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Jahrhundert-Spiegel

von Esther Slevogt

Berlin, 24. September 2011. Wir sitzen vor einem riesigen Spiegel und sehen erst mal uns selbst. Zumindest, wer einen Platz einigermaßen im Zentrum des Zuschauerraums hat. Wer am Rande platziert ist, ist von der Reflexion ausgeschlossen, die der Spiegel uns Menschenbrüdern ermöglichen soll, den Bühnenbildner Olaf Altmann als vierte Wand vor die Bühne gebaut hat. Er lässt sich um einige Grade kippen, was gelegentlich zu verblüffenden optischen Effekten führt: Die sieben Schauspieler sind manchmal nur im Bild zu sehen, das der Spiegel von ihnen zurückwirft, und sehen dabei zuweilen aus wie präparierte Insekten im Kasten eines Schmetterlingssammlers. Oder wirken, als kämpften sie mühsam gegen die Schwerkraft, gegen den Sog der Unterwelt an. Als wänden sie sich aufwärts, rutschten in ihren schlammigen, blutverschmierten Kutten und Anzügen aber immer wieder ab. Gegen Ende des dreieinhalbstündigen Abends ist der Spiegel so weit gekippt, dass man im Hintergrund merkwürdiges Treiben beobachten kann. Ein spitzhütiges archaisches Gefährt rollt gemächlich über die Hinterbühne (ein skythischer Totenwagen, klärt uns das Programmheft auf). In diffus flackerndem Licht sieht man undeutliche Bewegungen der Akteure, die so recht kein Bild ergeben. Blicken wir hier jetzt schon ins Totenreich?

Jeder ist schuldig
Wir sind in Berlins Maxim Gorki Theater und wohnen dem Versuch bei, die unfassbare Geschichte des 20. Jahrhunderts auf ein theatertaugliches Format zu kondensieren. Im vorliegenden Fall liegt der Sache der 2006 erschienene Roman von Jonathan Littell "Die Wohlgesinnten" zu Grunde. Ein Buch, das den Zweiten Weltkrieg und die Gräuel der Wehrmacht mit unfassbarer Detailtreue aus der Sicht des Intellektuellen und SS-Mannes Max Aue schildert und dabei gleichzeitig das Projekt verfolgt, diesen Mann als einen Orest des 20. Jahrhunderts zu zeichnen, den Zweiten Weltkrieg und seine Schrecken zu einem modernen trojanischen Krieg erklärt. Wobei der antike Mythos dieses Krieges sozusagen den Beginn der Geschichte und zivilen Ordnung markiert, während jener Zweite Weltkrieg bei Littell nicht nur das Ende der Geschichte, sondern auch das Ende jeglicher zivilen Ordnung ist. Jeder ist schuldig. Alle sind Mörder. Da wären wir wieder beim Spiegel im Zuschauerraum des Maxim Gorki Theaters. Die Mörder sind auch unter uns Zuschauern, will der uns nämlich sagen. Wenn das Theater uns doch bloß nicht immer für dümmer halten würde, als wir sind. Oder ist es am Ende selber dumm?

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Foto: Bettina Stöß

 

Bestürzende Miniaturen
Denn Pathos und große Geste, mit der hier zur Welt- und Katastrophenerklärung ausgeholt wird, sind nach einer halben Stunde kunstangestrengten Theaters verpufft. Man sieht ein paar redlich brüllenden, gelegentlich chorisch sprechenden Schauspielern dabei zu, wie sie einerseits mordende Nazis, sterbende Soldaten oder Juden mimen. Es ist vom Mord an den europäischen Juden die Rede, von Massakern und Massenerschießungen an der Ostfront, zerfetzten Soldatenkörpern, Auschwitz. Littell gelingt es immer wieder, bestürzende Miniaturen individueller Opfer einzubauen, Einzelnen in den Leichengebirgen plötzlich Gesichter von großer Eindringlichkeit zu geben, sie symbolisch zu überhöhen. Geschichten, die auch die Fassung des Gorki Theaters wirkungssicher isoliert und nacherzählt. Dabei aber den Verdacht erweckt, die Brutalität in den Dienst einer (leider wohlfeilen) Ästhetik des Schreckens zu stellen.

Blut und Kot
Armin Petras und sein Dramaturg Jens Groß können sich nicht entscheiden: Einerseits wollen sie Mythos, konkrete Bildverweigerung. Da wedeln die Darsteller mit archaischen Masken, als wärs ein volkstümliches Mysterienspiel. Eine Cellistin (Anne-Christin Schwarz) legt vom Zuschauerraum aus eine düstere Tonspur unter das Geschehen. Peter Kurth, der den alten Max Aue spielt, packt irgendwann seine Klarinette aus und untermalt jazzig die mörderische Erzählung. Es spritzt und schmiert viel dickflüssige rote und schwarze Farbe – sie steht für das Blut und den Kot, der aus dem notorisch durchfallkranken SS-Mann Aue fließt. Auch ein Mörder hat schließlich eine Psychosomatik. Max Simonischek, der ihn spielt, windet sich immer wieder wie von krampfartigen Anfällen geschüttelt. Soviel Konkretion muss bei aller Bilderverweigerung wohl doch sein. Dann ist da Anja Schneider, die mit sicherem Tragödinnenton ihre Figurenfragmente versieht (und verkitscht). Cristin König, die dramaturgisch wichtige Figuren schablonenhaft überspielt und gänzlich um ihre Wirkung bringt. Aenne Schwarz als dunkle Schöne und moderne Elektra kann auch nicht so richtig wirken. Thomas Lawinky peppt das Tableau mit verschiedenen tumben Nazi-Typen auf.

Wie früher im Wurstgeschäft
Und wir, die wir als Zuschauer erwartungsvoll immer auch das Bild von uns selbst betrachten, das uns der Spiegel zurückwirft, sehen uns langsam zermürbt vom vermessenen Anspruch des Abends, hier als kleines Theaterlein mal so eben die großen Fragen des Jahrhunderts an einem Abend aufzuwerfen - ohne Entscheidung, ob man die Sache mythisch oder aufklärerisch angehen will. So tunkt die Bilderwelt des Abends den Stoff in eine mythische Ursuppe. Das Programmheft tritt sehr geschwollen mit Beiträgen zur modernen Täterforschung und Aufklärung auf, zu der dieser Abend nun wirklich keinen Beitrag leistet. Er ist Theater und sonst nichts (und leider eben noch nicht mal gutes). Theater, das sich als Ausdrucksverstärker ein paar Millionen Leichen zu Hilfe nimmt und dabei nicht immer deren Würde zu wahren weiß. Manchmal fühlt man sich wie früher im Wurstgeschäft. Wenn die Verkäuferin mit serviler Miene noch ein paar Scheiben zusätzlich auf die Waage legte: "Darf's ein bisschen mehr sein?"

 

Die Wohlgesinnten
von Jonathan Littell, auf der Basis der Übersetzung von Hainer Kober für die Bühne bearbeitet von Armin Petras
Regie: Armin Petras, Bühne: Olaf Altmann, Kostüme: Karoline Bierner, Musik: Thomas Kürstner, Sebastian Vogel, Licht: Norman Plathe, Dramaturgie: Jens Groß, Cello: Anne-Christin Schwarz.
Mit: Peter Kurth, Max Simonischek, Cristin König, Anja Schneider, Aenne Schwarz, Thomas Lawinky.

www.gorki.de

 

Mehr zur Geschichtsaufarbeitung am Maxim Gorki Theater? Zuletzt inszenierte Jorinde Dröse Hans Falladas Widerstandsroman Jeder stirbt für sich allein, davor ging Milan Peschel mit Sein oder Nichtsein das Thema Nationalsozialismus komödiantisch an.

 

Kritikenrundschau

An die Stelle von Saftigkeit und Identifikation setze Armin Petras Ästhetisierung und Reflexion, schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (26.09.2011). Das Zitieren von Theaterstilen, selbst der Einsatz von Blut-, Eiter- und Kot-Ersatzstoffen sei "eine einzige hohe und ausgestellte Kunstanstrengung. Nichts Authentisches, kein Foto, kein Filmeinspieler." Mit der kühlen Reflexion gehe der Theaterabend eine gänzlich andere Richtung als der Roman: "Er nimmt zwar wie dieser die Täterperspektive ein und vermeidet jeglichen identifikatorischen Blick auf die Opfer – aber er bleibt appellarisch, ganz und gar ungenüsslich. Das Theaterartifizielle wirft einen immer wieder aus dem Geschehen, in das einen der Roman hineinzwingt. Das ist womöglich gar nicht Absicht und der Tatsache geschuldet, dass eine 1400-seitige mythisch überhöhte, aber konkrete Gedanken- und Erlebnis-Sammlung nicht in dreieinhalb Theaterstunden zu fassen ist ohne zu abstrahieren und abzuhaken. Das aufregerische Wirkprinzip des Littell-Saftschinkens muss so zur theatralen Selbstreflexion verdörren."

Die Bilder, die Petras finde, wirkten nicht immer souverän, befindet Christine Wahl im Berliner Tagesspiegel (26.9.2011): "Der Konfettiregen bei Fliegerangriffen im Luftschutzkeller kommt wie so mancher Licht- und optische Täuschungseffekt am Riesenspiegel aus der Trickkiste für olle Kamellen." Außerdem nehme es Petras "mit diesem Abend, mit diesem Sujet so verdammt ernst, dass er keinesfalls in jene Pornografiefalle tappen will, in der einige Kritiker Littell zappeln sahen". Indem er fast alles Skandalöse, Anstößige und Irritierende des Romans tilge, bleibe wenig mehr als eine politisch korrekte Geschichtsstunde, die wenig Neues erzählt.

"Vom Täter Maximilian Aue bleibt in dieser Inszenierung nicht viel", meint Dirk Knipphals in der tagesszeitung (26.9.2011). "Eher sieht man, dass ihre Taten auch für die Täter menschlich schwierig auszuhalten und zu bearbeiten waren. Ob man das so genau wissen will, war schon beim Lesen des Romans eine große Frage." Der Bühnenspiegel, das zentrale Requisit, behaupte zudem, dass dieser Theaterabend als Selbsterkundung funktionieren solle. "Man versteht als Zuschauer auch diese Geste, aber findet letztlich trotz aller einleuchtenden Theaterlösungen zu wenig Material, in dem man sich selbst erkunden kann."

Der Abend schwimme ungeniert im Schatten des Skandalbestsellers von Jonathan Littell daher und schrumpfe dessen komplexe narrative Verstiegenheit auf ein gemütliches Mittelmaß zusammen, ärgert sich Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (27.9.2011). Zuschauer, die den Roman nicht gelesen haben, würden sich in dieser "sprunghaften Szenenfolge" wohl kaum zurecht finden. "Historischer Wahnsinn hin, wirkungssüchtiges Kalkül her - das alles hätte uns etwas angehen können." Aber Petras' Inszenierung habe dafür "weder das Format noch die Mittel, weder das Herz noch die Härte."

Erzählung schaffe ja immer Distanz, schreibt Matthias Heine in der Welt (27.9.2011). Insofern habe wohl niemand das Gorki Theater nach diesem "manchmal atemberaubenden" Abend mit Tränen in den Augen verlassen. Aber: "Wer solchen Reflexen nachgibt, denkt nicht." Insofern sei es nicht das Schlechteste, was man diesen Berliner "Wohlgesinnten" nachsagen könnte: "dass sie einen zum Denken zwingen".

"Diese Inszenierung ist eine Zumutung", findet Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (27.9.2011). Aber: auch die Romanvorlage sei ja eine Zumutung. Und Petras sei es gelungen, aus Littells "ungeheuren Stoffmassen" einen Abend über die dünne Grenze zwischen Zivilisation und Barbarei zu machen, ohne in die "naheliegenden Fallen einer obzön süffigen Weltkriegs- und Nazishow" zu gehen. Trotz der "unübersehbaren Schwächen" des Abends, der über lange Strecken keine Form finde, nötigen Laudenbach der Ernst, der Mut, die gesamte Haltung der Beteiligten, sich ohne Ausflüchte mit diesem so fürchterlichen wie unabweisbaren Roman-Monster auseinanderzusetzen, "großen Respekt" ab.

Zwar gebe der Spiegel über der Bühne, der zunächst die "Mitte der (Theater-)Gesellschaft" zeige, "eine Einladung zur Selbstreflexion", aber wie "Aue ins Morden gerät, spielt sich dann unten vor dem Spiegel ab, oder besser: spult sich ab. Denn gespielt wird kaum." Wobei die Spielverweigerung dem Sujet angemessen ist, findet Maximilian Probst in der Wochenzeitung Die Zeit (29.9.2011). Nach der Pause weiche "Petras Scheu vor Bildern". "Allerdings sind die Bilder, die Petras nun findet, vor allem solche, die einen selbstreflexiven, bis zur Ironie gehenden Zweifel an ihrer Tauglichkeit transportieren." Sprich: Nicht ein "funktionaler Machtbetrieb" und seine "perverse Normalität" sind auf der Bühne zu sehen, sondern "nur ein paar Spinner". Weder die langsame historistische Genauigkeit noch die Beschleunigungen des Erzähltempos könne die Bühne realisieren. "Nur die saftigen Passagen des Romans kommen deshalb bei Petras aufs Parkett", und damit nicht mehr als ein halber Litell. "Ein halber Littell taugt aber gar nichts" bzw. allenfalls zum Beweis, "dass sich 'Die Wohlgesinnten' unter keinen Umständen auf die Bühne bringen lassen".



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