Archiv der zukünftigen Ereignisse - Hofmann & Lindholm bieten eine Tour in die Zukunft an, in der Köln auf sich selbst zurückschaut
Bitte achten Sie auf den Straßenverkehr!
Von Klaus M. Schmidt
Köln, 15. September 2011. 15.35 Uhr. Ich bin der blaue Punkt. Auf der Karte von Google-Maps. Auf dem Display des Smartphones, das mir vor fünf Minuten im Foyer des Kölner Schauspielhauses ausgehändigt wurde.
Kaum zur Tür heraus, kann ich gleich wieder stehen bleiben, denn direkt neben dem blauen befindet sich ein orangener Punkt. Der steht für Station Nr. 2 des Archivs der zukünftigen Ereignisse. Das ist das Schauspielhaus selbst. Auf der Karte im Faltblatt, das ich zusammen mit dem Smartphone bekommen habe, sind nicht weniger als 37 orangene Punkte verzeichnet.
Wenn der blaue und ein orangener Punkt nah genug beieinander liegen, was per GPS automatisch festgestellt wird, dann wird das zur Station gehörige Archiv-Audio in die Kopfhörer geladen. Im Fall des Schauspielhauses ist es die "Abschiedsrede der Intendantin" Karin Beier – im Sommer 2013. Sie wolle "kein politisches Statement" abgeben, sagt sie und hält sich dran. Sie kartet nicht nach. Ihre Schlachten hat sie geschlagen, und sie freut sich auf die große Aufgabe am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg.
Pflichtpunkt: Station 30
Gleich um die Ecke stellt sich die Musik, die erklingt, wenn man nicht in der Nähe einer Station ist, schon wieder aus. In der Opernpassage ist die GRS ansässig, die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit. Im Audio zur Station wird das Szenario eines Störfalls in einem Kernkraftwerk im Umkreis von Köln entwickelt. Gerade schiebt eine junge Mutter ihren Kinderwagen an mir vorbei, als ich die letzten Sätze höre: "Eine Evakuierung der Stadt war nie vorgesehen. Diese Aufgabe ist nicht zu bewältigen."
Station 30 ist sicherlich ein Pflichtpunkt, auch wenn sie schon etwas außerhalb der Kölner Innenstadt liegt, in der sich die Mehrzahl der Stationen befindet: der Ort, an dem bis März 2009 das Kölner Stadtarchiv stand. Bernd Streitberger, Baudezernent der Stadt Köln, schildert seinen Besuch "im stillen Raum" im November 2017. Dieser Raum sei ein Raum zum Gedenken an die zwei Opfer des Archiveinsturzes. "Die Stadt Köln stellt sich ihren Verpflichtungen aus der Geschichte", sagt Streitberger nachdenklich.
Ich mache mich wieder auf. Weil ich zwecks Berichterstattung unterwegs bin, muss ich mit Block und Stift hantieren. Mit dem Block erwische ich die Rücktaste des Handys, das unterbricht die Übertragung.
Aber auch ohne mein Handwerkszeug wäre das hier kein leichter Spaziergang. Die Fahrgeräusche der Autos nimmt man trotz Kopfhörer noch wahr, die Fahrradfahrer sind zu leise. Beinahe erwische ich einen Kurierfahrer auf seinem Fahrrad – oder er mich. "Bitte achten Sie auf den Straßenverkehr!", steht im Faltblatt.
Köln, Stadt der Elektroautos
Zukünftige Wahlreden höre ich auf dem Heumarkt – und schmunzele über den CDU-Mann Winrich Granitzka, der seine Partei 2019 als ökologische Kraft darstellt, die Köln zur Stadt der Elektroautos gemacht hat.
Im Umfeld von Philharmonie, Museum Ludwig und Dom häufen sich die Stationen. Geht man zu schnell, bricht die nächste Übertragung die vorige ab. Das könnte vielleicht noch ein wenig entzerrt werden.
18.40 Uhr. Ich stehe im Schatten des Doms vor dem Kölner Hauptbahnhof. Ich bin seit über drei Stunden unterwegs, und meine Füße teilen mir unmissverständlich mit, dass das für sie eine lange Zeit ist. 15 Stationen bin ich bis hierher abgelaufen. Auch ohne Notizblock wäre der komplette Archivrundgang an einem Nachmittag nicht zu bewältigen, soviel steht fest.
Sven Lindholm und Hannah Hofmann gelingt mit dieser begehbaren akustischen Installation Paradoxes: Man wird der realen Stadt einerseits gen Zukunft entrückt, andererseits kommt man ihr nahe, weil hier nur durch eigene Bewegung etwas zu erfahren ist. Ohne das Archiv-Handy fällt mir auf dem Weg zum Bahnhof auf, dass ich nur noch pragmatisch auf den Weg achte. Meine Aufmerksamkeit ist wieder auf das Nötigste beschränkt. Aber Sätze von Karin Beier und Bernd Streitberger spuken mir noch durch den Kopf.
Archiv der zukünftigen Ereignisse
Pre-Enactment von Hofmann&Lindholm
Ein Projekt von Deutschlandradio Kultur und Schauspiel Köln in Koproduktion mit Hofmann&Lindholm im Rahmen der Reihe Radioortung, Hörspiele für Selbstläufer
Konzept, Text, Regie: Hofmann&Lindholm, Produktionsassistenz: Robert Christott, Koordination: Kerstin Kohle, Technische Realisation: Peter Harrsch
www.schauspielkoeln.de
www.dradio-ortung.de
Die Ereignisse dieses Stadtrundgangs bilden "eine perfekte Mischung aus Persönlichem und Öffentlichem, Profanem und Berührendem, Heiterem und Erschreckendem", schreibt Jessica Düster im Kölner Stadt-Anzeiger (17./18.9.2011). "Man hört in die Zukunft hinein, während man die Gegenwart sieht – ein durchaus eindringliches Erlebnis". Szenen, wie diejenigen rund um das eingestürzte Stadtarchiv, "wühlen auf und wollen erst einmal verarbeitet werden". Dafür sei auf der Tour zwar nicht allzu viel Verweildauer eingeräumt. "Was wie ein Manko scheint, erweist sich jedoch als sinnvolle Rücksichtnahme auf die eigene Aufnahmekapazität. Schließlich kann man jederzeit zurückkehren in dieses faszinierende Archiv, diese logistisch ausgefeilte und inhaltlich komplexe Utopie von Hofmann&Lindhom."
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