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Der Mensch ist ein Abgrund

von Charles Linsmayer

Basel, 17. September 2011. Kurz vor Schluss sitzen sie nochmals traulich zusammen, als wollten sie für ein Familienbild posieren: die Sopranistin Edith Haller als Marie, der Bariton Thomas Johannes Mayer als Wozzek und schlafend zwischen ihnen der Basler Sängerknabe Laurin Egli, der mit seinem Kinderhelm als einziger etwas Soldatisches in die Basler "Wozzeck"-Inszenierung hineinbringt. Aber die verdorrte Pflanze, vor der die drei sitzen, deutet an, dass die Idylle trügt.

Wenige Augenblicke später wird Wozzeck Marie brutal niederstechen und sich selbst in einer Badewanne im Blut ertränken. Die gewalttätige innere Erregung aber, die zu dieser schrecklichen Tat führt, ist, während Marie ihre zunehmende Angst mit ihrem glockenhellen und doch warmen Sopran immer wieder zu paralysieren scheint und auf die Frage, wie lang es jetzt sei, dass sie sich kennten, ein argloses "Zu Pfingsten drei Jahre" hinflötet, in ihrer Bedrohlichkeit von allem Anfang an unaufhaltsam angewachsen.

"Man könnte Lust bekommen, sich aufzuhängen"

Das "Ich glaub’, wenn wir in den Himmel kämen, so müssten wir donnern helfen" im ersten Akt gibt noch vor den Schreckensvisionen, die Wozzeck heimsuchen, das Stichwort, das "Man könnte Lust bekommen, sich aufzuhängen" im zweiten Akt macht in seiner Wucht die Bedrohlichkeit unmittelbar fassbar, und das "Mir wird rot vor den Augen" am Ende der Wirtshausszene nimmt im Grunde das blutige Finale bereits vorweg und geht in ein Orchesterzwischenspiel über, das demjenigen nach der Mordtat im letzten Akt an Wucht und Expressivität in nichts nachsteht.

Der Wahnsinn, dem dieser äußerlich keineswegs exzentrisch oder brutal wirkende Wozzeck unaufhaltsam verfällt, wirkt um so beklemmender, als auch seine Gegenspieler keineswegs als jene lächerlich-protzigen Machtmenschen gezeichnet sind, wie Alban Berg sie eigentlich vorsieht. Der stimmstarke Andrew Murphy steht als Doktor einer psychiatrischen Klinik vor und ist in seinem Bestreben nach wissenschaftlichem Ruhm durchaus glaubwürdig.

Der schmächtige Karl-Heinz Brandt ist als Hauptmann Patient in der fraglichen Klinik und nimmt sich – auch mit seinem hellen Tenor! – neben seinem Bediensteten Wozzeck eher schon kümmerlich aus, während Stefan Vinke als Tambourmajor von einer Banalität und Gewöhnlichkeit ist, die einen die martialischen Vertreter dieser Rolle fast schon wieder herbeisehnen lässt. Stimmlich bemerkenswert sind im Übrigen auch Rolf Romei als Andres, Alexey Birkus als clownesker erster Handwerksbursche und die Margret von Rita Ahonen, die etwas Erotisch-Laszives in den Abend hineinbringt.

Nüchtern-kalte Bühnenkonstruktion

Nicht in einem (Stummfilm-)Ambiente der 1920er-Jahre, wie Andrea Breth es im Frühling 2011 im Berliner Schillertheater evozierte, aber auch nicht im Müll des Konsumzeitalters wie bei Marthaler 2008 in Paris oder in einer Industrieanlage wie bei Calixto Bieito 2007 in Madrid, sondern in einem nüchtern-seelenlosen, an eine Bank oder eine Klinik erinnernden Gebäudekomplex mit einem breiten mehrstöckigen Treppenhaus lässt Elmar Goerden, sekundiert von den Bühnenbildnern Silvia Merlo und Ulf Stengl, den neuen Basler "Wozzeck" spielen. Eine Atmosphäre, die sich auch in den völlig unmilitärischen Alltagsgewändern von Lydia Kirchleitner spiegelt und die für die Umsetzung der Oper Vor- und Nachteile mit sich bringt.

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© Hans-Jörg Michel

 

So ist es etwas gewöhnungsbedürftig, wenn Wozzeck und Andres im ersten Akt, statt im Gebüsch Stöcke zu schneiden, in einem giftgrünen Zimmer den Boden aufwischen. Und dass sich Wozzeck am Ende statt im Teich in einer Badewanne ertränkt ist trotz der blutverschmierten Wände, die das Schreckliche ganz besonders drastisch sichtbar machen, nicht so ganz plausibel. Eindrücklich ist dagegen, dass sich so des Doktors Studierstube zu einem veritablen Irrenhaus ausweiten und mit mitleidheischenden traurigen Gestalten bevölkern lässt. Und nicht zuletzt erhalten auch Aussagen wie Wozzecks "Der Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einen, wenn man hinunterschaut", von der Höhe eines die Bühne weit überragenden Zimmers herab gesungen, eine ganz besondere, für die Inszenierung fast schon tragende Bedeutung.

Eindrückliche Orchesterleistung

Unter Elmar Goerdens Regie gelingt es den Beteiligten, das Sängerische nahtlos mit dem Schauspielerischen zu verbinden, und das von Dennis Russel Davies dirigierte Sinfonieorchester Basel begleitet und untermalt die Singstimmen so einfühlsam und zurückhaltend, dass sie klar verständlich bleiben und nicht einen Augenblick zugedeckt werden. Dafür setzt Davies in den orchestralen Zwischenspielen deutliche Akzente und argumentiert bisweilen bei höchster Transparenz von Streichern und Bläsern mit einer wuchtig-dramatischen, ganz am Abgrund des Dissonanten angesiedelten Klangfülle, die das Bedrohliche, das von Wozzecks zunehmender Verdüsterung ausgeht, eindringlich intensiviert und verstärkt.

Dabei ist es fast schon bedauerlich, dass die Regie es für nötig hält, die Zwischenspiele immer wieder mit pantomimischen Auftritten oder Videoprojektionen optisch zu beleben, erfüllt sich doch gerade in diesen Orchestersequenzen am erschütterndsten die, wie Alban Berg selbst es formuliert hat, "weit über das Einzelschicksal Wozzecks hinausgehende Idee dieser Oper".


Wozzeck
Oper in drei Akten von Alban Berg nach Georg Büchner
Musikalische Leitung: Dennis Russell Davies, Regie: Elmar Goerden, Bühnenbild: Silvia Merlo, Ulf Stengl, Kostüme: Lydia Kirchleitner, Dramaturgie: Brigitte Heusinger.
Mit: Thomas Johannes Mayer, Rolf Romei, Stefan Vinke, Karl-Heinz Brandt, Andrew Murphy, Alexey Birkus, Alex Lawrence, Noel Hernández, Edith Haller, Rita Ahonen, Laurin Egli, Knaben- und Mädchenkantorei Basel, Chor des Theaters Basel, Sinfonieorchester Basel.

www.theater-basel.ch


Mehr Opernausflüge namhafter Theaterregisseure? Im Juli 2011 zeigte Sebastian Baumgarten in Bayreuth Richard Wagners Tannhäuser, im Juni 2010 inszenierte Nicolas Stemann an der Komischen Oper Berlin Jacques Offenbachs La Périchole.

 

Kritikenschau

Goerden vermeide es, eindeutige Beziehungsgefüge zu inszenieren, schreibt Jenny Berg in der Neuen Zürcher Zeitung (20.9.2011). "Doch was bleibt dann von der Dynamik des Stückes, die sich entfachen muss, um zum finalen Desaster, dem Mord an Marie, zu führen? Wenn dieses Heute zwar kalt ist, aber für die anderen offensichtlich ganz gut funktioniert? Es muss der Wahnsinn sein, der im Täter wohnt und ihn zwingt, seine geliebte Marie zu töten, damit kein anderer sie lieben kann. Woher dieser Wahnsinn kommt, ob von der emotionalen Armut seines Umfeldes, ob von der verordneten Hülsenfruchtdiät, das lässt die Inszenierung offen. Und so bleibt am Ende Maries und Wozzecks Sohn zurück, allein in einer Gesellschaft, die die Augen verschliesst vor den Dramen in ihr." Erzählt werde hier vor allem durch die Musik.

Eine "szenisch befriedigende, musikalisch aber schlichtweg überwältigende Deutung", zieht Dennis Roth in der Basler Zeitung (19.9.2011) Bilanz. "Elmar Goerdens Inszenierung bewegt sich vage, oft genug aber geschickt zwischen naturalistischer Sozialkritik und symbolhafter Überhöhung und verortet das Geschehen mit schmucklos-grauen Kostümen in der Gegenwart." Nur angedeutet sei das Militärische, "etwa durch den Soldatenhelm, den der Sohn von Wozzeck und Marie trägt – eine fast stumme, von der Regie auch mittels Projektionen aufgewertete Rolle (Laurin Egli), die als Indikator der menschlichen Wärme dient." Besonders die Bühne hat es Roth angetan: "Ist das noch ein Erdgeschoss oder schon die Unterwelt? Die Bühne bleibt, wie sie ist, die Figuren sind in die Räume eingefasst: Die Verhältnisse sind nicht zu ändern."

"Alban Bergs Oper treibt unaufhaltsam auf ein schlimmes Ende hin", schreibt Siegbert Kopp im Südkurier (20.9.2011). Elmar Goerden lasse seine Inszenierung von dieser gefährlichen Unterströmung nicht nur mitreißen, "sondern verstörender noch: Er nimmt das Ende vorweg in Andeutungen, in gefährlichen Rätselbildern. Der Hauptmann, dieser arme Wurstel trägt von Anbeginn eine offene Bauchwunde mit sich herum. Wenn ihm Wozzeck wie 'ein offenes Rasiermesser' vorkommt – dann hat der Zuschauer längst ein reales Messer gesehen, wie es blinkend und blitzend durch die Szenen wandert, von Hand zu Hand, von Wozzeck zu Marie und auch zu ihrem Kind."

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