Das Muss der Masse

von Andreas Volk

Warschau, 17. September 2011. Seit einigen Jahren ist das deutschsprachige Theater in Polen schwer angesagt. Polnische Theaterschaffende begeistern sich für Pucher, Marthaler, Goebbels, Pollesch & Co., pilgern zu deren Wirkungsstätten und lassen sich von ihren westlichen Kollegen inspirieren. Die gute Presse, die das deutschsprachige Theater derzeit an der Weichsel genießt, dürften das Goethe-Institut und die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit dazu bewegt haben auch bei René Polleschs zweiter Inszenierung am Theater TR Warszawa als Co-Produzenten mit einzusteigen. Theater gilt momentan als attraktiver Exportartikel deutscher Kulturpolitik, diesen Eindruck gewinnt man zumindest aus polnischer Perspektive.

René Pollesch hat vor vier Jahren bei seinem Stück Ragazzo dell'Europa erstmals in Warschau Regie geführt. Bei seinem neuen Stück "Jackson Pollesch" konnte er daher zum Teil auf bereits diskurserprobtes Personal zurückgreifen (Aleksandra Konieczna, Agnieszka Podsiadlik, Tomek Tyndyk). Hauptthema ist der Individualismus der Gesellschaft, der im allgemeinen Terror, kreativ sein zu müssen, seinen Ausdruck findet.

Sechs Schauspieler im Thesenlabyrinth

Wie man es von Pollesch kennt, verkörpern die sechs von ihm diesmal aufgebotenen Schauspieler keine konkreten Rollen, sondern dienen als Medium eines Scripts, an das man sich jedoch keineswegs sklavisch halten muss – Versprecher, Aussetzer und Gestotter gehören zum guten Ton. In "Jackson Pollesch" ist die Unbestimmtheit der Schauspieler auf die Spitze getrieben. Sie wechseln Geschlecht und Identität nahezu im Sekundentakt, mal sprechen sie als individuelle Stimme, im nächsten Moment zusammen mit den anderen im Chor, als ein Chor. Der Chor (einer spricht, die anderen sind der Chor), dessen Besetzung karusselartig wechselt (als Einziger spricht immer ein anderer) outet sich gleich zu Beginn als Netzwerk, das Beziehungen braucht, aber keine hat (da sich die Beziehung zwischen dem Einzelnen und dem Chor unentwegt verändert). Womit wir uns bereits mitten im Thesenlabyrinth befinden, durch das wir von Pollesch an diesem Abend geführt werden.

Mit dem wunderbaren Titel des Stücks zieht Pollesch elegant eine Parallele zu Jackson Pollock. Die Rede ist im Stück von dem berühmten 1951 entstandenen Dokumentarfilm Jackson Pollock 51, in dem der Künstler bei der Arbeit gezeigt wird. Der große Pollock erklärt mit simplen Worten, wie er Kunst macht. Die künstlerische, elitäre Kreativität wird entmythologisiert.

 

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Der neue Geist des Kapitalismus

Sechzig Jahre später, so Polleschs Botschaft, ist Kreativität allgegenwärtig, nicht mehr auf eine kleine Gruppe beschränkt, sondern ein Muss der Masse und nur dort nicht mehr anzutreffen, wo man sie traditionell erwarten würde. Die Kreativität hat die Seiten gewechselt. Der Künstler ist nicht mehr alleiniger Disponent dieser Gabe, im Gegenteil er fürchtet sich vor der Kreativität der Menge: "Da unten sitzen wieder lauter Kreative. Das war doch mal anders. Es gab doch Zeiten, da waren die Kreativen auf der Bühne und da unten saßen Leute, die entfremdeter Arbeit nachgingen."

Der neue Geist des Kapitalismus, so viel bleibt nach knapp eineinhalb Stunden Jackson Pollesch beim Zuschauer hängen, wird durch Kreativität, Mobilität (natürlich nicht zu verwechseln mit der vermeintlichen Mobilität von Flüchtlingen) und Verfügbarkeit repräsentiert, die die alten menschlichen Koordinaten wie Gier, Hass, Rache, Schicksal, Tod etc. im Begriff sind abzulösen.

Richtige Schauspieler im falschen Bühnenbild?

Natürlich fehlt es auch nicht an den Selbstreflexionen der Schauspieler: dem Räsonieren der Schauspieler über das falsche Bühnenbild, die eigentlichen Schauspieler, die angeblich streiken und nicht auf die Bühne kommen wollen, und die recht kläglichen Versuche der Schauspieler etwas zu spielen. So wird die Feststellung, die Körper seien in der Gegenwartskultur unsichtbar, sogleich anhand einer boulevardesken Szene "Ehemann/Ehefrau erwischt ihren/seinen Frau/Mann in flagranti mit Frau/Mann im Bett" exemplifiziert.

Doch die Szene will nicht recht funktionieren, denn wenn der Körper nicht zu sehen ist, macht es auch keinen großen Sinn, die Geliebte/den Geliebten im Schrank zu verstecken. Gegen Ende des Stückes kommen die Schauspieler im ufoförmigen, im Retrostil eingerichteten Wohnzimmer über der Bühne zusammen, um sich als eine Art Selbsthilfegruppe gegenseitig Mut zuzusprechen, trotz aller Widrigkeiten und Desillusionierungen fortfahren, ihren Beruf auszuüben.

Mit warmen, wohlwollenden Applaus wird dieses Durchhaltevermögen honoriert, mit dem sich, so hat man den Eindruck, das Publikum aber auch selbst belohnen will. Ob Pollesch sich in Polen sein Praterpublikum heranziehen wird, bleibt abzuwarten.

Sollte es ihm gelingen, wird dies aber auf jeden Fall ein äußerst elitäres, exklusives und hochkreatives Publikum sein.

 

Jackson Pollesch
von René Pollesch
Polnisch von Karolina Bikont
Regie: René Pollesch, Bühnenbild und Licht: Chasper Bertschinger, Kostüme: Svenja Gassen.
Mit: Roma Gąsiorowska, Aleksandra Konieczna, Agnieszka Podsiadlik, Jan Dravnel, Rafał Maćkowiak, Tomasz Tyndyk, Wojciech Sobolewski.

www.trwarszawa.pl