Abwarten und Tee trinken

von Simone Kaempf

Berlin, 16. September 2011. Zwischenzeitlich schien er tatsächlich dem Theater den Rücken gekehrt zu haben. Bis auf eine szenische Einrichtung von Sven Regeners Der kleine Bruder mit Studenten der Berliner Ernst Busch-Schauspielschule, die partout nicht als Premiere angekündigt war. Aber nun ist er wieder da. Leander Haußmann! An der Volksbühne! Mit einem Ibsen und bester Besetzung! Die Pause schmilzt plötzlich zur Kunstpause. Großer Andrang, großes Interesse. Ein dreieinhalb Stunden-Abend auch noch, alles scheint da plötzlich möglich: Großes Gefühlsdrama, Parodie auf ideologisch verblendete Lebensanschauung, Spannung um den ungeklärten Tod einer Frau.

Zum Tee gibt's Emotionen
Suspense bleibt Leander Haußmann mit seiner "Rosmersholm"-Inszenierung allerdings schuldig. Es ist ein Sprech- und Bekenntnisheater geworden. Über weite Strecken kleben die Figuren in der Biedermeier-Sitzgruppe und reden. Reden darüber, wie geistige Radikalität draußen zunimmt und sich Gesinnungen wandeln. Dazu wird Tee getrunken, und wenn die Emotionen überkochen, geht auch mal das Geschirr zu Bruch. Das könnte spannend sein, geht es in Ibsens Stück ja um innere Freimachungen und selbstauferlegte Verbote. Aber man spürt wenig davon, dass die Figuren durch die Ereignisse in der Vergangenheit geprägt sind, spürt genauso wenig von der unterschwellligen Aufladung der Beziehungen untereinander, und ihr Reden wirkt szenisch seltsam unverbrieft.

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Peter Lohmeyer schreitet ins hohe Dunkel, Margit Castensen ist auf dem Sofa eingeschlafen.
© Thomas Aurin

Das Bühnenbild atmet alte Zeit. Biedermeierliche Stühle und das Sofa sind präsent, rechts ein Grammophon, eine Konsole, darüber ein Gemälde der verstorbenen Frau Rosmer. Ein wenig stilisiert von Bühnenbildner Uli Hanisch, der Filme wie Tom Tykwers "Das Parfum" oder Sönke Wortmanns "Das Wunder von Bern" ausgestattet hat, aber auch historisch ernst gemeint. Anfangs deuten sich noch Brechungen an. Da kommt die großartige Margit Carstensen als Haushälterin Helseth auf die Bühne, lässt mit einem Fingerschnipp die elektrischen Kerzen anspringen und signalisiert mit jeder Faser, dass sie dem ganzen Theaterapparat hier gehörig auf den Puls fühlen wird.

Aber solche selbstironischen Momente bleiben rar. Die Inszenierung hängt viel zu dicht am Text, gefüllt mit durchaus sympathischen Figuren. Man schaut Annika Kuhl gerne zu, wie sie ihre Rebekka West nicht als berechnendes Luder, sondern als ein leutselig-argloses Mädchen spielt. Peter Lohmeyers Johannes Rosmer ist daneben eher eine trockene Figur. Dass er "abtrünnig" geworden ist, seine politische Gesinnung gewechselt hat, in irgendwelche politischen Lokalintrigen geraten ist – man ahnte es nicht, wäre nicht soviel die Rede davon.

Abgründigstes Element: eine Holztreppe
Wie er umständlich nach seinem Lorgnon sucht, sich dann tief über die Zeitung beugt und aus dem Schmähartikel über sich liest, das symbolisiert den ganzen Umgang der Inszenierung mit Ibsens Stück: Den Figuren plan vor die Nase gehalten. Abgründe tun sich nicht auf, auch wenn alles gut gemacht ist und die Szenen im zweiten Teil mehr Dichte entwickeln. Abgründigstes Element bleibt die massive Holztreppe im Hintergrund auf der Drehbühne, die ab und zu in Gang gesetzt wird und deren schweren Stufen sich zentralperspektivisch nach oben winden. Am Ende steigt das verkappte Paar Rebekka und Rosmer Hand in Hand nach oben, vielleicht in den Tod, vielleicht in die Ehe. Die Bilanz fällt auf der Treppe eher nüchtern aus: es hat sich an diesem Abend niemand den Hals gebrochen, aber bezwungen wurde auch nichts. Schade.

Rosmersholm
von Henrik Ibsen, in der Übersetzung von Paul Schlenther und Julius Elias
Regie: Leander Haußmann, Bühne: Uli Hanisch, Kostüme: Doris Haußmann, Dramaturgie: Carola Cohen Friedlaender.
Mit: Peter Lohmeyer, Annika Kuhl, Ralf Dittrich, Uwe Dag Berlin, Axel Wandtke, Margit Carstensen.

www.volksbuehne-berlin.de


Mehr zu Leander Haußmann? 2009 ließ er sich zum letzten Mal im Theater blicken – und setzte mit Studierenden der Berliner Schauspielschule "Ernst Busch" Sven Regeners Roman Der kleine Bruder in Szene. Noch mehr: im Lexikon.

 

Kritikenrundschau

Hartmut Krug sprach am Premierenabend (16.9.2011) im Kulturmagazin Fazit auf Deutschlandradio die Kritik, auf der Webseite des Deutschlandfunkes kann man nachlesen, dass er "ein mit heftiger Symbolik befrachtetes Bedeutungsspiel" sah, einen "zähen Kampf der unendlich vielen Worte". Das Stück sei "zugleich psychologisierende Liebesgeschichte wie philosophierendes Kriminalstück" und wirke "mechanisch bis komisch". Bei Haußmann, der das Stück "weitgehend grundernst" nähme, wirkten die Figuren wie "reine Theaterfiguren" und die "Inszenierung wie ein Ufo, das sich aus Opas Stadttheaterzeiten in die Volksbühne verirrt" habe. Dass "jeder Figur ein skurriler Haltungsaussetzer für eine Wirkungsnummer" gestattet werde, sei eine "Beliebigkeit, die am biederen schauspielerischen Oberflächen-Bedientheater des Abends" wenig ändere. Nur Margit Carstensens bringe "einige spökenkiekerige Skurrilität ins Spiel". "Ein merkwürdiger und heftig misslungener Abend".

Als "Herausforderung für die Augenlider" empfand Christine Wahl im Berliner Tagesspiegel (18.9.2011) diesen Abend. Leander Haußmann hat aus dem Stück aus ihrer Sicht eine Konversations-Soap im historisierenden Gewand gemacht, bei der sie sich zunächst sogar fragt, ob die Komik, "mit der etwa Peter Lohmeyer als Rosmer seine Hände in die Luft wirft und feuchten Auges Lebenserkenntnisse referiert, freiwilliger oder unfreiwilliger Natur ist". Sie kann diese Frage allerdings spätestens "wenn kurz darauf Rosmers früherer Lehrer (Uwe Dag Berlin) mit schwerfälligem Theater-Humor auf einen Sessel pinkeln muss oder Kroll (Ralf Dittrich) den Salon durch den Gründerzeitschrank entern und mit Rebekka (Annika Kuhl) ein Tänzchen aufs Parkett legen darf" zugunsten der Freiwilligkeit entscheiden. Dennoch erscheint der Kritikerin der Abend zunehmend zäh. "Die Minimalparodie, die Haußmann als Alternative zur schrillen Dekonstruktion im Blick hat, ermüdet dann doch."

"Haußmann, dem ein Billy Wilder vielleicht doch etwas näher ist als ein Henrik Ibsen, nutzte jeden sich bietenden Moment zu Klamauk," schreibt Johanna Adorján in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (18.9.2011). Da sich aus ihrer Sicht allerdings kaum Momente dazu bieten, wirkte die Inszenierung auf sie insgesamt ein wenig, "als würde man ja gerne, könne aber aus bestimmten Zwängen nicht.

Irene Bazinger schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (19.9.2011), Leander Haußmann mache "aus allen Mitspielern Herumsteher und aus allen Requisiten Herumstehendes: Nippes, nichts Triftiges". Offenbar genieße es der frühere "Theaterklassenkaspar" über "drei ziemlich lange Stunden hin, ungerührt und betulich historisierend vom Blatt zu inszenieren". Alsbald wirkten "das gediegene Inventar und die getragene Sprech- und Spielweise" unfreiwillig komisch und wie ein Ausdruck "erheblicher Ratlosigkeit" gegenüber einem "so komplexen Werk". Das Ensemble klammere sich "reichlich hilflos an den Text" und arbeite ihn "mehr tapfer als inspiriert ab". Zwischendrin gelängen "treffende, mitunter unerwartet spaßige Momente". Eine "mächtige Freitreppe" verweise "am Schluss auf den doppelten Freitod". Die "famos intensive Margit Carstensen" sei "die Einzige", die "stets ganz und gar für ihre Rolle" einstehet, mit "Herz und Hirn und souveräner Präsenz".

Peter Laudenbach schreibt in der Süddeutschen Zeitung (19.9.2011) über das "verquälte Ibsen-Stück" mit seinen Bürgern, "ihren verkrampften Moralzuckungen, ihren ausgetrockneten sexuellen Regungen, ihrem ganzen nicht gelebten Leben". Auf der Bühne fielen allerdings die "Posen des vermeintlichen Antibürgers" Ulrik Brendel (Uwe Dag Berlin) "noch ein paar Nummern infantiler und trostloser aus" als die der Bürgerwelt. Das sei keine "neue Entdeckung", aber an der "berufsjugendlichen Volksbühne, dem trostlosen Bunker eines inzwischen doch etwas modrig gewordenen radical chic, fast schon subversiv". Mit "Rosmersholm" seien Leander Haußmanns "Regiekünste im Muff" angekommen, er lasse alles mit "einer unglaublichen Zähigkeit", dafür "ohne erkennbares Erkenntnisinteresse oder Sensibilität für seine Figuren" endlos ausspielen. Peter Lohmeyer als Rosmer nuschele "bedauernswert ausdrucksarm". Annika Kuhl als Rebekka stanze "ihre Figur routiniert aus". Einzig die "großartige Margit Carstensen" bringe in die graue Langeweile dieses Abends lebendige Momente".

In der Tageszeitung Die Welt (19.9.2011) schreibt Matthias Heine: Ausgerechnet das "schwierige Stück 'Rosmersholm'" habe sich Leander Haußmann für sein Comeback als Theaterregisseur ausgesucht. Haußmann sei eigentlich "schon immer ein Konservativer" gewesen, im Theater lasse er sich seine Kostüme von der Mutter entwerfen, die Musik sei "Jahrzehnte alt". Peter Lohmeyer spiele den Rosmer "als eher zarten, etwas blutarmen Schwärmer". Die "lange, lange Treppe" symbolisiere die Distanz zwischen Rebekka und Rosmer. Sie gingen nur einmal zusammen die Treppe hoch: Nämlich gemeinsam in "den Freitod" am Ende. Haußmann serviere das Drama "mit all der Liebe zum schönen alten Theater", zu der "dieser Romantiker" fähig sei. Aber man schmecke "den Staub". Die "Zwänge dieser Ibsen-Figuren" seien uns "sehr fremd geworden".

In den Blättern der DuMont-Gruppe, der Frankfurter Rundschau und der Berliner Zeitung (19.9.2011) schreibt Ulrich Seidler über Haußmanns "vornehmtuerische Opihaftigkeit". Gesehen hat er dreieinhalb Stunden "Stilmöbelsitzgruppenherumgesitze", "Teetasseneinschenkerei und –umrührerei" sowie "papiernes psychopathetisches Herumgesülze". Das Bühnenbild bestehe "in der Grundidee" aus sechzig Ahnengemälden und einer "bedeutungshuberischen, dramatisch ausgeleuchteten Treppe", die allerdings kaum benutzt werde. Die Schauspieler gingen mit "starrsinnig ausgestellten Ideenlosigkeit des Regisseurs professionell" um. Peter Lohmeyer als Rosmer führe "mit angemessener Eitelkeit seine antriebsschwache Noblesse" spazieren. Annika Kuhl probiere "mit Engagement Spielweisen, in deren Variantenreichtum die Figur Rebekka verloren geht", Ralf Dittrich lasse den Dogmatiker Kroll "durchs Mobiliar knattern". Allein Margit Carstensen fülle "das große leere Einerlei mit glaubhaftem Ausdruck". Der Abend sei "auf uninteressante und quälende Weise misslungen".

In der Zeit schreibt (22.9.2011) Peter Kümmel, aus der "beklemmenden Geschichte der Familie Rosmer" gewinne Regisseur Haussmann "eine unterschwellige, bisweilen nicht ganz freiwillige Komik". Die Aufführung stehe "wie frierend auf einem heißen, explosiven Feld – auf verkniffenem, verbotenem, ungelachtem Gelächter". Haußmann inszeniere an Frank Castorfs Volksbühne über weite Strecken "texttreu" und "naturalistisch", doch zwischendurch fiele ihm immer wieder ein, "wo er sich hier befinde" und als zahle er eine "stilistische Maut", zitiere er dessen Stil. Dann feuere er, "aus einer konventionellen Inszenierung heraus, kleine Dekonstruktionsraketen".

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