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Entsetzliche Bilder des Leidens

von Reinhard Kriechbaum

Graz, 30. September 2011. Splitterfasernackt sitzt er da, der Pianist Mario Formenti. So wie Gott ihn und seinen Bösendorfer schuf. Wahrscheinlich genau dafür, für diesen Abend, für diese Theaterproduktion. Und für Haydns "Sieben letzte Worte" sowieso, diese Folge von Adagio-Sätzen, die es gar nicht geben würde, wenn es Gott nicht gäbe (ein Punkt, in dem sogar geeichte Agnostiker in Argumentationsnotstand gerieten).

Aber jetzt erst mal von Anfang an. "Gólgota Picnic" ist angesagt, und da stehen auf sonst leerer Bühne auch einige Campingstühle bereit, und allerlei Essbares. Gemüse vor allem. Der Bühnenboden ist dicht an dicht belegt mit Hamburger-Brötchen. Die Frau in der Runde beginnt mit einem großen Lamento des gefallenen Engels, des Teufels, der offenkundig Schwierigkeiten hat mit der Landung. Was sollte er der Menschheit auch Böses bringen – ist doch alles schon mal da gewesen: "Ich kann euch weder lehren, Städte noch ganze Völker auszulöschen, ich kann euch die Techniken für einen Holocaust nicht beibringen: Das habt ihr bereits getan."

Die Barbarei genießen auf dem Humus des Schreckens

Das geht eine ellenlange, mit monotoner Stimme vorgetragene Litanei so dahin. Der argentinisch-spanische Theatermann Rodrigo Garcia, 1964 in Buenos Aires geboren, erzählt vom Ur-Schlechten, vom Erz-Bösen dieser Welt. Und er fragt, mehr oder weniger explizit, ob all das Schlechte nicht (auch) im Religiösen wurzelt. Oder wachsen die religiösen Sehnsüchte gerade auf dem Humus dieses Schreckens ohne Ende? Theologen und Philosophen hätten alle Hände voll zu tun angesichts dieser dick eingekochten, argumentativ und assoziativ durchwachsenen Textbrühe.

Garcias pseudo-religiöse Gedankenkonglomerate leben von der freien Assoziation, vom Herausklopfen von Sentenzen aus ganz unterschiedlichen Denkgebäuden. Wald- und Wiesenphilosophieren und die Konfrontation mit dem Christentum als philosophischem System, mit der christlich/katholisch-religiösen Sprache und volkstümlichen Vorstellungen sind in diesem Fall aber gerade die Stärke: Manch intellektuell sich gerierender Stehsatz wird aufs Bizarrste entlarvt, und manch saloppes Statement offenbart tiefere Lebensweisheit. Das ansehnliche Textkonvolut lebt von solchen Überraschungen.

Haben wir all unsere Schlechtigkeit ererbt? Immer wieder hebt einer auf der Bühne an zu Lamenti über unser kulturelles Erbe: Ist in Rubens' Gemälde "Aufrichtung des Kreuzes" der vierbeinige Zaungast, der Hund, wirklich der einzige, der nie jemand anderen verraten hat? Was genau beweinen die Engel in einem Fresko von Giotto? In einer anderen Szene wird heftig abgerechnet mit den Museen, weil wir dort "einen Albtraum auf Leinwand, Tafeln und Papier" als visuelles Erbe mitschleppen: "Niemand dürfte jemals mehr Zugang haben zu diesen entsetzlichen Bildern des Leidensweges, der Kreuze und Tränen, der offenen Wunden und den Fingern, die darin wühlen, der Propaganda der Perversion, Folter und Grausamkeit, die mit cleanen Techniken geschaffen wurden." Es gibt dort Leute, die "Tickets abzwicken, damit du die Barbarei genießen kannst" und Führungen für Kinder, "damit die Kinder lernen, Böses zu tun".

Die FPÖ, Christus und der Fleischwolf

Das klingt alles nicht wenig gestelzt? Ja, schon auch. Aber Rodrigo Garcias "Gólgota Picnic" ist vor allem die ironische, keineswegs verbistert-humorlose Abrechnung mit alltagstauglich zurechtgebogener Überlebensphilosophie. Da können wir zusehen, wie auf der Bühne der Fleischwolf angeworfen wird, während wir mit Jesu letzten Worten konfrontiert werden. So sehr Garcia auch mit christlichen Versatzstücken spielt, so gerne er frivol zitiert und rotzfrech verfremdet – die sorgsam gedrechselten Paraphrasen sind nicht blasphemisch. Kritiker aus FPÖ-Kreisen haben freilich schon vor der Premiere genau gewusst, dass christliche Lehren herabgewürdigt werden, und am Premierenabend ist vor dem Grazer Orpheum ein Grüppchen von Christentums-Rettern mit Kreuz aufmarschiert. Sie alle haben das Stück eben nicht gesehen.

Für aus dem Zusammenhang gerissene Sekunden-Häppchen im Fernsehen böte "Gólgota Picnic" freilich genügend Material, mit dem man heftig anecken könnte. Als Ganzes ist Gracias Produktion eine Anklage der nach wie vor abendländisch-christlich sozialisierten Welt, die so gar nicht im Sinne ihres Erfinders funktioniert. Die christliche Verteufelung der Fleischeslust? Wenn zwei Männer und eine Frau ihre Haare – Haupt- und Schamhaare – einölen, sie aneinander legen, gleichsam zu Skulpturen aus Haut und Haar zusammen wachsen, sind das eindrucksvolle Bilder.

Solche sind auch notwendig, denn im Grunde ist "Gólgota Picnic" handlungsarmes episches Sprechtheater. Es gilt das gesprochene Wort. Zum Teil werden kleine Handlungen riesig am Bühnenhintergrund projiziert, andere Aktionen muten an wie das Zelebrieren eines wiedererstandenen Wiener Aktionismus der späten sechziger Jahre. Das Orgien-Mysterien-Theater von Hermann Nitsch lässt in einer eindringlich choreographierten Szene grüßen, in der die nackten Körper mit roter und blauer Farbe besprüht werden. Zuletzt gibt es Abdrücke auf weißem Leinen. Wer drin eine Anspielung aufs Turiner Grabtuch sehen möchte …

Mutterseelen allein mit Haydns Musik

Und welche Antwort gibt – Gott? Nach anderthalb Stunden wird der Bösendorfer auf die Bühne gerollt, die folgenden fünfzig Minuten gehören Mario Formenti und seinem Klavier. Die fünf Schauspieler sitzen auf ihrem Picnic-Platz und ruhen wie einst die Jünger im Garten Gethsemanae, während Christus den Häschern zum Opfer gefallen ist: Da bleiben wir plötzlich mutterseelenallein mit Haydns Musik, sind gezwungen, einen intensiven Theaterabend im Wortsinn nachklingen zu lassen.

Es bleibt viel Deutungsmöglichkeit, denn Garcia gibt uns keine Rezepte mit für die dringend anstehende Weltverbesserung.

 

Gólgota Picnic
von Rodrigo Garcia
Konzept und Regie: Rodrigo García, Kostüme: Belen Montoliú, Video: Ramon Diago, Akustischer Raum: Marc Romagosa.
Mit: Gonzalo Cunill, Nuria Lloansi, Juan Loriente, Juan Navarro, Jean-Benoît Ugeux, Marino Formenti (Klavier).

www.steirischerherbst.at

 

Mehr lesen? Rodrigo Garcias Monolog "Soll mir lieber Goya den Schlaf rauben, als irgendein Arschloch" war (performt von Lars Eidinger) im März 2011 beim F.I.N.D.-Festival in der Berliner Schaubühne zu sehen.


Kritikenrundschau

Einer "chaotischen, aber auch packenden und nachdenklich stimmenden Aufführung" hat Barbara Petsch für Die Presse (1.10.2011) beigewohnt. In seiner Ausdrucksform erscheint ihr der Abend epigonal: "Wer Bernhards Schimpftiraden, Müllers düstere Geschichtsbetrachtung kennt, 'Complex Shit' von McCarthy oder Jenny Holzers appellative Schriften, den wird hier nichts überraschen." Auch Hermann Nitschs Orgien-Mysterien-Theater funktioniere "erdiger und auratischer" als "dieser junge, freche Aktionismus." Gleichwohl zeigt sich die Kritikerin von der Kraft der Inszenierung fasziniert: "Garcías Kunst ist nicht originell, aber sie hat ihre Eigenart: Das Faust-Schütteln gegen die mächtige Kirche seiner Hemisphäre. Die Performance ist reich, bilderreich, drastisch, grauslich, aber auch humorvoll."

Ein "enigmatischer Aktionismus, der wie eine verzweifelte, bilderpralle und textlastige Abrechnung mit der modernen, auch christlich geprägten Welt daherkommt" sei dieser Abend, schreibt Ljubiša Tošić im Standard (2.10.2011). "Hier ist das Christentum mit seiner Symbolgeschichte und seiner Zentralfigur einer wütende Anklage ausgesetzt." Das "Körpertheater" steuere in seinen Bildern immer wieder auf eine "alles Individuelle auflösende Orgie" zu. Die "bisweilen rätselhafte Theaterüberdosis zeugt in jedem Fall von markanter Fantasiekraft", wobei das leise Konzertfinale auch seinen religiösen Kritikern den Eindruck vermitteln könnte, "hier suche ein Wutregisseur gar Versöhnung".

"Garcías bildersattes Furioso erschöpft sich keineswegs in dumpfem Blasphemiegeknatter, eher versucht es sich als Kommentar auf den Zustand einer Welt, die der Autor als wesentlich von der christlichen Heilslehre geprägt begreift", schreibt Ute Baumhackl in der Kleinen Zeitung (1.10.2011). Angereichert sei die "im Kern recht konventionelle Übung" in der Befragung der Heilsbotschaft "durch eine dick aufgetragene, barocke Bilderflut". Nach eineinhalb Stunden habe man "allmählich genug von Grenzüberschreitung und Überwältigungsästhetik", aber dann folge das Pianokonzert mit Joseph Haydns "Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze" und es "entfaltet sich in seinem Spiel atemberaubende Schönheit, Kraft und Konzentration: Erlösung bar allen Ballasts."

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (25.1.2012) macht sich Volker Corsten lustig: Die "exakt 27 Menschen draußen vor der Tür", die gegen "Gólgota Picnic" im Hamburger Nieselregen protestierten, hätten sich "wenigstens in Würde" lächerlich gemacht, immerhin stünden sie für etwas. Aber dieses Theaterstück verdiene die Erregung, die es überall verursache, nicht. "Gólgota Picnic" sei eine "große multimediale Bilderhalde". Auf einem "rechteckigen Teppich aus 25 000 anfänglich sauber angeordneten, im Laufe des Abends konsequent zermatschten Burger-Brötchen" werde "eine Art Körpersafttheaterhappening veranstaltet, mit Am-Boden-Festnageln, Schlammcatchen, Burger-Stopfen-Spucken-Würgen inklusive Zahnstocherreinigung". Lauter Dinge, die man sich "als 'bildmächtige Irritation' schönreden könnte", die aber "ästhetisch betrachtet uralt und wahnsinnig plump sind". Drei Herren und eine Frau säßen auf Campingsesseln, filmten sich gegenseitig und schwafelten "assoziativ" über "die Einsamkeit des Konsummenschen, Sündenfälle im Allgemeinen und Jesus, den Verrückten, im Besonderen". "Blasphemisch, pornographisch oder gar der Aufregung wert war es nicht. Es war schlimmer. Es war die größte Theatersünde überhaupt: Langeweile."

"In Hamburg jedenfalls wirkte diese Gotteslästerung genauso rührend wie die im Regen singenden Christen vor der Tür", berichtet auch Till Briegleb für die Süddeutsche Zeitung (25.1.2012). So wie katholische Provokateure von Castelluccci bis Schlingensief "im Kern oft extrem katholisch" seien, so "zeugen auch die Texte von Rodrigo Garcia eher von einem schweren Kampf um die Würde von Gottesbildern. Sie mischen die Perspektive von Jesus und Luzifer zu einer Art eigensinniger Theodizee." In der Performance greife "Garcia zu so plakativen Mitteln, die Gegensätzlichkeiten seiner Gedanken zu illustrieren, dass die Aufregung der Konservativen wie einkalkuliert scheint. Ständig wird einer der fünf Schauspieler bei ekeligen Vorrichtungen gefilmt, die an den Wiener Aktionismus erinnern." Das Ganze wirke daher doch "wie die Herabwürdigung eines Bibel-Disputs in die infantile Schmierphase: eine billige Provokation, die ziemlich bemüht wirkt", und so sollte sich "Rodrigo Garcia vielleicht mal fragen, ob Blasphemie noch als Erweckungserlebnis taugt."

"Mit dem Fortschrittsglauben, mit der Sehnsucht nach Erlösung, mit dem Konsum, ob biologisch korrekt oder nicht, und mit der Kunst, ja, vor allem, mit der und ihren Versprechungen hadert García", schreibt Katrin Bettina Müller in der taz (18.10.2012) anlässlich des Gastspiels beim Berliner Festival "Foreign Affairs". "Unaufhörlich gehen Wortkaskaden auf einen nieder." Die Lakonie in der Sprechweise, die Unaufgeregtheit der Bewegungen stehe in heftigem Gegensatz zu den sprachlichen Behauptungen. "Mit diesen Dissonanzen von Sprache und Körper, Text und Bild unterläuft der Regisseur García das Dogmatische seiner eigenen Texte - daran hat der Geist zu kauen."

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