altFatal fehlender Charme

von Michael Stadler

München, 7. Oktober 2011. Vor den Vorhang im Rokoko des Cuvilliéstheaters, ins Scheinwerferhalbrund treten vier Männer in durchsichtigen, blutig rot verschmierten Plastik-Metzgerkitteln. Darunter sind sie nackt. Ihre Köpfe zieren Hirschgeweihe. Im Chor tragen sie vor, wie man einen Hirsch ausweidet. Sie geben sich erschrocken, dann wieder entschlossen, wenn es ans Eingemachte geht. Die vier Männer sind die unheilvoll clownesken Vorboten dieses Abends. Der Vorhang geht auf. Das Schlachtfest kann beginnen.

Strauß-Wucherung

Franz Josef Strauß war ein begeisterter Jäger, er hatte einen Jagdschein. Alles legal bei dem Mann, bei dem gar nicht alles legal war. Um all die Affären, die Fibag-Affäre, die Spiegel-Affäre und wie sie alle heißen, weiß man natürlich und um vieles mehr, was den einstigen Landesvater so geliebt, gehasst und furchtbar mythisch machte. Albert Ostermaier hat sich in diese Materie tief hineinversenkt und seinen Assoziationen freien Lauf gelassen, so weit, dass man das Gefühl hat, er habe sich dem automatic writing hingegeben, um am Ende wirklich jeden gelungenen und jeden noch so banalen Sprachwitz in seiner wuchernden Groteske zu belassen und dieses Monstrum an Stück, das in seinem Wortkörper wohl Straußsche Züge tragen soll, dem Residenztheater zu übergeben.

"Halali" war die zweite Start-Inszenierung des neuen Resi, und man fragte sich zuvor, wie Regisseur Stephan Rottkamp mit diesem Werk bei seiner Uraufführung umgehen würde. Nun, er weidete es aus, kürzte, setzte Textpassagen von hier nach da und legte zuletzt noch einen dicken Scheit drauf für den Scheiterhaufen von einer Klamotte ohne Funken.

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Foto: Pam Schlesinger

Strauß ist ein Gehirngespinst, in einem Hospital hält sich ein Irrer namens Plisch für ihn, und weil das Theater schon immer die irrste aller Anstalten war, hat Bühnenbildner Robert Schweer den Zuschauerraum auf die Bühne gespiegelt. Vor einem Cuvilliéstheater aus Pappe steht Jörg Ratjen als Plisch mit Straußscher Brille, vor ihm und in den Rängen um ihn tauchen seine Ärzte und Mitpatienten wie in einem halluzinierten Kasperltheater auf.

Man trägt Tracht, weiße Kittel oder gar nichts, isst Weisswurst, wirft blauweiße Papierbanden von den Rängen, trinkt Bier, und weil's am Bajuwarischen noch nicht reicht, treten die Insassen auch mal in Hendl-Kostümen auf, während Jörg Ratjen seinen Strauß weiter in die Welt hinauskrakeelt.

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Unter Stephan Rottkamps Bayern.
© Pam Schlesinger

Familienaufstellung bei Richard Strauß III.

Im Chor rufen die Eingesperrten Zitate wie "Das Amt des Bayerischen Ministerpräsidenten ist das schönste Amt der Welt" ins Rund. Schön ist jedoch gar nichts, weil Plisch nicht nur mit dem Strauß-Sohn Max konfrontiert wird, sondern auch noch in einer Therapie voller Familienaufstellungen, Rollenwechseln, Psychodrama-Theorien fest steckt, bei der auch die Klassiker dran glauben müssen: Shakespeares Richard III. deklamiert er im Dialog mit Chefärztin Dr. Elektra, die auch noch seiner nicht vorhandenen Anziehungskraft erliegen muss.

Ein Brünftiger ist dieser Plisch/Strauß, sogar mit einem Wischmopp bandelt er an, und Jörg Ratjen darf sich den fransigen Putzlumpen auf den Kopf setzen. Schon früher macht man sich als Zuschauer ein wenig Sorgen um die Schauspieler, was natürlich unnötig ist, aber dann sieht man rechts Max-Strauß-Darsteller Oliver Nägele versunken sein Bier trinken, links dreht Sibylle Canonica alias Elektra ihren Rücken verhalten dem Publikum zu, und man darf doch die Vermutung wagen, dass die Akteure hier ihre ganz eigene Strauß-Passion erleben. "Sehen Sie, deshalb habe ich hier nichts verloren, weil man hier jeden vernünftigen Gedanken verliert", ruft Wolfram Rupperti als Patient Stiller.

Geistfreie Zone

"Wir brechen hier ab", meint Canonica als Ärztin Elektra, und man meint eine verborgene Sehnsucht herauszuhören. Doch die Show muss weiter gehen. Der Vorhang im Hintergrund fällt zuletzt, ein gemaltes Panorama zeigt die Frauenkirche, dahinter weiß die Alpen und im Himmel strahlt der Strauß. Wenn der wüsste. Mindestens eines hat er doch an sich gehabt, selbst seine ärgsten Feinde haben es ihm zugesprochen, und das fehlt in diesem Psychokönigsdrama knallerter Strauß-Projektionen neben Witz und Geist besonders schmerzhaft: Charme.

Immerhin spielt eine Blaskappelle auf. Und wenn man will, war diese Sinnschlachtung wohlmöglich der entschlossen brachiale Gegenentwurf zur zurückhaltenden Schnitzler-Inszenierung des Intendanten am Vortag. Das Resi probiert verschiedene Farben aus. Und hat scheinbar viel Narrenfreiheit. Dass am Ende dieser miserablen Inszenierung höflich applaudiert wurde, während selbst in den Gesichtern mancher Schauspieler deutlich ein anderes Urteil geschrieben stand, und kein einziges, aber wirklich kein einziges Buh zu hören war, ist der eigentliche Irrsinn dieses Abends. Aber vielleicht hat ja auch der Rezensent nicht alle Tassen im Schrank.

 

Halali (UA)
von Albert Ostermaier
Regie: Stephan Rottkamp, Bühne: Robert Schweer, Musik Cornelius Borgolte, Licht: Markus Schadel, Dramaturgie: Laura Olivi.
Mit: Sibylle Canonica, Michele Cucioffo, René Dumont, Alfred Kleinheinz, Oliver Nägele, Franz Pätzold, Jörg Ratjen, Wolfram Rupperti.

www.residenztheater.de

 

Mehr zum Neuanfang im Münchner Residenztheater: Arthur Schnitzlers Das weite Land, inszeniert von Martin Kušej.

Kritikenrundschau

Ein so unlustiges Kasperletheater, eine solch atemberaubende Nichtigkeit gab es selten zu bestaunen, schreibt Petra Hallmayer in der taz (14.10.2011). Zu Beginn, wenn nackte Jägersmänner mit blutverschmierten Plastikschürzen im Cuvilliés-Theater das Zerlegen von Wild erklären, schaue man noch frohgemut der Wiederauferweckung des Franz Josef Strauß entgegen. "Doch das dürre, morsche Zitatengestrüpp mit Jelinek-Kalauer-Imitaten rund um einen Irrenhausinsassen, der sich für 'Bayerns Sonnenkönig' hält, verglimmt ohne Funken zu schlagen." Vereinzelt leuchtende Momente verlöschen spurlos in Stephan Rottkamps hohllärmendem Spektakel, in dem die armen Schauspieler als Birne mit dem Stil wackeln oder in gerupfte Hendl-Kostüme schlüpfen müssen.

Das Stück erschöpfe sich in Shakespeare-Anspielungen und Exkursen zum Jagdtrieb investigativer Journalisten und hangele sich von Wortspiel zu Wortspiel, findet Sven Siedenberg in der Neuen Zürcher Zeitung (13.10.2011). "Weder entwickelt es politische Brisanz, noch erhellt es das Innenleben dieses bayrischen Sonnenkönigs." Rottkamp verulke die Vorlage zur grellen Farce.

Ostermaiers "Halali" sei so trostlos pointenfrei und ozeanisch verschwafelt, dass schon früh im Zuschauer ein furchtbarer Hunger nach Witz, Sinn, Zirkus oder wenigstens nach vernünftigem Timing entstehe, meint Peter Kümmel in der Zeit (13.10.2011). Stefan Rottkamp habe es "kongenial verpuffend" inszeniert.

In der Süddeutschen Zeitung (10.10.2011) schreibt Christine Dössel: Alles sei an diesem Abend ohne jegliche Aufregung abgegangen. "Und das bei einer Farce über Franz Josef Strauß!" Vieles sei "peinsam", dass die Inszenierung in "Rottkamps oft hemmungslos überzogener Tiffeltoffel-Regie" dennoch nicht als "kompletter Schmarrn" oder "ein Scheißdreck" abgetan werden könne, läge an kleinen, "rührenden" Szenen, wie der Begegnung des Journalisten Stiller mit dem Strauß-Sohn Max in der Psychiatrie, in denen die Inszenierung zu sich selbst und "zum Kern des Stückes" komme; läge an der "sympathischen Unbeirrbarkeit" der Schauspieler und an der "grandiosen" Blaskapelle.

In der Tageszeitung Die Welt (10.10.2011) fragt sich Ulrich Weinzierl: was denn wohl ein "Panfen" sei, von dem auf der Cuvilliésbühne die Rede gewesen sei? "Naturgemäß ein übersehener und brav auf der Bühne nachgebeteter Tippfehler": ein Pansen. Das hätte mal der Altphilologe Strauß erleben sollen. Ohne Zweifel sei der Text im "Oeuvre" Ostermaiers der "klassische Fall einer Gelegenheitsarbeit von eher lokaler Bedeutung". Aber in "Bayerns Rokokotheater-Schmuckdose" passe er gar nicht schlecht. Es dauere eine Weile, bis "die Karikatur in humanere Literatur kippt". Das scheine "nicht zuletzt das Verdienst der handwerklich sauberen Inszenierung von Stephan Rottkamp" zu sein. Bis dahin herrschte der Eindruck vor: "Man pinkelt den Sockel an und geniert sich zugleich ein bisschen dafür." Dann jedoch zeige Ostermaier plötzlich "Empathie für die Geschöpfe seiner Fantasie". Und das sei gut so, denn anders als Pappkameraden ließen sich Menschen nicht leichten Herzens abknallen.

Gerhard Stadelmaier schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (10.10.2011): "Halali" sei "sozusagen" die "Schmarrenpotenz des Schmocks", das "Munzinger-Archiv-Blatt (Leben und Werk des Franz Josef Strauß) in Psychiatriekabarettform". Der "schon etwas angejahrte Jungregiehallodri Stephab Rottkamp" bretzele den Ostermaier "schrill" auf. Jörg Ratjen treibe den Wahnsinn des Möchtegern-Strauß ins "Aberwitzgaumige", Oliver Nägele verstecke die Leiden des Strauß-Sohnes unterm "Narrentrachtenanzug" und Sibylle Canonica sei "weniger fehl-, als grausam unterbesetzt". Der Rest sei Krach und "wirres lange weilendes Tobsuchtsgejuchze".

Ronald Pohl schreibt in der Wiener Tageszeitung Der Standard (10.10.2011): Zugute halten müsse man Martin Kusejs Ensemble eine "schier unglaubliche Spannweite an schauspielerischen Möglichkeiten": Jede einzelne "Charge" tänzele auf dem "artistischen Hochseil". Nur leider werde einem Ostermaiers Text nach etwa einer halben Stunde herzlich egal, auch wenn er sich gebärde wie ein "nassforsches Produkt aus dem Elfriede-Jelinek-Leistungskurs."

Norbert Mayer schreibt in der Wiener Tageszeitung Die Presse (10.10.2011): Das Stück, das Albert Ostermaier geschrieben und Stephan Rottkamp inszeniert habe, wolle "einfach nicht aufgehen. Einfach verbockt". Das Gebotene sei weder "besonders bissig" noch "lustig" gewesen, sondern "bei aller Masse der Vorwürfe brav".

Auf Merkur Online (9.10.2011), der Webseite des Münchner Merkurs, schreibt Simone Dattenberger: Ostermaiers Drama um Franz Josef Strauß sei ein "assoziatives Bruchsteinmauerwerk aus Lebensdaten von Wirtschaftskompetenz bis Kohl-Hass, von Pinochet-Besuch bis zum Flug nach Moskau, von Liebesaffäre bis zum Herzinfarkt auf der Jagd". Dazu "satirische Sottisen" und "Kalauer à la Jelinek". Um so "beeindruckender" sei es, wie Regisseur, Schauspieler, die Ausstatter sowie die Blaskapelle dieses Mauerwerk in ein "quicklebendiges, schräg-bayerisches Bühnen-Biotop" verwandelten, obwohl selbst das gekürzte Stück sehr zum "Durchhängen" neige. Denn so "schillernd die Figur Strauß sein mag, so wenig interessiert sie heute" – und Ostermaier könne daran nichts ändern. Ebenso wenig wie Regisseur und Hauptdarsteller. Dafür seien die Nebendarsteller, allen voran Sibylle Canonica toll. Was Ostermaier könne, beweise er in dem "zarten, bewegenden Opfermonolog eines Buben, der in der chilenischen Colonia Dignidad [deutsche Kolonieansiedlung, die Strauß unterstützte] unter religiösem Geschwafel vergewaltigt wurde". Da habe einen "endlich" der "Eishauch der Brisanz" gestreift.

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