen. Vielleicht ist es ja doch so, dass die einzelnen, rücksichtslosen, von allem und allen Unabhängigen das menschlichste Gesicht zu tragen vermögen – und nicht die Propheten von Mildtätigkeit und Wohlfahrt, von Altruismus und gegenseitiger Abhängigkeit.

Und auch die Geschäftsgrundlage dieser Inszenierung ist eine feine, nämlich bestens streitbare Sache: der einstige Bestseller "The Fountainhead" (1943) von Ayn Rand, jener in Sankt Petersburg geborenen und vor knapp dreißig Jahren in New York verstorbenen Schriftstellerin, Philosophin und Radikaldenkerin, die das kapitalistische Prinzip schlicht und schonungslos zu Ende buchstabiert hat. Das kapitalistische Prinzip nach Ayn Rand lautet: Der Einzelne ist alles, die Gemeinschaft ist nichts. Nicht das Geld und nicht die Finanzwirtschaft macht den Kapitalismus, sondern dieses ethische Grundgebot eines durchnüchterten Egoismus.

Wider die Vielen

Der Roman hat dies allerdings in eine reichlich melodramatische Handlung gewickelt, die hier wiederzugeben nicht lohnt. Nur so viel: Es gibt da einen Architekten namens Howard Roark, der sich zum Prediger des wahren, unverfälschten Individualkapitalismus aufschwingt und zum bösen Ende eines seiner Bauwerke in die Luft sprengt, weil es nicht seinen Ideen gemäß, sondern in kompromisslerischer Rücksicht auf die Interessen der Vielen verwirklicht und damit also verraten wurde; diesen einen spielt Daniel Hoevels. Auf ihn kommt es an. Den Verführer. Den Herausforderer. Den Radikalen.

Allein, er läuft hier ins Butterweiche. Denn Kühnel und Kuttner meinen nicht nur, den ganzen melodramatischen Schmonzes spielen, sondern ihn in gleichem Spielzuge auch wieder zurücknehmen zu müssen, indem sie jedes Wort und jede Figur zu Kitschfilmwiedergängern  verfremden, immerfort also demonstrieren und ausstellen, dass wir es hier mit Schmonzes und keinem ernst zu nehmenden Geschehen zu tun haben. Funktioniert zehn Minuten, wird drei Stunden lang zur Qual.

Was soll das, wenn Kuttner als der Don Draper der supererfolgreichen US-Fernsehserie "Mad Men" auftritt? Was soll uns der Roark-Gegenspieler Peter Keating (Felix Goeser), wenn er nur der Gestenclown sein darf? Wieso die wimmernde Filmmusik? Wozu das dauernde zwangsironische Wortwürfeln? Und wieso überhaupt ein Dollardings auf der Bühne, wenn der Kapitalismus gerade nicht bloße Geldanbeterei ist?

Am Ende wirkt damit alles eingebuttert, was radikal, herausfordernd, provokant sein könnte. Und dass am Anfang dieses Premierenabends am 11. September 2011 die Skyline von New York eingeblendet wird und zum Schluss einer auftritt, der zum Terroristen in eigener Sache wird – die heikle Analogie verpufft zur bloßen Augenzwinkerei, ausgezahlt in braver Stadttheatermünze.

Wider den Zweifel

Vor einem Jahr haben Kühnel und Kuttner an selber Stelle Peter Hacks' Die Sorgen und die Macht herausgebracht. Auch das war eine Denkverführung, die Einladung, die Idee des Kommunismus nicht auf die gar zu leichte Schulter zu nehmen. Das Motto damals, mit Brecht gesprochen: "Lasst euch nicht verführen!" Lasst euch nicht einreden, dass diese Alternative für alle Zeiten ad acta gelegt sei. Ließen wir nicht. Aber mit Hacks haben sie es sich seinerzeit auch nicht so einfach gemacht, wahrscheinlich, weil "Die Sorgen und die Macht" ein ziemlich gutes, gehörig kompliziertes Stück ist. Der dazugehörige Abend war es auch.

Jetzt dagegen, mit "Capitalista, Baby!", sind Kühnel und Kuttner ziemlich schnell dort, wo wir uns inzwischen angewöhnt haben, die Wahrheit zu vermuten: Kapitalismus ist schlimm, Radikalismus ist schlimm, Rücksichtslosigkeit sowieso.

Kein Zweifel, keine Anfechtung nirgends.

 

Capitalista, Baby!
Nach "The Fountainhead" von Ayn Rand. Deutsch von Werner Habermeh
lRegie: Tom Kühnel, Jürgen Kuttner, Bühne: Jo Schramm, Kostüme: Daniela Selig, Dramaturgie: Claus Caesar.
Mit: Daniel Hoevels, Natali Selig, Michael Schweighöfer, Matthias Neukirch, Felix Goeser, Jürgen Kuttner.

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

"Nichts ist der dialektischen Reflexionsmaschine Kuttner und seinem Regie-Kompagnon Tom Kühnel absurd genug, um die Absurditäten der Gegenwart und ihre postideologische politisch-ökologische Korrektheit als Ideologie zu entlarven, na, zumindest um argumentative Verwirrung zu stiften", so Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung und der Frankfurter Rundschau (13.9.2011), und jetzt gebe es also von rechts einen nicht weniger freudig-fiesen Angriff auf die haltungslose Kleingeistigkeit. "Die Idee - Kapitalismuskritik durch aggressive Affirmation - ist großartig, der Stoff und die Schöpferin sind bizarr, und auch das Datum sitzt." Die Inszenierung selber aber bleibe überraschend eindimensional. Abgesehen von ein paar tollen Auftritten von Kuttner als Ayn Rand werde an der melodramatischen Romanhandlung entlang ironisiert - mit rhetorischer Meisterschaft, wie sie dem DT gebühre. Fazit: "Man wäre gern tiefer in die moralischen Dimensionen des Randschen Individualismus eingestiegen, aber die ironisch imprägnierte Inszenierung lässt einen nicht. Dennoch verdient der Abend für seine Abseitigkeit und Konsensfeindlichkeit den schönen, wohlgelaunten Applaus, den er einheimste."

"Kuttner und Kühnel erzählen – einigermaßen brav nach dem Drehbuch – die 'Fountainhead'-Story nach. Architekt will nach oben, macht aber keine Kompromisse", so Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (13.9.2011). Die böse Welt der Investorenhaie wirke hier aber eigentlich gar nicht so böse. "Die wollen doch nur spielen auf dem riesigen goldenen Dollarzeichen (Bühne: Jo Schramm). Der Grundton der Inszenierung liegt zwischen Märchen und Groteske. Es fehlt allen Darstellern an Schärfe und Kontur, jedoch nicht am Klischee."

Alteuropäischer Genie-Kult trifft auf kapitalistische Verkündigungs- und Thesenritter-Prosa und das werde "als schöne Mischung aus altem Hollywood-Film und Brecht'schem Lehrstück inszeniert, musikalisch wirkungssicher untermalt vom 'Parsifal'-Vorspiel", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (13.9.2011). "Jede Geste wurde vergrößert und ausgestellt, der Verfremdungseffekt in einer lässig-lustigen Pop-Variante." Auch das Bühnenbild lasse an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Ein riesiges, goldenes Dollarzeichen, in dessen Untergeschossen Büros und Schlafzimmer untergebracht sind.

"Wenig Glück" hat das Regieduo in den Augen von Irene Bazinger von der Frankfurter Allgemeinen (15.9.2011) mit Ayn Rand, deren Philosophie sie "mit lautersten Absichten aushebeln wollen". So gingen sie bald "auf den so dogmatischen wie intellektuell furiosen Leim dieser Eisernen Lady des Kapitalismus. Dadurch erscheinen deren knallharte Thesen, obwohl sie ironisch bis herablassend vorgetragen und komisch-grotesk gespielt werden, plötzlich viel interessanter als die reichlich bemühte Inszenierung." Musik aus Wagners "Parsifal" bilde "den Klangteppich für den überzeugenden Daniel Hoevels als übermenschlich-heroischen Architekten Roark".

Kommentare  
Capitalista, Baby!, Berlin: Wagner is it!
Es ist selbstverständlich nicht "wimmernde Filmmusik", sondern (fast ausschließlich) Musik aus Wagners "Parsifal" die da zu hören ist. Geschickt gewählt, wie ich finde.
Capitalista, Baby, Berlin: Information
Ach und ich vergaß: Ayn Rand ist vor knapp dreißig (!!) Jahren gestorben.

Danke. Wir haben es jetzt korrigiert.
nikolaus merck für die Redaktion
Capitalista, Baby!, Berlin: stimmt, sorry
puh, gleich zwei fehler. wieso kam mir der wagner bloß wie wimmernde filmmusik vor? und: aber ja: ayn rand ist 1982 gestorben. 2011 minus 1982: knapp 30.
ich bitte um entschuldigung.

dirk pilz
Capitalista, Baby! Berlin: ein kapitalistisches Manifest
Ayn Rand klingt spannend. Bei Slavoj Zizek ("Auf verlorenem Posten") habe ich etwas davon gelesen, dass Ayn Rand diejenige wäre, durch welche am ehesten ein "Kapitalistisches Manifest" verfaßt wurde. Was?! Ja. Genau. Es geht um unsere Blindheit für die Folgen der systemischen Gewalt des Kapitalismus. Zitat Zizek:

"Unsere Blindheit für die Folgen des 'systematisch Bösen' läßt sich vielleicht am besten an den Debatten über kommunistische Verbrechen ablesen. Hier läßt sich die Verantwortung leicht zuweisen; wir haben es mit subjektiv Bösem zu tun, mit Handelnden, welche die Taten begangen haben, und wir können sogar die ideologischen Ursprünge der Verbrechen ausmachen (Totalitarismus, das Kommunistische Manifest, Rousseau...). Richtet man die Aufmerksamkeit dagegen auf die Millionen Todesopfer der kapitalistischen Globalisierung - die Tragödie Mexikos im 16. Jahrhundert, der Völkermord in Belgisch-Kongo vor hundert Jahren usw. -, wird die Verantwortung abgelehnt: Diese Dinge geschahen einfach infolge eines 'objektiven' Prozesses, sie wurden von niemandem geplant oder ausgeführt [...]."

Da klingt natürlich sofort Adam Smiths Begriff von der unsichtbaren Hand des Marktes an. Oder anders formuliert:

"Der ökonmische Mensch ist zuverlässig durch Beschränktheit, sozial durch mangelnde Sozialität und wird dazu gebracht, durch seine Interessen und im Tausch einen ihm selbst äußerlichen Zweck hervorzubringen. Vor allem aber regiert er sich selbst und andere am besten, wenn man ihn nicht regiert. Nichts - und das wird eines der Leitmotove der späteren Liberalismen sein - ist schädlicher als eine Regierung, die das Gute will, und viel eher gilt hier ein mephistophelisches Programm, der Verweis nämlich auf eine Macht, die stets das Böse will und ungewollt das Gute, das Beste für alle tut." (Joseph Vogl, "Das Gespenst des Kapitals")

Stimmt denn das (noch)?! Seit der Aufhebung des Goldstandards im Jahr 1971 befinden wir uns doch bereits inmitten einer nur noch virtuellen Kreditökonomie, im Übergang von Warengeld zu Kreditgeld, von gedeckten zu ungedeckten Währungssystemen. Capitalista, Baby! Notbremse ziehen!
Capitalista, Baby! Berlin: umgekehrter Brecht
@ Inga
Um die Notbremse ziehen zu können, müßten Sie mitfahren. Da die meißten aber immer nur dem vorbeirauschenden Zug hinterher sehen, können Sie vielleicht ein paar schöne Zitate nachwerfen, oder nächstens besser versuchen einen kleinen Bremsklotz auf die Schienen zu legen. Mich darauf verlassen, dass das Finanzsystem irgendwann mit einem großen Knall selbst gegen einen Prellbock fährt, würde ich jedenfalls nicht.
Was bei Kuttner und Kühnel fehlt, ist der Bezug zur Gegenwart. Wer hat etwas von der Philosophie Ayn Rands, von wem wird diese Ideologie benutzt? Wir glauben immer alles schon zu wissen. Es geht wie bei Hacks um die Vereinnahmung von bestimmten Ideen und deren Wirkung. Sind Marx oder Rand noch Idealisten, müssen es die Nutznießer der Ideen nicht zwangsläufig auch sein. Darüber sollte man nachdenken, wenn man sich die Stücke ansieht.
Was bei dem neuen Stück auffällt, die Idee des grenzenlosen Individualismus soll sich hier selbst entlarven. Ob das immer so ankommt, bezweifele ich. Kuttner und Kühnel machen es sich da zu einfach. Interessant ist hier die Wirkung des umgekehrten Brechts. Ich verfremde alles bis zur Karrikatur und sprengsele dann an passender Stelle den Meister selber ein. "Wohin gingen an dem Abend, wo die chinesische Mauer fertig war, Die Maurer?" Der Individualist braucht Menschen, erstens um seine Idee finanzieren zu können und zweitens um sie zu errichten. Nicht nur Geld auch Menschen sind Mittel zum Zweck. Indirekt wird er so zu dem, was er eigentlich nicht sein will, zum Schmarotzer an menschlicher Arbeitskraft, der Umwelt oder gar am Elend anderer. Das ist auch bei virtuellen Werten an der Börse nicht anders. Rands Theorie funktioniert nur in der Utopie, ähnlich wie der Kommunismus. Nur das man vom Kommunismus nicht mal sprechen darf, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen. Das müssen Verfechter des grenzenlosen Kapitalismus nicht. Also alle Banker in die Wüste oder auf eine einsame Insel, mal sehen, wer mit seinem Ego am weitesten kommt.
Capitalista, Baby!, Berlin: raffinierter Musikeinsatz
Sehr geehrter Herr Pilz,
ich vermute, daß Ihnen Wagner wie "wimernde Filmmusik" vorkam, liegt daran, daß us-amerikanische (oder, um genauer zu sein, Hollywood-) Komponisten sich den "Vorschriften" ihrer Produzenten gebeugt haben und bis zum Ende der 40er Jahre des 20. Jhd. im Stile der (vor allem) deutschen Spätromantik komponieren mußten/sollten/wollten. Man kann sich in der Tat manchmal nicht sicher sein, ob man Wagner, Herrman oder gar Williams hört. Und wie Ihnen unzweifelhaft bewußt ist, werden wir in guten und miesen Hollywood-Produktionen permanent mit dieser Art von Musik konfrontiert. Wie ich oben schon schrieb, finde ich die Musik gut (geschickt) gewählt. Um es zu erklären: Sie sagen, daß es ich nicht lohne, die Geschichte/ den Plot in einer Rezension wiederzugeben. Geschenkt. Ich empfand es als feine Ironie (neben der Spielweise), die es mir spielend ermöglichte, mich mit der These des Stückes zu beschäftigen. Anders gesagt: Die Musik war so fett, daß ich sie schon wieder überhören konnte. Der Versuch zu behaupten, daß Individual-Kapitalismus etwas sehr amerikanisches, fremdes ist und dann schleichend mich mit bekannten Thesen zu konfrontiern, finde ich ebenso raffiniert, wie den Einsatz der Musik. Und m.E. beflügelte die Musik die Darsteller. Und eben diese Musik hat große Korrumpierungs-Qualitäten (Herrje, gibt es dieses Wort?)
Capitalista, Baby!, Berlin: paradoxes Gegengift
@ Stefan: Ich weiss nicht, ob ich Sie richtig verstanden habe. Mir ging es nicht darum, das kapitalistische System zu verteidigen. Ich sehe Ayn Rand vielmehr als paradoxes Gegengift zu der These, dass das kapitalistische System - jedenfalls in der Form der virtuellen Finanzökonomie - ohne Alternative sei.

Wer mit der Ideologie von Ayn Rand argumentiert, das steht ja bereits auf der Homepage des dt: Zum Beispiel der ehemalige Chef der US-Notenbank Alan Greenspan, Zitat aus Wikipedia: "Bevor ich Ayn Rand traf, war ich freier Marktwirtschaftler im Sinne von Adam Smith, beeindruckt von der theoretischen Struktur und Effizienz der Märkte. Was ich ihr verdanke, das ist die Einsicht, dass der Kapitalismus nicht nur effizient und praktisch ist, sondern auch moralisch." Wie bitte?!

Auch die christlich-konservative Tea-Party-Bewegung argumentiert mit Ayn Rand. In beiden Fällen ist Ayn Rand wohl eher als Anti-Utopistin zu bezeichnen. In der Konsequenz die Notbremse zu ziehen, das heisst für mich also: Was tun gegen die These der moralischen Überlegenheit des Kapitalismus! Weg mit dem Pessimismus der grassierenden Untergangsstimmung! Zurück in die Zukunft der kommunistischen Utopie! Mut zum Politischen!

Mich würde allerdings interessieren, in welcher Form der Wikileaks-Gründer Julian Assange in diese Inzenierung eingebaut wurde. Können Sie dazu etwas sagen? Ich habe hier ja zunächst einmal nur meine Gedanken spielen lassen, ohne die Inszenierung gesehen zu haben. Das kommt noch.
Capitalista, Baby!, Berlin: Soap lenkt vom Thema ab
Dirk Pilz trifft es ganz gut: Ein spannendes, herausforderndes Thema - das in der Umsetzung nur großenteils verloren geht. Diese unerwartete sex and crime soap lenkt - trotz einiger witziger Momente - vom Grundthema ab. Hier hätte man lieber - wie bei Sorgen und die Macht - den ein oder anderen Bezug zur Gegenwart einstreuen sollen.

Irritiert hat mich auch der Kapitalismus-Fokus in den Ankündigungen. Faktisch geht es gar nicht um die Wirtschaftsordnung, sondern eine individuelle, hier extrem liberale Wertehaltung. Insofern ist Howard Roark viel weniger ein Gordon Gecko denn ein Michael Kohlhaas. Kein kühler Nutzenmaximierer, sondern ein einsamer, für seine Weltanschauung streitender Idealist.

So sehr ich Daniel Hoevels schätze, so wenig geeignet fand ich ihn - trotz tollen Schlussmonologs - für die Rolle des einsamen Streiters. Den hätte ich gerne mal durch Felix Goeser gegeben gesehen.
Capitalista, Baby, Berlin: dialektisch gedacht
So. Gesehen. Gehört. Gedacht. Das hier ist kein abgeschlossenes Kunstwerk mit eindeutigem Sinnzusammenhang, sondern es geht vielmehr darum, die Vielheit und Verschiedenheit der Perspektiven auszuhalten. Die sich innerhalb und zwischen den Figuren bzw. Schauspielern vollziehenden dialektischen Prozesse zu durchlaufen. "Capitalista, Baby!" ist weder Kapitalismusschelte noch Kapitalismusbejahung, sondern der Weg durch die Mitte, welcher meinem Denken permanente Richtungswechsel ermöglicht. Ich ertappe mich dabei, wie ich Ayn Rands Thesen zum Teil ablehne, zum Teil nachvollziehen kann, besonders in Bezug auf den Architekten bzw. Künstler Howard Roark (Daniel Hoevels), welcher vom auch nur vermeintlich selbstlosen Humanisten Ellsworth Toohey (Matthias Neukirch) als asozial abgestempelt wird, wo die Vorstellungs- und Gestaltungskraft zu hoch hinaus will. Edel sei der Mensch, hilfreich und gut. Ja, bloß ändert das was? Also doch die Welt als Wille und Vorstellung. Ja, aber warum immer nur als Wille und Vorstellung eines Einzelnen bzw. angeblichen Genies? Kann das nicht im Grunde jeder Zuschauer bzw. Bürger? Ja, aber nicht unbedingt liebliche Aquarelle. Denn es geht um folgendes: sich nicht als objektiv und unparteiisch aus den Dingen herauszuhalten, sondern aus einer inneren Notwendigkeit und Dringlichkeit heraus zu schaffen/handeln.
Im Verlauf der Inszenierung wird offenbar, dass auch der heroische Individualismus des Künstlers eine Illusion ist, weil dieser immer abhängig von Anderen ist, auf der einen Seite von den Arbeitern bzw. dem technischen Personal, auf der anderen Seite von den Medien, welche das Meinungsmonopol und damit die Definitionsmacht besitzen. Hier könnte man Julian Assange einschieben: Glaub nicht alles, was dir durch Politiker und/oder Journalisten vorgesetzt wird, sondern informier dich und beginne, eigenständig zu denken und zu recherchieren. Auch diese Inszenierung erfordert in diesem Sinne den emanzipierten Zuschauer.

In meinem Kopf bilden sich offene bzw. widersprüchliche Fragen heraus: Hat Ayn Rand mit ihrem Roman "The Fountainhead" nicht letztlich die abgeschlossene Illusion eines reibungslos funktionierenden Kapitalismus erschaffen, wonach gilt, dass wenn jeder nur seinen eigenen Interessen nachgehe, dies automatisch der Gesellschaft zugute komme? Arbeit, Leistung, Flexibilität, Selbstverwirklichung - ist das die Freiheit, nach der wir suchen? Auf dem Weg ins Theater lese ich auf einem noch nicht entfernten Wahlplakat der FDP den Slogan "Freiheit statt Bevormundung". Ja, für wen eigentlich? Tom Kühnel und Jürgen Kuttner betreiben hier im Grunde einen Exorzismus des Kapitalismus, dass man es beinahe mit der Angst zu tun bekommt. Sind wir nur Teil eines sozialen Experiments? Soll uns hier unser Mitleid und unsere Schuldgefühle (Stichwort: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus) systematisch ausgetrieben werden? Zeigt sich in den über das Mikro verzerrten Stimmen der kapitalistische Exzess bzw. der Todestrieb des Kapitalismus? Sind wir längst zu Zombies mutiert, welche immer schneller, höher, weiter hinaus wollen? Kann ich eine solch abgeschlossene, schwarz-weisse Weltsicht, wie Howard Roark sie in seinem letzten Monolog aufmacht, tolerieren? Gibt es nur Egoismus versus Altruismus, Schöpfung versus Schmarotzertum, Sadismus versus Masochismus, Privatheit versus Öffentlichkeit? Nein! Es geht um die Dekonstruktion solcher durch den Logos bestimmter dualistischer Weltbilder, es geht um das Suchen und Finden einer Position zwischen Affirmation und Negation. Das Individuum hat einen freien Willen. Zugleich muss es sich mit dem es umgebenden politisch-ökonomischen Kontext des Kapitalismus auseinandersetzen, um sich davon befreien zu können. Freiheit, dieser Begriff lässt sich nämlich nicht nur von der egoistischen Perspektive der FDP aus lesen, sondern ebenso von der Perspektive des sozialen Gegenübers: "Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden" (Rosa Luxemburg). Ja! Die Zivilgesellschaft zeichnet sich durch Öffentlichkeit aus! Oder: Wem gehört die Stadt? Brauchen wir das Hotel neben dem Tacheles in Berlin wirklich? Braucht Hamburg die Elbphilharmonie? Und was sagt das Gängeviertel dazu? Welche Gebäude öffnen sich im Sinne eines historischen Gedächtnisraums? Wir sollten uns wie die Maulwürfe aus der Vergangenheit in die Zukunft emporarbeiten! Der Grundriss zählt, nicht die Fassade! "Capitalista, Baby!" geht mit Ayn Rand über Ayn Rand hinaus. We shall overcome! Volle Imaginationskraft voraus! Hin zu einer solidarischen Bürgergesellschaft! Mit den Händen denken! Das (eigene und fremde) Leid ist keine Tugend, sondern es muss bekämpft werden! Wir müssen Sorge tragen! Die Zeiten der geregelten Verantwortungslosigkeit sind vorbei! Ausrufezeichen.
Capitalista, Baby!, Berlin: New York als Gralsburg
Komme gerade aus "Capitalista Baby" und habe die Aufführung sehr genossen.
Gerade auch, weil die Musik irrsinnig gut eingesetzt ist.
Gleich am Anfang z.B., wenn man diese Pathos-besoffene Ode auf New York und den Fortschritt hört und die wunderbaren New York-Bilder dazu sieht und dann erkennt, dass das gleichzeitige Parsifal-Vorspiel den Heiligen Hain der Gralsritter beschreibt, dann ist dieses Sakralisierung der Hauptstadt des Kapitalismus als Gralsburg schon irrsinnig komisch.
Jeder einzelne Musikeinsatz hat so einen Nebensinn. Wenn Dominique und Howard Sex ohne Liebe machen in der durch und durch materialisierten Welt erklingt die Kundry-Verführungsszene und man lacht sich tot über Dominiques hochtrabende Philosophie der Erotik. Oder wenn das Dollarzeichen des Bühnenbildes enthüllt wird und Howard seinen ersten Großauftrag ablehnt wird dazu die Gralsenthüllungsmusik gespielt als wären die Konzernvorstände höhere Wesen.
Dieser witzige Umgang mit Wagner und vor allem mit dem Pathos als Opium der Völker ist schon enorm unterhaltend und anregend. Kuttner hat da eigentlich auf der musikailschen Ebene dasselbe gemacht wie mit den Filmzitaten auf schauspielerischer Ebene.
Dass der Abend das große Thema nicht wirklich auslotet - so what? Er wählt eben einen leichten, ironischen Zugang dazu. Man muss doch nicht an alles die Bleigewichte des Tiefsinns hängen.
Capitalista, Baby!, Berlin: Leserkritik
Ayn Rand ist eine hochinteressante Figur der US-amerikanischen Philosophie. Der Guru der Finanzmärkte, der ehemalige US-Notenbank-Chef Alan Greenspan, berief sich ebenso auf ihre Thesen wie Julian Assange, das Idol der Open Data-Bewegung und Wikileaks-Kopf. Auch in einem feuilletonistischen Beitrag der Süddeutschen Zeitung über den Überraschungs-Coup, mit dem die Piraten das Abgeordnetenhaus von Berlin im September 2011 enterten, durfte ihr Name nicht fehlen.

(...)

Leider ging das Konzept des Regieduos Tom Kühnel und Jürgen Kuttner, der dem Berliner Publikum durch seine Volksbühnen-Monologe bekannt ist, nicht auf. Das ältere Ehepaar neben mir zog am Ende das Fazit: "Wie langweilig!"

Interessante Ansätze gab es allerdings durchaus. Wie bei Kuttner als Stilmittel üblich liefen zu Beginn Videoschnipsel in Endlosschleife über die große Leinwand vor der Bühne: Ayn Rand sprach in alten Schwarz-Weiß-Interview-Aufnahmen über ihre Weltsicht. Furios war sicher auch der Schlussappell des Hauptdarstellers Daniel Hoevels, der ein weiterer Lichtblick des Abends war und hoffentlich noch öfter in wichtigen Rollen am Deutschen Theater Berlin zu sehen sein wird. In diesen wenigen Minuten lernte man das Gedankengebäude von Ayn Rand etwas besser kennen.

Kompletter Text: http://kulturblog.e-politik.de/archives/122-capitalista-baby-langweilig-trotz-ayn-rands-thesen.html
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