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Die Weigerung des Textes

von Regine Müller

Bochum, 23. September 2011. Beinahe aus dem Nichts hat sich Regisseur Nurkan Erpulat in der vergangenen Spielzeit an die Spitze der Theaterrepublik katapultiert. Seine bei der Ruhrtriennale herausgekommene Uraufführung von Verrücktes Blut in Koproduktion mit dem Berliner Ballhaus Naunynstraße räumte die wichtigsten Preise ab und gastierte bei den großen Festivals, er selbst wurde von der Zeitschrift Theater Heute zum "Nachwuchsregisseur des Jahres" gekürt. Nun koproduziert Erpulat mit dem Deutschen Theater Berlin und ist Hausregisseur in Staffan Valdemar Holms neu aufgestelltem Ensemble am Düsseldorfer Schauspielhaus. So schnell gehen heute Theaterkarrieren. Nun ist Nurkan Erpulat mit einer Bühnenadaption von Franz Kafkas spätem Roman "Das Schloss" zur Ruhrtriennale zurückgekehrt. Wieder ist Jens Hillje sein Dramaturg und Ko-Bearbeiter.

Kafkas Roman blieb Fragment, die Geschichte des rätselhaften Landvermessers K., der in ein abgelegenes Dorf kommt, um von dort aus zum unweit gelegenen Schloss zu gelangen, folgt wie alle Stoffe Kafkas der Logik des Albtraums und widersetzt sich sowohl den Gesetzen der Psychologie als auch denen der Konkretion. Ein Problem, mit dem sich eigentlich jede Bühnenadaption konfrontiert sieht. Und doch wird es in letzter Zeit immer wieder versucht, Kafkas hermetische Texte auf die Bühne zu zerren (zuletzt unternahm das Jan Klata nebenan im Bochumer Schauspielhaus mit einer Comic-Version von Amerika).

Erwartungen bewusst unterlaufen

In der Turbinenhalle, einer neuen Spielstätte an der Jahrhunderthalle, geht Erpulat vorsichtig, um nicht zu sagen ehrfürchtig zu Werke. Die Steilvorlage, das Schicksal von Kafkas Antihelden, der ja als Fremder in eine hermetische Gesellschaft kommt, in eine heutige Migrationsgeschichte zu übersetzen, ignoriert Erpulat und unterläuft damit bewusst Erwartungen.

In die vergleichsweise intime Turbinenhalle hat ihm Madga Willi nur zwei Tische gestellt, zwei Plexiglaswände fahren gelegentlich herunter und sind – je nach Beleuchtung – mal durchsichtige Trennwand, mal Spiegelfläche. Wenn die Zuschauer eingelassen werden, sitzt das gemischte Ensemble, teils Schauspieler des Deutschen Theaters Berlin, teils vom Ballhaus Naunynstraße, am Tisch und plaudert. Erst allmählich entwickelt sich das Spiel, zunächst werden die ersten Seiten von Kafkas Text verlesen, daraus entsteht ein vielstimmiger, gehetzter Chor, schließlich schälen sich die Figuren heraus.

Erpulat und Hillje folgen Kafka mit Respekt, großer Genauigkeit, Liebe zum Detail und dem – natürlich vergeblichen - Anspruch der Vollständigkeit. Erpulat komponiert dichte Szenen, führt die Schauspieler souverän und gibt schlaglichtartig Einblicke in zutiefst verstörte Seelen. Immer wieder gelingen ihm intensive Momente und eindrückliche Bilder. Und doch verliert man, zunächst ganz unmerklich, dann mehr und mehr das Interesse am Geschehen auf der Bühne. Nach einer Weile scheint alles gesagt, denn die Aussichtslosigkeit, die Kafkas Roman mitten im Satz im Nichts enden lässt, hat sich längst mitgeteilt und stumpft durch diese Gewissheit ab.

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  Sesede Terziyan und Katharina Matz in "Das Schloss" bei der Ruhrtriennale. Foto: Paul Leclaire

Text auf dem Silbertablett

Zudem weiß man trotz starker Momente in der Summe nicht so recht, was Erpulat zu Kafka zu sagen hat. Seine Begabung, eine Bühnenhandlung kraftvoll zu bändigen und eine Geschichte spannend zu erzählen, läuft sich an Kafkas Nicht-Handlung und an der Weigerung des Textes, sich konkretisieren zu lassen, fast zwangsläufig müde.

Daran ändert auch das hervorragende Ensemble nicht, das Kafkas Texte manchmal wie auf dem Tablett präsentiert – was nicht die schlechtesten Momente sind, denn die Texte wirken nun mal als pure Texte am besten. Moritz Grove ist ein zwischen Unterwürfigkeit und Lebenshunger schillernder, fiebriger K., Sesede Terziyan eine vitale und zugleich rätselhaft gebrochene Frieda, Katharina Matz stattet sowohl die Wirtin als auch die Lehrerin mit freundlich grausamster Unerbittlichkeit aus, wunderbar! Thomas Schumacher grenzt gleich drei Rollen scharf voneinander ab, Tamer Arslan und Max Pellny geben die Gehilfen mit hohem Körpereinsatz und unerklärlicher Hysterie, die sie abwechselnd schleimend auf dem Bauch rutschen oder in Casting-Show-Jubel ausbrechen lässt.

 

Das Schloss (UA)
von Franz Kafka, in einer Bearbeitung von Nurkan Erpulat und Jens Hillje
Regie: Nurkan Erpulat, Bühne: Magda Willi, Kostüme: Esther Krapiwnikow,
Musik /Sound: Tobias Schwencke /Florian Tippe, Licht: Thomas Langguth,
Dramaturgie: Jens Hillje.
Mit: Moritz Grove, Sesede Terziyan, Katharina Matz, Thorsten Hierse, Thomas Schumacher, Tamer Arslan, Max Pellny und Mitgliedern des Aalto Kinderchor, Essen.

www.ruhrtriennale.de

 

Kritikenrundschau

Nurkan Erpulat mache sich die Sache nicht zu einfach, etwa mit einer naheliegenden Zuspitzung auf die Migrationsthematik, findet Dina Netz im Deutschlandfunk (24.9.2011): "Den Darsteller des fremden K. hat er mit Moritz Grove besetzt, dagegen haben die Darsteller von Frieda und dem Gehilfen Jeremias keine deutschen Wurzeln." Eigentlich seien alle fremd, sich selbst und einander, "weil sie alle am Tropf der unsichtbaren Macht hängen und sich gegenseitig ausspielen, um deren Gunst zu erlangen". Zwischendurch hänge der Abend auch ein wenig durch, aber "insgesamt haben Jens Hillje und er eine schlüssige Spielfassung des Romans erstellt, die von den Schauspielern mit viel Präsenz interpretiert wird."

Im Kern sei diese Inszenierung ordentliches, kreuzbraves Handwerk, schreibt Stefan Keim in der Berliner Zeitung / Frankfurter Rundschau (26.9.2011). "Erpulat und Hillje lassen ein paar Kapitel weg, folgen aber dem Handlungsverlauf, bis die Geschichte zerfasert und sich in einzelne Erzählungen auflöst." Das sei alles sehr ehrenwert, aber auch ein wenig mühsam. Auch wenn man anerkenne, dass Erpulat und Hilje nicht den einfachen Weg der Migrantenthematik gehen, bleibe "die leise Enttäuschung, dass dieses 'Schloss' einfach nur normales Stadttheater ist, ohne Überraschung und Aufregungspotenzial".

Auch Bernd Aulich in der Neuen Westfälischen Zeitung (26.9.2011) erkennt an, dass Erpulats "Schloss" kein Migrantendrama geworden ist. Doch bei aller schauspielerischer Brillanz: "Nicht nur das gelegentliche Schnee-Geriesel lässt in dieser um 14 der 25 Kapitel gekürzten, frappierend nah am Text inszenierten, zum handlungslosen Ende hin allerdings durchhängenden Aufführung frösteln."

Abwartend und skeptisch, aber ohne falschen Respekt nähere sich die Inszenierung Kafkas Text, so Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (27.9.2011). Dicht und ganz anstrengungslos entfalte sich dann das Spiel, die Darsteller fänden zu einer lebendigen und nuancenreichen Ensembleleistung zusammen. Erpulat und Hillje hätten "Das Schloss" nicht zu einer Migrantenparabel verbogen, sondern den Text in modellhafte Szenen zerlegt, die "das Thema Fremdheit pointieren und variieren." Das führe allerdings dazu, dass man sich im Laufe des Abends von Kafka entferne und die Romanvorlage an Bedrohlichkeit verlöre. Doch am Ende stehe "ein selbstkritisches Fragezeichen".

In einem porträtartigen Zugriff für die Süddeutsche Zeitung (29.9.2011) bezieht Vasco Boenisch diesen Abend auf die Biographie des Regisseurs Nurkan Erpulat: "Der 37-Jährige kennt noch die Mühen der Ebenen. Er weiß, was es heißt, fremd zu sein. Was er nicht weiß: Wie dieses Gefühl aus Kafkas 'Schloss' packend auf die Bühne zu bringen ist." Die Inszenierung "begnügt sich damit, den Roman nachzustellen – mit mehr Requisiten als analytischen Gedanken." Unklar bleibe, wofür das Schloss in der intellektuellen Topographie dieser Bühnenadaption stehe. Mit Ausnahme von Katharina Matz, die "etwas verwegenen Witz" verströme, kann der Abend den Kritiker auch darstellerisch nicht überzeugen: "Man schlägt, beschimpft und streichelt einander, eine Welt der Unberechenbarkeit – aber völlig harmlos."


Kommentare  
Das Schloss, Bochum: enttäuschend
Ich fand es langweilig. Abgesehen davon, dass die Luft in der Halle ganz schlecht war, diese noch durch Raucheinlagen übel geschwängert wurde, waren die Slapstick-Einlagen völlig daneben. Unteres Mittelmaß, für eine Aufführung der Ruhr-Triennale enttäuschend.
Das Schloss, Berlin: wer will schon eine aufgewärmte B-Premiere sehen?
Ich halte irgendwie nichts von diesen Festivalpremieren, auf denen die Stücke für ein ausgewähltes Puplikum gezeigt werden, um dann irgendwann ihre Stadt zu erreichen, wo es nicht mal mehr eine aktuelle Nachtkritik ist. Theater sollten die Produktionen für ihre Städte machen, das ist Ihr Auftrag und nur das rechtfertigt die Zuschüsse. Wer will schon eine aufgewärmte B-Premiere sehen...
Das Schloss, Berlin: Die B der B-Premiere
Ich. Sogar die B-Premiere einer B-Premiere..
Das Schloss, Berlin: Kafka als Migrant
120 Minuten abgewandelter Kafka als Migrant, holprig, mühselig mit lautstarker Fan-Fraktion (vielleicht auch nur für den Chor?!) -schade .
Das Schloss, jetzt am DT Berlin: dem Stück den Boden entzogen
Das sind -für die A-Premiere ! bei der Ruhrtriennale- meines Erachtens durchgehend sehr milde, allzu verständnissinnig mir anmutende Kritiken-Zusammenfassungen (siehe Kritikenspiegel),
bei denen zudem auffällt, daß vom Kinderchor hier nicht die Rede ist (ist dieser erst in Berlin hinzugetreten ?), auch sollte man, glaube ich, den Terminus "normales Stadttheater" nicht unbedingt im Sinne von "ohne Aufregung und Überraschungspotential" (siehe Stefan Keim-Auszug) verwenden, wenn es gilt, zu fassen, was da zB. gestern zu erleben war. Es stimmt, daß es mich (auch) verwundert, in den DT-Kammerspielen einen so biederen, allenfalls kunsthandwerklichen, zudem peinlich geglätteten Kafka (0 Beunruhigung von einem Abend her, der vor 22 plus x-Jahren am selben Ort noch unmöglich gewesen wäre, weil WESTWEST ja auch MOSKAU sein könnte ...) geboten zu bekommen, gemessen an den Programmhefttexten ist da sogar Platz für allerlei Aufregungspotential: siehe nur "Kafka, der Politische !" (??). Auch Überraschung fehlt nicht, wenn Frieda K.
den Vorschlag macht, das Dorf zu verlassen, um (einfach ???) mal nach Spanien oder Südfrankreich rüberzumachen, oder wenn der von Olga Amalia verliehene Schmuck in Böhmen verortet wird. Nicht nur, daß in dieser Inszenierung irgendwie minimal auch sonst die Bedrohlichkeit des Systems (System ?), physisch und psychisch spürbare Belastungen
mindestens seitens Ks. wirklich nachempfindbar bzw. einfach spürbar würden, nein, gerade die wenigen Änderungen des Kafkaschen Textes sind besonders glättend, besonders unverständlich, "man" versteht kaum, wie das Problem der Deutungsvielfalt bei Kafka, speziell auch beim "Schloß", sich jemals einstellen konnte. Dazu singt der geschniegelte Kinderchor Oneworldlieder: Wir sind alle Menschen, wir sind alle überall Fremde, we are the world, we are the children, teacher leave us kids alone (die beiden Songs fehlten eigentlich noch). Bedenkt man die böhmischen bzw. spanisch-südfranzösischen Konkretisierungen, könnte man auf die Idee kommen,
im geschniegelten Kinderchor zu allerlei Westmainstreamsongs wahrlich die versuchte Anbiederung an West- bzw Mitteleuropa im Sinne von EU zu vermuten (seitens der Böhmischer-Pakt-Staaten etwa in Ihrer EU-Beitrittswilligkeit). Ach, die Plage: Osterweiterung ! Böhmische Dörfer, brauchen wir so etwas ?? Ach, der Sommer war so schlecht: Spanien, Südfrankreich, das wärs !! Freilich, solche Haltungen könnten durch eine Inszenierung ernsthaft befragt werden , karikiert, persifliert, aber bei Nurkan Erpulat steht nur
"Spanien, Südfrankreich" bzw. "Böhmen"; mehr als dem hermetischen Schloß-Ort hiermit das quasi utopische Potential zu rauben, dem Stück eigentlich seinen Grund entziehend, leistet dies nicht. Das "Schloß", so scheint uns von der Bühne her entgegenzuschallen, ist in unserer globalisierten Welt ein Selbst-Findungsproblem von gestern oder vorgestern, hoffnungslos entgrenzt, entzaubert, das sind die sprichwörtlichen Hinterweltler-Probleme:BÖHMISCHE DÖRFER.
Angesichts der "Festung Europa", einer sich gegen alle möglichen Begebenheiten versichernden ERGO-Gesellschaft, einer sich freiwillig uniformierenden Gesellschaft, einer sich zunehmend gekonnt immunisierenden noch dazu, stimme ich noch nicht einmal den
Kritikerstimmen zu, es sei Herrn Erpulat hoch anzurechnen, hier nicht das Naheliegendste, eine Migrantenversion vom "Schloß", versucht zu haben. Nicht nur, daß es auch nicht ganz unproblematisch ist, hier vom Naheliegendsten zu sprechen, sowohl daß eine Migrantenversion des "Schlosses" leichter wäre als das hier Gezeigte als auch obige Irritationen lassen mich fast schon wieder bedauern, daß nicht eine dezidierte "Migrantenfassung" versucht wurde und dann möglicherweise mit ihr trefflich gescheitert. So aber versteckt sich dieser "Griff nach den Sternen im Kammerspielformat" letztlich (und wohl dennoch nicht zuletzt) hinter einem Kinderchor, was vermutlich bewirkt, die ersten Vorstellungen am DT hinreichend mit Freunden und Bekannten und Claqueren und Fans etcpp. (siehe mina53) gefüllt zu bekommen, auf daß dann wieder lückenlos dokumentiert werden darf, daß Nurkan Epulat ein höchst mutiger Regisseur ist, der sich schon früh am "Schloß" versuchte und offenbar Beifall fand..
Schloss, Berlin: kein Sog zu spüren
Volle Zustimmung zu den Vor-Kommentatoren: Es war schlicht langweilig. B-Premiere hin, das Naheliegende vermeidend her: was wirklich gefehlt hat, war eine zündende Idee. Von der Sog-Wirkung Kafkas leider nichts zu spüren.
Schloss, Berlin: dicht und indirekt politisch
Ein atmosphärisch dichter, angenehm zurückgenommener und in seiner Verweigerung eindeutiger politischer anspielungen umso politischer Abend. Trotz einiger Längen und zuweilen etwas ausfasernder Dramturgie ist Erpulats Kafka-Adaption ein gelungener Versuch über die Fremdheit des Menschen in der Welt. Auch ohne Migrationshintergrund.

Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2011/10/23/franz-kafka-das-schloss-deutsches-theaterkammerspiele-berlin-regie-nurkan-erpulat/
Das Schloss, Berlin: politisch?
@ Prospero

Ein politischer Abend ? Wegen seiner, der (!), Verweigerung eindeutiger politischer Anspielungen ??
Keine Ahnung, wie sich das bei Ihnen aufbaut, lieber Prospero, jetzt das Politische aus dieser Verweigerung heraus.
Freilich könnte man zB. meinen "Moskaueinwand" anführen, wenn es um Beispiele für derlei "Anspielungen" geht, nur möchte ich hier noch einmal ausdrücklich betonen, daß es dabei keineswegs (nur) um Inszenierungen gehen muß, die derlei (plakativen, möglicherweise)
Anspielungen auch liefern. Kafkas "Schloß" wäre ja vor 25 oder 30 Jahren nicht etwa nicht auf die Bühne gekommen, weil unbedingt zu befürchten gewesen wäre, daß derlei Anspielungen dann auch wirklich geliefert worden wären; wäre das "Schloß" (wie ich es hier auf nk einmal von einer polnischen Inszenierung meine gelesen zu haben) ohne konkrete Bezüge als Ameisenbau/Ameisenstaat entworfen worden, so hätte dieser nicht nach vorne diskutierende Zug, dieses Moment möglicher Deutungsoffenheit zu eigenen Befindlichkeiten wohl vollends gereicht, um "Zersetzung" und/oder "Regression" zu wittern, zu sagen, um schließlich derlei Inszenierungsprojekte auf den Index zu bringen, gut, ich vermute dies so: und "Westwest" geht garnicht, so in etwa. Insofern spreche ich weiter oben keineswegs davon, daß es unbedingt eine Inszenierung mit derlei konkreten Anspielungen sein müßte, von der Sie offenbar mehr ausgehen als ich, wenn Sie der Weigerung einer solchen gar politische Virulenz zuschreiben; es könnte ebensogut ein Stück über einen Schriftsteller sein, der sein "Schriftstellersein" kritisch befragt (Schriftsteller=Landvermesser) oder über einen Gottsucher (all diese Interpretationsansätze gibt es zu Kafkas "Schloß" zuhauf, insofern ist schon das Abheben auf den "poltischen Kafka" im Programmheft außerordentlich fragwürdig, immerhin sehr "einseitig" anmutend): bei Erpulat wird daraus ein Spiel von drinnen und draußen mit ein paar verschiebbaren Fensterscheiben, währenddessen (der zur Abfassung des "Schlosses" im übrigen ungefähr zum heutigen Nurkan Erpulat Gleichaltrige) Kafka einen Roman geschrieben hat, bei dem es immer zweifelhafter wird, ob es überhaupt um drinnen und draußen geht bei alledem oder um Politik und deren Verweigerung oder um fremd und bekannt; es gibt bei Kafka immer Beides, und dazu eine Person, die uns geradezu magisch in eine Welt hineinzieht, bei der wir letztlich, wenn wir später nüchtern drüber nachzudenken suchen, uns merkwürdig berührt finden, was diese Welt dort mit unserer zu schaffen hat, wie wir uns da so reinsteigern, wie wir uns so mit dem Landvermesser identifizieren konnten: Sind wir Verführte ?
Spricht Kafka über seine Skrupel, Verführer zu werden ??
Sind seine LeserInnen die Friedas auf seinem Weg zu Klamm, und würde K. dort Halt machen können ?: zu Westwest ???
Mag sein, die Inszenierung hat ein wenig an Dichte zugelegt, seitdem ich sie sah und Sie sie nun sahen, aber ich kann mir nicht recht vorstellen, daß sie aus ihrem , ich würde es so nennen, polaren Setting herausgekommen ist. Was ich über den "polnischen Ameisenhaufen" seinerzeit las, erschien mir schon in Leserdistanz vielversprechender als das, was ich bei der B- bzw. C-Premiere des "Stückes" sah..
Das Schloss, Berlin: Machtmechanismen
@Arkadij Zarthäuser

Die Vielschichtigkeit und Ambivalenz der unterschiedlichen Themen und Rezeptionsebenen bei Kafka, die ständig drohen einander aufzuheben, haben Sie schon richtig beschrieben. Kafka ist nie nur eines, er ist immer vieles gleichzeitig und genau dadurch zuweilen nichts wirklich Fassbares. Es ist sicher kein Fehler von Erpulat, sich hier einzelne - sehr stark den Roman durchdringende - Themen herauszugreifen.

Ich habe einen durchaus politischen Abend gesehen, inso fern er sehr fein Machtmechanismen und Ausgrenzungsprozesse weniger thematisiert als vorgeführt hat. Und das ohne sie auf eine bestimmte Gesellschaft oder politische Wirklichkeit zu reduzieren. Gerade darin liegt m.E. auch ihre Relevanz.
Das Schloss, Berlin: sehr anregend
@ Prospero,
Die Doors-Songs haben schon eine ganz bestimmte Bedeutung. Hier bei Erpulats Inszenierung geht es vor allem um Wahrnehmung. Aldous Huxleys "Doors of Perception" spielen da genau so hinein, wie William Blakes "The Marriage of Heaven and Hell" was sich auf Dantes "Inferno" bezieht. Es gibt keinen großen Unterschied ob drinnen oder draußen, kein klares gut oder böse. Die durchsichtigen Wände heben und senken sich und spiegeln ja auch die Darsteller. Ich fand die Inszenierung dahingehend sehr anregend, wenn auch mit unter etwas zu bemüht. Erpulat hat ein paar für uns kulturell fremdartige Elemente eingebaut, wie das türkische Dampfbad. Er dreht den Spieß ein wenig um, das ist zum Teil schon sehr witzig. Kafka hatte Autobiografisches in dem Roman verarbeitet, seine Erlebnisse im Amt oder mit seinen verkorksten Frauengeschichten. Erpulat bringt vermutlich noch eigene Erfahrungen mit ein. Das gibt eine interessante Mischung.
"Würden die Pforten der Wahrnehmung gereinigt, würde den Menschen alles so erscheinen, wie es wirklich ist: Unendlich" William Blake.
Das ist es, was der Mensch versucht. Übrigens gibt es ja bei Kafka auch einen Wächter der Pforte (Türhüterlegende im Process).
Das Schloss, Berlin: work in progress
@ Prospero & Stefan

Prospero, Sie beschreiben in Ihrer Kritik, wie Nurkan Erpulat bei "Clash" und "Verrücktes Blut" vorgegangen ist und nun auch beim "Schloß": das Buch als verbindend und trennend - die verschiedenen Ansätze der "Lehrerin" Katharina Matz
zu Beginn der Inszenierung, Kafkas "Schloß" lesend anheben zu lassen und die Interventionen des späteren K. (der fließende Übergang zu diesem) . Sie sehen dabei die Ausgrenzung fein herausgearbeitet. Ich muß zugeben, daß dieses Vorgehen, eine "Schülergruppe" zu zeigen, die gewissermaßen im "work in progress" - Verfahren Kafkas "Schloß" erarbeiten will, auch mir vielversprechend erscheint, ja, auch bei mir werden gewissermaßen wieder einmal die sprichwörtlichen offenen Türen eingerannt, wenn ein Abend sich kleinschrittig und mit zurückhaltendem "Pathos"-Zugriff an den Stoff herantastet: diese Zurückhaltung ist sympathisch und ich nehme sie Erpulat auch ab. Nur, gerade dieses (scheinbar zur Zeit ein Unwort) Konzept wirkt auf mich hier wie draufgepappt und keineswegs irgendwie den späteren Erzählgang strukturierend oder mit Spannung erfüllend, nein, das anfängliche Setting verliert sich nahezu vollständig und wird dann erst gegen Ende wieder aufgegriffen, zu dem, wie Herr Rossmann in der FAZ meineserachtens richtig bemerkt, Nurkan Erpulat ein selbstkritisches Fragezeichen setzt. Auch sehe ich die Feinzeichnung der Ausgrenzung Groves durch die Gruppe in dieser Szene anders. Immerhin spielt Grove ja die Hauptrolle, eben auch in jener Anfangsszene irgendwie. Sein Widerstand gegen die "Lehrerin"-Figur durch Katharina Matz wirkte auf mich insofern eher wie ein Aufstand des "Starschauspielers" gegen seine Regisseurin, beim dritten Anlauf betritt er dann auch die Szene getreu Erzählfluß. Es mag ja sein, daß hier schon eine Parallelebene eingeführt werden sollte, es auch hier um jene "Machtmechanismen" ging (wie Sie das nennen), aber, wie gesagt, so richtig hat für mich schon diese Einführungsszene nicht gezündet; und hiernach war, wie gesagt, von einer Art "Stückentwicklungssetting" wenig zu sehen: es wurde ein (teilweise an empfindlichen Stellen) geraffter, handwerklich ordentlicher, in manchem Rollenwechsel auch sehenswerter (Olga-Monolog !!) Schloß-Erzählstrang dargeboten (mit wenig Gründen, bei Doors-Musik in etwa sogleich an Dantes "Inferno" sich erinnert zu sehen für mein Empfinden), bei dem es Moritz Grove meineserachtens bei weitem weniger gelang zB. als dem K. im Noelte-Film (Maximilian Schell) auch die Einheit dieser Person stark zu machen und nicht nur die "Masken ihrer Möglichkeiten"; ich sah den K. Groves gen charakterschwach tendieren, ganz im Gegensatz zum K. Schells (oder Mühes) beispielsweise.
Ich sehe für diese "Schwächung" der K.-Figur nicht den geringsten, schon gar keinen Anlaß, der das Politische dieser Inszenierung annährend motivieren könnte.
Ich sah mich erinnert an einen allerhöchstens durchschnittlichen bat-Studiotheaterabend, und vielleicht hätte da eine gewisse Chance gelegen sogar.
Angenommen, das wäre jetzt "work in progreß" und K. ist gewissermaßen auch ein Ernst-Busch-Regiestudent, der mit Ernst-Busch-Schauspielstudenten nun Kafkas "Schloß" im Setting eines "work in progress"-Schultheaterabends zu realisieren suchte (mit Frau Matz als gestrenger Schauspiel(regie)-Professorin, die zudem das "Stück" selbst noch vor 50 Jahren gespielt hat), und an dem Abend würde in den Erzählstrang immer wieder etwas einbrechen von den verschiedenen Konfliktmöglichkeiten (zB. zwischen Regie- und Schauspielstudenten an der HfS)
auf der Produktionsebene (auch könnte K. ein junger Schauspielstudent mit Migrationshintergrund sein, der schon die Idee zu dem Buchlese-Plot hatte, bevor Erpulat diesen tatsächlich auf die Bühne gebracht hat, nun aber hinterherhinkt ..., da ließe sich, denke ich, einiges zum Spannungsaufbau ganz im Schloß-Sinne heranziehen !), ehrlich, ich traue es sowohl den Schauspielern und SchauspielerInnen des Abends als auch Herrn Erpulat zu, hier mehr Spannung(sbögen) zu schaffen (auch ganz andere freilich als in meinem jetzt aus der Hüfte geschossenem "Beispielentwurf"): insofern war ich (als jemand, der durchaus auch für seinen Hundsprozeß der Kafka-Anregungen harrt) einigermaßen enttäuscht von dem Abend. Und, ob das wirklich ein türkisches Dampfbad war ?? Also, schon bei Kafka ist es eine Dampfbadszene, und bei Noelte nicht minder, glaube insofern nicht an den "Erpulat-Zusatz" an dieser Stelle..
Das Schloss, Berlin: Meta-Schloss
@Arkadij Zarthäuser

Ich verstehe, dass Sie gern eine Schloss-Interpretation gesehen hätten, die den künstlerischen Schaffensprozess thematisiert, hinterfragt, in Frage stellt, eine Art Meta-Schloss also. Ich habe ein bisschen den Eindruck, dass Sie dem Abend vorzuwerfen, dass er Ihre Interpretationsvorliebe nicht teilt.

Was Sie über die Stringenz des Erpulatschen "Konzepts" sagen, habe ich anders gesehen, aber das kann ja vorkommen :-)

@Stefan

Natürlich haben die Doors-Songs Bedeutung, nur dass mir diese eher auf der OPberfläche zu spielen scheint und arg plakativ daherkommt. Ein wirklicher Erkenntnisgewiinn ergibt sie daraus für mich nicht und William Blake bin ich an dem Abend auch nicht begegnet.

PS: Ein türkisches Dampfbad habe ich auch nicht gesehen.
Das Schloss, Berlin: Spiegelfenster
@ Stefan

Sie schreiben, es ginge Erpulat in der Inszenierung vornehmlich um Wahrnehmung und nennen hierzu eine Linie, die von Dante via William Blake gewissermaßen zu Kafka und den Doors (auch denjenigen der Inszenierung) führt. Auch Prospero spricht von den Lichteffekten und teilweise bedrohlichem Dunkel. Nun, ganz entgangen sind mir diese Züge nicht -ich sah mich zB. erinnert an Spiegel, die von der anderen Seite gesehen wie Fenster funktionieren, halbdurchlässige Spiegelfenster sozusagen, die ja auch bei Auskundschaftungen eine Rolle spielen können-, fand diese allerdings einerseits kaum anders als wiederum eine weitere losgelöste Faser auf wie den Beginn (so daß mir die Prägung des Abends zum Abend über Wahrnehmung letztlich nicht aufgeht), andererseits tritt hinzu möglicherweise ein Problem, welches sich durch die verschiedenen Sitzpositionen im Kammerspielsaal ergeben könnte: immerhin könnten die Wirkung des Dunkels als "unheimlich" sowie die Spiegelungsspiele gut und gerne weiter unten sitzende ZuschauerInnen mehr betreffen als zB. mich, der ich ziemlich weit oben auf dem "Schloßberg" quasi saß und mich davon nicht gar so beeindruckt sah.
Auch muß ich sagen, daß jemand, der weder das "Schloß" gelesen noch William Blake, Dante, Doors genossen hat, hierbei wohl doch so seine Probleme bekommen dürfte, davon abgesehen, daß sich die Voraussetzung dieser Vorkenntnisse eher mit der sympathischen Weise beißt, den Kafka hier sehr behutsam (und eher voraussetzungslos) anzugehen, währenddessen möglicherweise auf der anderen Seite wieder einleuchtender wird, wie der Abend bei der Ruhrtriennale sich zum Schwerpunkt "Buddhismus" verhalten könnte.
Das sehe ich aber durch diese Inszenierung wirklich auch nicht angestoßen, so daß sich für mich etwaige "Kontexterweiterungen" beispielsweise zu Jim Jarmuschs "Dead Man" erübrigen..
Das Schloss, Berlin: ohne den Sog der Romanvorlage
@ Prospero

Sehe gerade Ihre Antwort. Vielen Dank, daß Sie auf die Gefahr hinweisen, das wurde desletzt mE. zurecht schon einmal kritisiert, daß Abende teilweise nur danach "beurteilt" werden, wie der Zuschauer (ich beschränke mich hier auf die männliche Form) sie in etwa "sehen will" und nicht "immanent" (wie immer das ohne Bezugnahme auf den eigenen Verhaltenskontext auch gedacht werden mag). Ich bleibe einmal bei dieser Kurzformel "sehen will". Dem Abend "vorwerfen" möchte ich eigentlich nichts, ich wundere mich nur darüber, daß gerade zB. der Beginn so zusammenhanglos mir erschien mit der gerafften Erzählweise danach, die mir in der Tat leider nicht mehr sagte als die zuvor angesprochenen Filmwerke -auch diese haben für mich im übrigen keineswegs den "Sog" der Romanvorlage !- .Und ich finde, daß gerade, wenn ein eigentlich (ich nehme dann vielleicht vorschnell an : nicht nur für mich) interessantes Schultheatersetting angesetzt wird ua., es plötzlich kaum noch spürbar wird und somit der Abend mich ziemlich kalt läßt und ich auch nicht recht weiß, was Nurkan Erpulat letztlich dazu bewegt hat, das "Schloß" zu inszenieren, dann könnte es durchaus auch an der Regie/Dramaturgie dieses Abends liegen, jedenfalls, stelle ich dann kommentierend fest, liegt dort eine Quelle für mich, von diesem Abend nicht sonderlich angesprochen worden zu sein (das Wort "Zerfaserung" aus der einen oder anderen Printkritik hat für mich da durchaus Plausibilität). Sie haben schon Recht, das ist ua. ja auch das Schöne am Theater, daß sich einerseits die Blicke auf es ziemlich unterscheiden können (siehe "Einsame Menschen", "Rosmersholm" desletzt in unserem Falle) und zudem Abende sich auch weiterentwickeln können etcpp.- möglicherweise helfen dabei (irgendwann) sogar Forum-Feedbacks . Wenn ich in meiner "direkten"
(ersten) Entgegnung auf den Abend noch schrieb, es sei gerade angesichts dessen, daß vor 25-30 Jahren das "Schloß" an diesem Ort wohl generell nicht möglich gewesen wäre, so stelle ich das an dieser Stelle möglicherweise ein wenig zu barsch (und von der Inszenierung und einem Ihrgerechtwerden mich entfernend) einfach so in den Raum, als müßte irgendwann so oder so damit umgegangen und insziniert werden, ja, als wüßte ich hier schon etwas "Entscheidendes". Eigentlich möchte ich gerade diesen Eindruck nicht machen, weil mir ein solches Verhalten eher befremdlich ist/wäre, aber mitunter ertappt "man" sich ja auch. Hätte ich geschrieben: "Ich mußte mir vorstellen, was wohl gewesen wäre, wenn "Das Schloß" am DT vor 30 Jahren hätte laufen sollen und malte mir dazu allerlei aus, und ich freute mich zudem auf einen Kafka-Abend, weil das so ziemlich meine prägende Leseerfahrung ist/war, und fand nun einen Abend vor, der mich nicht so recht anzusprechen verstand", nun gut, das hätte gewiß zunächst weniger den Eindruck eines Vorwurfs gemacht !
Allerdings besagt beispielsweise meine "Ausderhüfteversion" keineswegs, daß es -ihr folgend etwa- für mich jetzt ein großartiger Abend notwendigerweise geworden wäre: im Gegenteil, es hätte ein sehr ärgerlicher Abend sogar sein können, das ist vollends offen, zB. wie es der kürzliche Josephsroman in Lübeck war
bei (meineserachtens) stringenterer Linienführung, zumal nannte ich zur weiteren Abschattung jenes polnische Beispiel..
Das Schloss, Berlin: persönlich und frisch
Lieber Arkadij,
da haben Sie ja noch mal ausführlichst ihre Unbehagen bei der Kafka-Inszenierung von Nurkan Erpulat auf den Punkt gebracht. Seien Sie nicht so streng. Im Vergleich zu den letzten Großproduktionen des Hauses ist mir sein Theater auf der Kammerbühne, dass nicht behauptet Großes sein zu wollen, wesentlich sympathischer als der Befindlichkeitsquark der nebenan läuft. Sie hatten ja das Vergnügen, einigen Aufführungen beizuwohnen. Ich bleibe bei meiner Behauptung, dass hier die ganz persönliche Wahrnehmung jedes einzelnen angesprochen ist, groß Politisches sehe ich dabei übrigens auch nicht, jedenfalls nicht vordergründig. Sie können das auch nicht mit Ihren Eindrücken aus Köln vergleichen, wo Sie sich direkt selbst einbringen konnten. Erpulats Ansatz ist ein persönlicher, wie auch der von Kafka. Der Olga-Monolog ist tatsächlich eine der Schlüsselszenen der Inszenierung, in der Machtstrukturen erkennbar werden, unter denen auch Kafka als (verhinderter) Kreativer in seinem Amt litt. K. versucht sich die Hierarchien des Schlosses nutzbar zu machen, um auch in sie einsteigen zu können. Parallelen zu Erpulat sind da durchaus erlaubt. Bitte das nicht falsch verstehen. Die Theaterszene zu Beginn steht da nur stellvertretend für allgemeine hierarchische Strukturen, aus einer Sicht, die Erpulat kennt. Grove spielt das sehr eindrucksstark, ich verstehe da ihr Problem nicht. Wenn Sie Schell und Mühe zum Vergleich heranziehen, ist das doch etwas völlig anderes, da im Film solche experimentellen Anordnungen nicht funktionieren. Auch hat jeder Regisseur ganz andere Vorstellungen, was er mit dem Roman oder der Titelfigur aussagen will. Die Intension von Kafka ist ja nie eindeutig. Ein großes Experimentierfeld für Regisseure. Haneke z.B. spielt ja auch immer mit versteckten, undurchsichtigen Machtstrukturen, denen der Mensch in seiner geglaubten Sicherheit, plötzlich, willkürlich und scheinbar hilflos ausgeliefert wird. Ulrich Mühe hat das in mehreren Filmen Hanekes wunderbar verkörpert. Es ist ein Spiel des scheinbar Anpassens und wieder Entfernens, hin und her. Genauso hin- und hergerissen wie Kafka selbst, der sich nie für etwas entscheiden konnte. Einerseits die sichere Arbeit im Amt, Andererseits der Wunsch kreativ zu sein. Einmal bürgerliches Leben mit Familie und dann doch wieder Rückzug in seine Welt des Künstlers. Das sind aber alles längst bekannte Interpretationsansätze und Erpulat hat von Allem etwas drin. Vielleicht ermüdet Sie ja das an der inszenierung. Oder ist es doch so, wie Ihnen Prospero, wenn auch nicht böswillig, unterstellt, dass Sie Ihren nicht finden können?

Lieber Prospero,
die Wahrnehmungen sind wohl tatsächlich sehr verschieden, ich wiederhole mich. William Blake und Dantes Inferno hatte ich nur als Querverweis auf Huxley und die Doors erwähnt. Aber auch das wird ja nur vermutet und ist nicht sicher belegt. Die Doors-Songs wirken nur verstärkend und die Kinder haben, außer rumstehen, noch was zu tun. Es ist etwas Frisches bei der doch sehr an Kafka orientierten Inszenierung und der Gedanke des Überschreitens von Wahrnehmungsgrenzen gefällt mir. In den Songs ist dann auch von „Break on through to the other side” bis zu „This is the end / My only friend, the end” alles dabei. Das ist die Entscheidungsebene, obwohl man nicht genau weiß, ob die andere Seite nicht auch das Ende bringt. Besonders in „Break on through“ kommt ja dieses sich nicht entscheiden können, ob Tag oder Nacht, Sehnsucht nach Liebe und dann doch wieder Lüge und Einengung, zum Ausdruck. Möchten Sie wählen?
Aber, darf ich noch fragen, ob sie schon in einem Hamam waren? Nun, den Dampf hätte man mit etwas Trockeneis hinbekommen, muss aber nicht sein. Ansonsten hat eigentlich nur der schnauzbärtige Mann mit dem schwingenden Seifenlappen gefehlt, das wäre aber schon wieder ein Klischee. Aber vielleicht brauche ich auch eine neue Brille. Hören kann ich zumindest noch ganz gut und dass das Lied, was Sesede Terziyan auf Türkisch gesungen hat, nicht von den Doors war, dürfte auch Ihnen aufgefallen sein. Ansonsten stimme ich ja weitestgehend mit Ihnen überein.
„Lost in a Roman… wilderness of pain / All the children are insane”. Na wenn das nicht Kafka ist, dann weiß ich auch nicht.
Gehen Sie ruhig noch heute oder morgen in das Gastspiel des Thalia Theaters mit „Amerika“ in der Regie von Bastian Kraft am DT, da können Sie wahrscheinlich einen ganz anderen Ansatz erleben.
Das Schloss, Berlin: nicht für den Rätselfreund
@ Stefan

Vielen Dank, lieber Stefan, für Ihre erläuternden Zeilen, indirekt auch für den Hinweis auf den Thalia-Kafka, den ich bisher schlicht und ergreifend noch nicht zu fassen bekommen habe. Sie handeln vom "persönlichen Kafka", weiter oben zum Beispiel auch von den (Ihreserachtens ??) "verkorksten Frauengeschichten". Ich will es an dieser Stelle kurz machen, weil meine Betrachtungen sich dann tatsächlich mehr Kafka als "Leseerfahrung in meinem persönlichen (Leselebens-) Prozeß" notwendig annähren würden (und insofern wieder vom Inszenierungsgeschehen
sich zu entfernen drohen). Nun, soetwas wie "verkorkste Frauengeschichten" oder
"nichts im Leben zuende gebracht zu haben" mag sich Franz Kafka selbst ja zuschreiben noch und nöcher, aber ich für meinen Fall möchte dann zB. "Momus" genug sein oder Jagdhund (gegenüber dem Forscherhund, der zu einer dem "Schloß" verwandten Zeit entstand), das Thema "Strenge" hierbei lieber Kafka gegenüber zu befragen: Es fällt mir schwer, angesichts der Leistungen Kafkas, sowie auch angesichts der Feinheiten in seinen Milenabriefen beispielsweise, aber auch eingedenk der zum "Schloß" zeitnäheren Beziehung zu Dora Diamant (auch hier gibt es einen Bezug zu Kindern...), seinem (hyperkritischen ?!...?.) Selbstbild hier zu
folgen, hätte er so letztlich garnichts geleistet, nun, wir täten hier wohl kaum über Romanadaptionen diskutieren, und es ist ja richtig, daß Kafka seinen "Brotberuf" (fast hätte ich Brodberuf geschrieben) hernimmt, aber auch hier ist gut dokumentiert, wie teilweise (frappant) ernsthaft, gewissenhaft und kritisch Kafka auch seine Aufgaben in der Arbeiterunfallversicherungsanstalt versehen hat, und so wird es einem mit so manchem gehen, was Kafka sich als lediglich "angerissen und abgebrochen" (zB. sein Hebräischstudium) selbst vorhält !
Vor allem aber lassen sich diese persönlichen Motive zwar in seinen Werken sehr gut nachweisen, aber, da wo dies nicht gesucht wird, ist Kafkas Kunst halt Kunst genug, auch ohnedies zu wirken (und nicht irgendwie besonders gemildert zu wirken noch dazu !): Kafka gibt nicht einfach Rätsel auf, Kafka ist, das ist in der Tat meine Sicht darauf, kein Autor für den Typus Mensch, den ich als "Rätselfreund" bezeichnen würde. Nun, Sie schreiben jetzt auch vom "persönlichen Künstlertypus"
Nurkan Epulat. Mir wurden die Szenen mit Südfrankreich, Böhmen, dem Lied Sesede
Terziyans (das Sie weiter unten erwähnen) aber garnicht in allzuanderem Sinne "rätselhaft", fernerhin die Entscheidung, K. selbstgeständig das "Landvermessertum als Fiktion" auszuweisen zu lassen, die nennenswerte Nähe (fast Identität) zur/mit der Brückenhauswirtin (bis zum Sitzen auf ihrem Schoß ...), auch schenkt K. Frieda sogleich reinen Wein ein, später scheint aber gerade dies nie so gewesen zu sein:
Sie sehen, ich sehe durchaus die eine oder andere Abweichung von einer bloßen gerafften filmischen Nacherzählungsweise des "Schloß"-Romans, Abweichungen, die in kaum einer der Printkritiken mir hinreichend überhaupt erfaßt als auch darüberhinaus kritisch gewürdigt (mit "Erklärungsansätzen") erscheinen (was ua. auch darauf hindeutet, daß diese Abweichungen immer nur wie "Windows" angeklickt wurden und dann wieder das Zerfaserungsdiktum übernimmt ...). Ich habe mich selbst an einer Würdigung dieser Elemente bisher in der Tat ziemlich ergebnislos versucht. Vielleicht hilft Ihr Ansatz ja, hier das Persönliche bei Erpulat ins Spiel zu bringen (ich kenne ihn dafür zu schlecht, und als ich bei meinem Berlinaufenthalt nach dem "Schloß" in der Naunynstraße auch "Verrücktes Blut" sehen wollte, blieb ich vor den Türen eines hoffnungslos ausverkauften Hauses stehen, zurückgeworfen auf mein je eigenes Landvermessertum, ich versuchte am selben Abend, noch Schaubühne und den talentierten Mr. Ripley (welch Übergang vom Schloß her) zu erreichen und schaffte es sogar zeitlich, war aber wieder ausverkauft, und so habe ich dann einmal den Weg ausgemessen etwa zwischen Naunynstraße und Schaubühne), ich kenne ihn dafür einfach zu schlecht. Als Sie die "Türhüterlegende" (gegenüber Prospero) erwähnten, vergleichten Sie da den "Prozeß" und die "Schloßinszenierung" ?? Ich glaube jedenfalls nicht, daß ich mit meiner (spaßigen, spielerischen, aber nicht minder auch persönlichen) Erwähnung des "Hundsprozesses" hier mehr in Richtung "Vergleich" unternommen habe..
Das Schloss, Berlin: per Pedes vermessen
Nur nochmal in Kürze, bevor wir uns ganz und gar in der Kafka-Biografie verlieren. Ich denke Nurkan Erpulat greift hier auch eine immer diskutierte Variante auf, das K. gar kein Landvermesser ist, also eher ein Landvermesser im Sinne, wie Sie es in Berlin getan haben, per Pedes die Lande durchstreifend. Ein Mensch der nicht sesshaft wird, es sich aber sehnsüchtig wünscht. Natürlich auch wieder eine Metapher für Kafkas Seelenleben - der ja nie über die Grenzen Mitteleuropas hinausgekommen ist - oder denjenigen der diese Erfahrung teilt. Ich kenne Nurkan Erpulats Biografie natürlich auch nicht, aber es wäre durchaus möglich, dass es sich auch bei ihm so verhält. Und dass Kafka seine Pflicht im Amt akribisch erfüllt hat, sagt ja nichts darüber aus, dass er es auch gern tat. Jeder kann und wird seinen Kafka irgendwo da in Erpulats Inszenierung wiederfinden, das ist Vorteil und Manko gleichermaßen.

Etwas ganz Neues, Unerwartetes haben tatsächlich Philipp Hochmaier und Bastian Kraft mit ihrer Kleiner-Mann-in-der-Kiste-Performance von Kafkas „Amerika“ gewagt. Dass diese Plexiglasbox innen verspiegelt ist, bekommt man erst so nach und nach mit, wenn sich Hochmaier mittels einer Kamera zu vervielfältigen beginnt. Er wird sozusagen zu einer Art multiplen Persönlichkeit, man hat zumindest den Eindruck davon. Wenn man als junger Mensch „Amerika“ liest, leidet man ja mit diesem Karl Roßmann mit und ist regelrecht erleichtert, wenn er dann in die Weite Amerikas aufbricht und gleichzeitig enttäuscht, dass es nicht weitergeht. Hier wird nun dieser Naivling aus Europa, wie wir ja auch selbst - und deshalb sollte man Kafka möglichst früh lesen – einmal einer waren, durch die Mühlen einer realen und gleichermaßen auch irrealen, für ihn nicht zu begreifenden Welt gedreht, sinnlos im Kreis gehetzt und verliert nicht nur nach und nach seine Kleider, sondern Würde und Menschlichkeit gleich dazu. Wie ein Hamster im Rad, rennt Hochmaier durch den Text und repetiert immer wieder Karls Begrüßungsfloskeln. Einer der es mit seinem jugendlichen Gerechtigkeitssinn schließlich jedem Recht machen will, scheitert an der banalen Tatsache, dass die kapitalistische Gesellschaft so nicht funktioniert, selbst ganz unten tritt man ihn noch und er landet schließlich wie Gregor Samsa auf dem Rücken. Rückschlüsse zu Ayn Rand, die parallel in den Kammerspielen lief, sind durchaus erlaubt. Auch Hochmaier und Kraft ironisieren in ihrer Inszenierung und entzaubern unser Mitgefühl für Karl und schließlich den Kafka´schen Go-West-Mythos mit der Utopie des Oklahoma Naturtheaters, das wirklich jeden brauchen kann, inklusive der Zuschauer. Wobei man natürlich nicht genau weiß, wofür das Theater bei Kafka wirklich stand, die ironische Art der Inszenierung weist ja auch in die Richtung, dass es gar keine Utopie ist, sondern nur der nächste endgültige Abgrund.
Also vielleicht schauen Sie sich das mal in Hamburg an, es lohnt auf jeden Fall.
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