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Auf der Suche nach der verlorenen Figur

von Elske Brault

Rendsburg/Flensburg, 16./17. September 2011. Ein UFO ist gelandet. Diesen Eindruck muss bekommen, wer an einem ganz normalen Freitagabend das Rendsburger Stadttheater besucht, um dort ein zeitgenössisches Stück anzuschauen. Die Bühne nehmen drei Laufbänder aus dem Fitnessstudio ein. Zwei Frauen und ein Mann rennen darauf vergeblich um die Wette mit den gehetzten, fliehenden, abgerissenen Sätzen aus Felicia Zellers Sozialdrama "Kaspar Häuser Meer".

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Die Behörde implodiert: "Kaspar Häuser Meer". Foto: Landestheater Schleswig-Holstein

Die junge Frau trägt ein schrilles Cocktailkleid aus lila Seide mit nur einem Ärmel, die ältere eine Marlene-Dietrich-Hose mit hohem Bund und Hosenträgern, ihre weißen Haare sind zu einem Helm toupiert. Der Mann, der jüngste im Dreierbund, steckt in einem metallisch glänzenden Minikleid, schwarzen Nylons und Pumps. Er spielt eine alleinerziehende Mutter. In dieser Stilisierung würde die Inszenierung in Hamburg oder Berlin den kleineren Saal jedes renommierten Theaters füllen. Doch wir sind in den Kammerspielen in Rendsburg, im Hinterzimmer, den ehemaligen Werkstätten des imposanten weißen Theaterbaus aus dem Jahr 1901. Der Eingang an der Seite des Gebäudes ist kaum zu finden, und es hat ihn auch kaum jemand gefunden: In den so genannten Kammerspielen, schwarz ausgeschlagenes Klassenzimmer mit lieblos aneinander gereihten Messestühlen, bleibt die Hälfte der Sitze leer.

Reisendes Schauspiel

Die beiden Kontrolldamen am Eingang lächeln tapfer und teilen das kostenlose Programmfaltblatt aus. Es gibt keinen Wein, keine Brezel, dies hier ist eine Theaterpaukhalle, in der rasch ein zeitgenössisches Stück durchgefochten wird und die Requisiten-LKWs mit der Aufschrift "Landestheater Schleswig-Holstein" abfahrbereit vor der Tür stehen, um das UFO in die nächste Kleinstadt zu verfrachten, nach Husum oder Flensburg. Nur nicht Schleswig. Schleswig geht nicht mehr, da ist der Zuschauerraum kaputt, deswegen müssten die Produktionen nach Rendsburg oder Flensburg ausweichen. Und daran hätten sich die Besucher eben noch nicht gewöhnt, trotz des kostenlosen Bus-Shuttles, erzählt ein junger Mann. Am nächsten Abend wird man ihn als Hauptdarsteller in dem anderen zeitgenössischen Drama sehen, das für dieses Wochenende auf dem Programm steht. Hier besuchen sich die Schauspieler gegenseitig, damit überhaupt jemand im Publikum sitzt.

Die junge Regisseurin Marie Bues hat sich davon nicht beirren lassen. Sie hat in Basel gelernt, danach zeitgenössische Stücke in Osnabrück, Göttingen oder Plauen inszeniert. Kompromisslos tischt sie Felicia Zellers Textfläche hier so auf, als wäre man nicht in der Provinz, sondern auf dem Stückemarkt des Berliner Theatertreffens. Da würde "Kaspar Häuser Meer" sich dann einreihen in die Masse jener Dramen, über die der ZEIT-Kritiker Peter Kümmel unlängst stöhnte, es seien keine lebendigen Figuren mehr darin, die sich dem Gedächtnis einbrennen.

"Kaspar Häuser Meer" auf Laufbändern

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Felicia Zellers "Kaspar Häuser Meer".
Foto: Landesttheater Schleswig-Holstein

Das gilt für "Kaspar Häuser Meer" ganz bestimmt. Die drei Sozialarbeiterinnen im Jugendamt nämlich sprechen völlig gleich. Ihnen fehlt immer mal wieder ein Verb, oder das erwartbare Schlüsselwort bleibt unausgesprochen, als habe ein Phrasenmähdrescher in den bereits fertigen Theatertext aus Bürokratendeutsch und Kaffeeklatsch Löcher gerissen. Stehen geblieben sind viele atemlose Vorsätze à la "Hätte man doch" oder "Sollte man", und die stoßen die drei Darsteller gleichförmig ins Publikum, während sie sich auf den Laufbändern abrackern oder einen neongelben Faden kreuz und quer über die Bühne spannen.

Denn die drei haben sich, was die Familie Faden anbelangt, im Labyrinth der Akten verirrt. Dabei ist das Kindeswohl irgendwie verschütt gegangen, und jetzt klagen die Eltern Faden vor dem Europäischen Gerichtshof und wollen nach sechs Jahren Sorgerechtsentzug ihre Kinder zurück. Diesen Fall von amtlichem Übereifer kontrastiert die Erzählung von "der Schmidt": Sozialarbeiterin Silvia hält das Heim für eine schlechte Alternative, beantragt für die bärbeißige Mutter Schmidt Erziehungs- und Haushaltshilfen, bis sie deren Kleinkind in einem Kot verschmierten Kinderbett zum Skelett abgemagert vorfindet.

Die drei Damen vom Amt sind zwar durch äußere Merkmale unterschieden: Die "alte Häsin", die Alkoholikerin, die junge, allein erziehende Mutter. Aber da die Rollenmerkmale nur aufgepappt sind, um die Textfläche in Einzelhappen zu zerlegen, entstehen keine Figuren. Zellers Drama ist ein Konstrukt, in dem Alter, Alkoholismus oder Alleinverantwortung für das nötige Maß an Überforderung sorgen, damit die drei Rollenplatzhalter im Amtsapparat scheitern.

Kunst-Stück oder realistisches Behördendrama?

Da es innerhalb der Rollen keine Entwicklung gibt, schafft Regisseurin Bues so viel Abwechslung wie möglich bei den Schauplätzen und in der Präsentationsform: In einer Art Aquarium spricht Barbara, die alt Gediente, Lila-Cocktailkleid-Silvia auf ihr Alkoholproblem an. Der hintere Teil der Bühne nämlich ist durch eine Plexiglaswand als Extra-Guckkasten abgetrennt (Bühnenbild: Indra Naucks). Dort flüstern und zischeln Barbara und Silvia gegeneinander und sind dank Mikroport und Lautsprecher doch so klar verständlich, als verfolge man unter Wasser die Beißerei zweier Haifische mit einer Spezialkamera. Mit Verve und Präzision artikulieren die drei Schauspieler ihre Kunstsätze, toben sich darin aus, zitierte Personen wie Mutter Schmidt prollig-schludrig gegen die eigene Sprechweise abzusetzen und so innerhalb eines Monologs ein mehrfach besetztes Drama entstehen zu lassen.

Es bleibt ein Gefühl von Kunst-Stück: Aber, o Wunder, den Zuschauern gefällt's. Sie arbeite selbst in einer Behörde und könne das Dargestellte daher gut nachvollziehen, sagt eine Frau hinterher. Ein junger Mann meint, die Sätze in dem Stück seien doch genau solche, wie man sie immer wieder in der Zeitung lese: "Die Familie war dem Jugendamt seit Jahren bekannt...bekam unterstützende Maßnahmen." Zeit für längere Gespräche bleibt nicht, es ist dunkel und kalt vorm Theaterseiteneingang, jeder strebt schnell nach Hause, zumal die Bühnenarbeiter bereits ihre LKW's beladen und das Publikum dabei offensichtlich im Weg steht.

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Der kalte Kuss vom warmen Bier.
Foto: Landestheater Schleswig-Holstein
In Flensburg bei Dirk Laucke

Einen Tag später, Flensburg, die gleiche Szenerie. Dort ist das Theater aus rotem Back- und gelbem Sandstein zusammengesetzt, und eine nigelnagelneu wirkende Rampe führt rollstuhlgerecht zum Haupteingang. Ihre schwarzen Fliesen stammen bestimmt aus Italien und klatschen einen Hauch von Armani vor die norddeutsche Trutzburg. Das zeitgenössische Stück spielt dann aber wieder – na? – am Seiteneingang. Diesmal heißt die bestuhlte Turnhalle "Kleine Bühne". Es sind womöglich noch weniger Zuschauer da als am Vorabend. Selbst die Souffleuse verweigert den Dienst und nimmt ihren reservierten Platz in der ersten Reihe nicht ein (in einem halb leeren Theater wirken "Reserviert"-Schilder wie der verzweifelte Versuch eines schlecht laufenden Restaurants, starke Nachfrage zu suggerieren).

Aber dann, völlig unerwartet, explodiert in dieser Ödnis ein Stück: Dirk Lauckes "Der warme Kuss vom kalten Bier". Eine Kneipentragödie mit Vorspiel.

Vorspiel 1: Maik und Richard stellen sich vor in der Gruppentherapie. Maik bewachte  vor mehr als zwanzig Jahren als DDR-Soldat die innerdeutsche Grenze. Richard ist erst vor kurzem zurückgekehrt aus dem Einsatz in Afghanistan. Beide waren Soldaten, beide vor die Entscheidung gestellt: Schießen oder nicht schießen. Beide  sind jetzt Alkoholiker.

Vorspiel 2: Auf der Toilette, angedeutet durch zwei Urinale am Bühnenrand: Maik verteilt Drogen in Form von Tampons. Er und Richard schieben sie sich in den After, ohne die Hose herunterzulassen. Jürgen Böhm als Maik zeigt nur durch die Verzerrung, dann die glückliche Entspannung seines Gesichts, wie das Zäpfchen erst unangenehm drückt und sich allmählich in Euphorie auflöst. Solch drastische Szenen bestimmen den gesamten Abend, ohne dass ein einziges Mal nackte Haut zu sehen wäre oder ein Griff in die Mottenkiste des Blut-Kotze-Scheiße-Theaters erfolgt.

Ein Pulverfass von einem Stück

Und dabei wird in Dirk Lauckes Stück gekotzt, und es fließt reichlich Blut. Maik und Richard besaufen sich in einer Kellerkneipe, hier ein schwarz gestrichenes Ensemble aus Tresen und Biertisch wie in einer Heavy-Metal-Vorstadtdisco. Aus hartem Metall ist auch Wirtin Yvonne, äußerlich jedoch eine Zuckerpuppe mit langen blonden Locken. Und so müssen unsere beiden entlassenen Helden natürlich eingreifen, als sie mit ihrem Freund in Streit gerät, und den Typen in den Keller sperren. Als Yvonne gegen solche Einmischung in ihr tägliches Beziehungsdrama protestiert, wird sie kurzerhand an den Stuhl gefesselt.

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Der kalte Kuss vom warmen Bier.
Foto: Landestheater Schleswig-Holstein

Hier sind Figuren auf der Bühne, und zwar so überzeugend, dass eine ältere Dame den Saal verlässt, weil sie die Gewaltorgie nicht länger ertragen kann. Regisseur Stefan Rogge hat alles daran gesetzt, seine Schauspieler so naturgetreu wie nur möglich wirken zu lassen. Wenn Nicolas Menze als Richard und Jürgen Böhm als Maik der schreienden Yvonne (Wiebke Wackermann) den Mund zuhalten, wenn sie Richard in die Hand beißt, dafür geohrfeigt, schließlich geknebelt wird, fühlt der Zuschauer sich unwillkürlich schlecht, weil er aufspringen und Einhalt gebieten möchte.

Nach einer halben Stunde ist alles vorbei, das Pulverfass in die Luft geflogen, die Protagonisten sammeln ihre Persönlichkeitsfetzen ein. Maik unterhält sich mit seiner inneren Stimme aus dem Bühnenlautsprecher, dem "Stacheldrahtmann", und enthüllt so allmählich, in welche Schuld er sich einst verstrickt, dass er eben doch geschossen hat. Richards Schuld besteht eher darin, in einem bestimmten Moment nicht geschossen und dadurch zugelassen zu haben, dass vor seinen Augen eine Frau erschlagen wurde. Yvonne erzählt von den Kämpfen in ihrer Beziehung, den Schlachten der Liebe. Deutschland ist in Dirk Lauckes Stück ein Kriegsschauplatz, und er gibt hier den Geschlagenen, den Lazarettopfern eine Stimme.

Knallhart, rhythmisch, hervorragend gespielt: Stefan Rogges Inszenierung würde vielleicht nur deswegen nicht an einem großen Staatstheater zu sehen sein, weil sie dort als zu naturalistisch abgetan würde. In Flensburg oder Rendsburg holt sie die Leute auf dem heimischen Fernsehsofa ab. Bloß müssen die dazu ins Theater gehen.


Kaspar Häuser Meer
von Felicia Zeller
Regie: Marie Bues, Austtattung: Indra Naucks.
Mit Andrea Beckmann, Ingeborg Losch, Manuel Jadue.

Der kalte Kuss vom warmen Bier
von Dirk Laucke
Regie: Stefan Rogge, Ausstattung: Malte Lübben.
Mit Nicolas Menze, Jürgen Böhm , Wiebke Wackermann

www.sh-landestheater.de


Mehr zum Schwerpunkt Nord auf nachtkritik.de: Georg Kasch gibt zum Auftakt einen Überblick über die Lage in den Küstentheatern. In Lübeck sahen wir jüngst Yerma, von Anna Bergmann inszeniert.

 

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