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Citizen Kane oder Vertigo?

von Kai Krösche

Wien, 24. September 2011. "So sausen wir kühn ins Dunkel hinein" steht, Weiß auf Schwarz, auf dem Programmheft. Und darunter: "Ja, Erna, das ist vielleicht das Allerlustigste". Ins Dunkel hinein gesaust, gar allzu kühn, sind wohl auch Alvis Hermanis und sein Team bei der Arbeit an ihrer Burgtheater-Inszenierung von Schnitzlers "Das weite Land" – für das "Allerlustigste" hielt das jedoch zumindest das Premierenpublikum nicht wirklich.

Ja, was denn nun: film noir oder Hitchcock-Melodram, "Citizen Kane" oder "Vertigo"? Nicht einmal die Soundkulisse mag sich recht entscheiden an diesem ermüdenden Theaterabend. Bernard Herrmann ist nun einmal nicht gleich Bernard Herrmann, so wie Schnitzler nicht gleich Otto Preminger oder Billy Wilder ist, so sehr die letztgenannten auch von österreichischer Herkunft in die USA ausgewandert sein mögen. Was auf der Bühne des Burgtheaters in ermüdend langen vier Stunden vor sich geht, lässt sich allenfalls als gnadenlos gescheitertes Experiment bezeichnen – den eigentlich ja nicht unspannenden Versuch, die Untiefen Schnitzler'scher Seelenlandschaften in ein 40er-Jahre film noir-Setting zu verlegen, samt schwarzweißer Kulisse, schwarzweißen Kostümen, schwarzweißen Haaren – und einer überwältigenden Menge schwarzweißer Klischees.

Tataratam!
Nicht eine einzige Regieidee vermag an diesem Abend aufzugehen, stattdessen spielt ein eigentlich starkes Ensemble – allen voran ein fast auf rebellische Weise Grautöne in das posen-, oft unfreiwillig possenhafte Spiel bringender Peter Simonischek – an gegen ein inkonsequentes, aufgestülptes und in seiner Beliebigkeit (daran können auch gegenteilige Beteuerungen der Regie im Programmheft nichts ändern) geradezu amateurhaftes Regiekonzept. Ziellos stolpert der Abend zwischen Überzeichnung ("Tataratam!"– sind wir jetzt in einer Kino-Krimiparodie?), psychologischem Spiel, vulgärsurrealistischem Geschwafel und, nun ja, eben hilflosen film noir-Anleihen herum. Und wieso stolpern da immer wieder acht Hitchcock-blonde Frauen zur Musik von "Vertigo" choreographiert über die Bühne?

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Foto: Georg Soulek

Die Hauptfrauenfiguren des Abends, Dörte Lyssewski als Genia und Katharina Lorenz als Erna, sind weitgehend dazu verdammt, femme fatale-Posen (ewiges Rumgeräkel, Geseufze, tiefe, böse oder leidende Gesichter) zu reproduzieren. So sehr sie auch mit ihren blonden Haaren (blond und Haut sind die einzigen Farben an diesem Abend) an die fatale Patricia Arquette in David Lynchs "Lost Highway" erinnert, so lasziv sie ihren Hintern dem Otto von Aigner auch bei der Billardpartie entgegenstreckt, so klar bleibt Lyssewski dabei trotzdem die enttäuschte, vielleicht noch abgeklärte Genia; so katzenhaft sich Katharina Lorenz auch auf den Kanapees herumräkelt, so sehr bleibt sie die junge, gewitzte, aber eben doch verliebte und sicher nicht manipulative, männerfressende Erna. Nein, nein, so sehr man das auch wollen mag, das sind keine femmes fatales, die da durch Schnitzlers Stück wandeln, da hilft es auch nichts, dass vielleicht mit viel Mühe und Not aus den Friedrich Hofreiters und Doktoren von Aigner mit viel kluger Phantasie die gebrochenen Antihelden amerikanischer Filme der schwarzen Serie gemacht werden könnten.

Streicher-Geseufze
Bei allem in seiner stundenlangen Wiederholung einlullenden, unterm Strich aber natürlich trotzdem tollen Geseufze Herrmann'scher Filmmusik-Streicher, bei allem manchmal schönen, dann aber auch recht selbstreferentiellen Licht-und-Schatten-Jalousienspiel: Da bleibt am Ende dann wirklich, so sehr man nach mehr sucht, wenig übrig abseits der Erkenntnis, daß Schnitzlers Text immerhin stark genug ist, um sogar im Rahmen einer derart im grauen Einerlei versinkenden Inszenierung dann und wann so etwas wie Anflüge von bewegenden Augenblicken zu produzieren.

 

Das weite Land
von Arthur Schnitzler
Regie und Bühne: Alvis Hermanis, Kostüme: Eva Dessecker, Licht: Friedrich Rom, Dramaturgie: Amely Joanna Haag, Sounddesign: Raimund Hornich, Florian Pilz.
Mit: Peter Simonischek, Dörte Lyssewski, Corinna Kirchhoff, Lucas Gregorowicz, Michael König, Kirsten Dene, Katharina Lorenz, Martin Reinke, Stefanie Dvorak, Falk Rockstroh, Peter Knaack, André Meyer, Hermann Scheidleder, Stefan Wieland, Robert Sadil, Denis Suslijk, Christian Schreibmüller, Christine Pauls, Sebastian Blin, Bernhard Mendel, Elisabeth Aref, Birgit Edlhofer, Magdalena Hartl, Susie Ramberger, Prisca Schweiger, Julitta Walder, Kinga Walus, Tina Weingärtner

www.burgtheater.at

 


Kritikenrundschau

"Der lettische Regisseur Alvis Hermanis, der auf der Bühne gern ein Ausmaler ist, der zuletzt in Wien Tschechows 'Platonow' in erlesensten Bildern hinter Glasfronten derart murmelnd verkrakelierte, dass man gar nichts mehr verstand, macht aus dem Schnitzler ein großes Kino-Gemälde. Und es funktioniert wunderbar", schreibt Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (26.9.2011). Dörte Lyssewski als Genia agiere "mit der raffinierten Pedanterie einer Lüsternheit, die sich als Unschuld tarnt, aber jeden Dreck am Stecken noch als Tugendeis am Stiel verkauft". Peter Simonischek als ihr Gatte Hofreiter sei kein "Frauenverbraucher", sondern "Liebesgangster, aber auch ganz Bitterzuckerbäcker von erotischen Mürbkeksen, Begehrensschaumgebäck mit einer Injektion Giftobers". Durch lüsterne Figurenarrangements hindurch wird für den Kritiker eine kühle Diagnose erkennbar: "Die Seele, die sowieso keiner hat, ist hier kein weites Land. Sie ist ein krimineller Bezirk. In dem alle Verbrechensmöglichkeiten nur in der bösen, stickigen Luft liegen." Den "kriminellen Reiz" des Ganzen stellten die Schulden dar. "Und da findet die Regie den springend genialen Punkt, der vom immer noch faszinierenden Kino-Genre von gestern in eine Welt von heute herfunkelt, in der alle mit allem spielen (vor allem mit der Zukunft), aber niemand bezahlen will – wiewohl alle Schulden ins Gigantische wachsen. Und das ist keine theatralische Bearbeitung eines Filmstoffes. Das ist großes Theater – mit filmischem Bewusstsein (etwas ganz anderes). Hermanis setzt das als Ahnung, Stimmung in Düstereffekte. Glühbirnendurchleuchtet. Unter Projektorenstrahlen."

Weitaus reservierter urteilt Gerald Heidegger im ORF (25.9.2011): "Mutmaßungen über andere und über sich selbst bestimmen den Text von Schnitzler. Und Regisseur Hermanis, der selbst das grau gehaltene Bühnenbild ausgetüftelt hat, entscheidet sich für die dicke Projektion aller Mutmaßungen als Schatten und Schimäre auf die Wände der Hofreiter'schen Villa. Die Tragikomödie des Ausgangstexts ist hier zum Melodram geworden, das nach dauernder Steigerung schreit." Wenig überzeugt zeigt sich der Kritiker von der erotischen Grundatmosphäre: "Platinblonde Genien durchstreifen den somnabulen Nachtraum Raum. Mitunter wirkt das so aufdringlich, dass man sich fürchten muss, hier wären einem Palmers-Plakat die Models entlaufen." Die Verwendung von Filmpartikeln nehme "dem Stück die Luft", man fühle sich "in diesem Film-Noir-Setting", als "hätte man sich an amerikanischen Cupcakes überessen". Es sei eine "Schattenwelt", in der "ohnedies ganz eigene Gesetze zu gelten scheinen und der Verweis auf gesellschaftliche Verbindlichkeit überflüssig wirkt." Wenn "am Ende für Wiener Verhältnisse mehr als deutlich gebuht wurde, dann vielleicht auch deshalb, weil hier jemand derart brachial in den Vorstellungsraum der Zuschauer eingebrochen ist. Nicht nur die Seele, auch die Assoziationskraft darf ein weites Land sein."

"Wiener Schnitzler mit grauer Soße" und "vier Stunden gnadenloser Langeweile" hat Norbert Mayer von der Presse (26.9.2011) in dieser "verstaubten Hollywood-Imitation" erlebt. "Talente wie auch reife Stars des Burgtheaters werden dazu verdammt, bloße Karikaturen zu spielen. Nichts bleibt in der Schwebe, wie das der Text suggeriert, sondern ist irre Übertreibung. Aus einer fein abgestimmten Tragikomödie wird in voller Absicht billige Farce." So fällt das Gesamturteil über das Konzept hart aus: "Ein Genie des angemessenen Tempos wie Alfred Hitchcock verstand es, scheinbar stufenlos in einem neunzigminütigen Film Spannung aufzubauen. Doch vier Stunden musikalischen 'Suspense' zu versprechen und dann die Erwartung nicht einzulösen, dürfte der grausame Einfall sich selbst überschätzenden Epigonentums sein."

Ungnädig zeigt sich auch Ronald Pohl im Standard (26.9.2011): "Hermanis, der auch die Bühne für dieses betrübliche Schnitzler-Missverständnis eingerichtet hat, ist ein bis zur Verstocktheit aufrechter Künstler. Er steckt Stücke wie Das weite Land ohne Bedenken in seinen nicht eben randvollen Ideensack. Eine Idee pro Aufführung muss reichen." Die Figuren in dieser "Film noir"-Adaption seien "vollauf damit beschäftigt, den Vamp zu geben oder den gepuderten Mafioso. Sie flüchten sich bei jeder Gelegenheit auf eine Couch. Sie unterhalten sich nicht etwa miteinander, sondern sie gewähren einander Analysestunden." Applaus hat der Kritiker einzig für Klaus Maria Brandauer übrig, der im Vorfeld darauf verzichtet hatte, für "Hermanis den Hofreiter zu spielen".

In eine Krimilandschaft wie bei Raymond Chandler fühlt sich Christine Dössel, die für die Süddeutsche Zeitung (28.9.2011) zur zweiten Aufführung angereist ist, an diesem Abend versetzt. Sie konstatiert zunächst, dass der dieser Schnitzler "unglaublich gut inszeniert ist. Soll heißen: geschmackvoll, elegant, technisch und darstellerisch überaus gewandt, wahnsinnig schön anzusehen und inhaltlich Spannung nicht nur suggerierend, sondern durchaus auch erzeugend". Dann aber folgen die Negativpunkte: Das "so schleichend-schläfrig daherkommende Filmtheater" habe "eine dramaturgisch schädliche Überlänge", zudem mangle es an tragischer "Fallhöhe". Schlimm nehme sich auch das Frauenbild aus: Hermanis führe allerorten den Vamp, das "das ewig lockende Weib", vor. Regelmäßig stoße er die Figuren auf die "Psycho-Couch", die "von jedem, der etwas zu bekennen oder zu benennen hat", genutzt werde.

Für Ulrich Weinzierl von der Welt (28.9.2011) steckt "streckenweise Faszinationskraft" in diesem Abend, allerdings abhängig vom Sitzplatz: "Anders als im Kino, das mittels Nahaufnahmen Intimität schafft, müsste man in den vorderen Reihen sitzen, um die Feinheiten des Beziehungsgeflechts spüren zu können. Die meisten sehen aber bloß aus der Ferne die Totale, auf der Riesenbühne der 'Burg' naturgemäß im Breitwandformat. Selten springt da der Funke in den Saal über." Zu Anfang und am Schluss hat Weinzierl eine Sogkraft ausgemacht, im dritten Aufzug allerdings "gefällt sich Hermanis dann leider in sinnfreien Mätzchen". Dass die Frauen vornehmlich als "Typen-Mischung aus Baby Doll und Vamp" auftreten, wird implizit kritisch vermerkt. "Das Atout der Inszenierung ist Peter Simonischek, ein grandioser Hofreiter. Er als Einziger darf den weichen Schnitzler-Ton sprechen, der Härte, Kälte und Gemeinheit in Watte packt."

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