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Bundesrepublikanisches Pandämonium

von Petra Hallmayer

München, den 9. Oktober 2011. Keiner kommt hier weg. Eigentlich wollten sie nur möglichst schnell in München landen, doch dann hat ein isländischer Vulkan rücksichtslos Lavaasche in die Luft gespuckt. Weil die von Wohlstandsbürgern als große Göttin und gute Mama angebetete Natur sich um den Menschen einfach nicht schert, sitzen sie am Flughafen fest: eine Horde verwöhnter erwachsener Kinder, die ihr Recht auf ein bequem planbares schlangenfreies Leben einklagen.

Zum Abschluss der viertägigen Premierenserie hat der neue Residenztheater-Intendant Martin Kušej bei Helmut Krausser eine Theater-Sitcom in Auftrag gegeben. Das gesamte 55-köpfige Ensemble, hieß es, solle darin auftreten. Realiter ist ein Großteil davon nur in Videofilmen präsent, die auch im Internet zu sehen sind. Um sechs feste Schauspieler wird sich künftig ein allabendlich wechselndes Ensemble scharen.

Drohung von Tod und Vergänglichkeit

Krauser fächert einen gesellschaftlichen Typenreigen auf, der jedem seine Rolle zuweist, dem Verschwörungstheoretiker, dem Ökospießer, der Business-Frau mit Chic, dem Autor, dem Zweifler mit der kalten Pfeife und all den anderen. Sie maulen und quengeln, quasseln und philosophieren. Sie richten einen kollektiven Floskelsalat an, nerven einander, klammern sich an ihre Denkschablonen und Feindbilder und rotten sich zu einem enthemmten Wutbürger-Rudel zusammen. "Eyjafjallajökull-Tam-Tam" schwingt sich nicht zur literarisch gewichtigen Tragikomödie auf, aber ist ein leichthändig boulevardesker und lustvoll gallenbitterböser Spaß, durch den die Drohung von Tod und Vergänglichkeit geistert, ein pointenreich skizziertes bundesrepublikanisches Pandämonium.

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Thomas Dashuber

Das hat Robert Lehniger nun im Marstall restlos zerschreddert. Am Eingang wünschen einem freundliche Damen in Uniform eine gute Reise, ehe man das zum Abflughallenareal umgestaltete Theater betritt, in dem aufgebrachte Männer, Frauen mit Rollkoffern und eine Mutti mit wimmernder Babypuppe vorbeihasten. Wir sind hautnah und live mitten drin im anwachsenden Chaos. Das klingt spannend, ist es aber sehr bald schon überhaupt nicht mehr. Ein Steward preist seine Erfrischungen an, während hie und da einer der Akteure in der Menge zu einem Monolog anhebt, den die Lautsprecheransagen, die das Andauern des Flugverbots verkünden, sogleich wieder verschlucken.

 

Plaudereien der Zeitgeistclowns und Gegenwartsnarren

Umherwandernd erhascht man Dialogfetzen auf Bildschirmen und Videowänden, derweil auf einer Bühne die Band Hairy Hands düster krachend aufspielt. Hinter offenen Türen führen Schauspieler Spielszenen auf, an denen man vorbeigeschoben wird, weil es unweit entfernt knallt und scheppert und der Besucherstrom weiterdrängt in der Erwartung anderswo mehr zu erleben.

Helmut Kraussers dramatischen Bogen, bei dem die Plaudereien der Zeitgeistclowns und Gegenwartsnarren in eine Groteske münden, sich die Aggressionen sukzessive steigern, bis schließlich der Ex-Prenzlberger und Gutmenschen-Hasser der schwangeren Frau des Ökospießers einen Korkenzieher in den Bauch rammt, vollzieht Lehniger nicht nach. Die dünnen Masken zivilisatorischer Disziplinierung fallen im Marstall rasch. Nach wilden Schlägereien kuscheln sich die verhinderten Flugpassagiere plötzlich friedlich zum Gitarreklampfen um ein Lagerfeuer, wo man einigen längeren zusammenhängenden Satzreihen zuhören kann.

Konzept der unmittelbaren Zuschauereinbindung

Allein der garstige Witz der Gesellschaftskomödie hat in der Zerstückelungsorgie keine Chance. Ohnehin scheint dieser Lehniger kaum zu interessieren, der lieber aus dem Kontext herausgelöste Textpassagen zu vorüberwabernden Bedeutungsblasen aufpumpt. Statt verbaler Pingpongspiele inszeniert er überfrachtete Einzelauftritte, lässt den Bildungsbürger seine Tiraden wider die nichtsnutzige Jugend mit Hitler'schem Schnarren ins Mikro brüllen und den Autor im Feuerschein mit glühendem Ernst über das Nichts, das vor und hinter uns liegt, und die Schönheiten des künstlerischen Schöpfungsaktes predigen.

Der mörderische Anschlag auf das ungeborene Leben findet am Ende auf Video in einem Wald statt, in dem eine Mutter ihr Kind säugt und hoch lodernde Flammen ein Aufnahmegerät vernichten. Wahrscheinlich ist das alles tiefsinnig symbolisch, doch um darüber nachzudenken, ist man längst viel zu müde. In einem funktioniert das Konzept der unmittelbaren Zuschauereinbindung, der Live-Erfahrungs-Fake tatsächlich. Die 105 Minuten dehnen sich erstaunlich, die kurze Zeit in dieser Wartehalle erscheint einem ermattend lang.

 

Eyjafjallajökull-Tam-Tam (UA)
von Helmut Krausser
Regie: Robert Lehniger, Bühne: Alain Rappaport, Kostüme: Irene Ip und Eva Martin, Musik: Daniel Murena und Joe Masi, Video: Michael Venus, Dramaturgie: Angela Obst.
Mit: Hanna Scheibe, Arthur Klemt, Marie Seiser, Lukas Turtur, Tom Radisch, Jörg Lichtenstein, Stefan Konarske, Ulrike Willenbacher, Manfred Zapatka u.v.a.

www.residenztheater.de/tamtam/

 

Der Regisseur Robert Lehniger wurde 1974 in Weimar geboren. An der Weimarer Bauhaus-Universität studierte er Mediengestaltung und und begann 2003 am Theater Basel zu inszenieren. Oft loten Lehnigers Regiearbeiten Grenzbereiche zwischen Film und Theater aus. Am Zürcher Neumarkttheater entstand u.a. 2010 seine Inszenierung Week_End nach einem legendären Film von Jean Luc Godard.

 

Kritikenrundschau

Die dispositionellen Probleme dieses Abends, der als "rasendes Standbild der Gegenwart" angelegt sei, beschreibt Christopher Schmidt in der Süddeutschen Zeitung (11.10.2011) und zeigt sich konzeptionell wenig überzeugt: "Mal davon abgesehen, dass auch während der Vorstellung fleißig getwittert wird, fragt man sich, ob bei dieser szenischen Installation das authentische Gefühl des Wartens Teil der Interaktivität sein soll. Die Zuschauer laufen ständig hin und her in den simultan bespielten Räumen, aus Angst, etwas zu verpassen - und verpassen gerade dadurch etwas. Furchtbar viel ist das allerdings nicht." Im Ganzen sei "Helmut Kraussers Text nicht mehr als ein Passepartout" für die "Disparatheit" dieser Inszenierung.

Knallhart geht Michael Schleicher im Münchner Merkur (11.10.2011) mit dieser Inszenierung ins Gericht: "Im harmlosen Fall ist Robert Lehnigers Inszenierung Quatsch. Strenggenommen ist sie ein Ärgernis. In jedem Fall sind diese gut 90 Minuten Ressourcen-Verschwendung: Verschwendung der Schauspielerleistungen, die oft unbemerkt verpuffen; Verschwendung von Kraussers Text-Collage, die weitgehend ungehört untergeht; Verschwendung des Arbeitseinsatzes der Techniker, die alles tun, um dieses aufgeblasene Nichts am Laufen zu halten." Schleichers Kollege Zoran Gojic hat sich den Film zur Inszenierung auf der Homepage des Theaters angeschaut und findet ihn: "Auf den Punkt, ohne Schnörkel, mit Verve und sehr ernsthaft." Das heißt: "Geradeheraus, voll auf Text und Schauspiel setzend, wird dem Zuschauer die Apokalypse hingeknallt." Fazit: "Trotz (oder wegen) konservativer Umsetzung birgt dieser Film einen innovativen Ansatz, um die Menschen über den Umweg Internet für das Theater zu interessieren."

Etwas milder gestimmt zeigt sich ein Anonymus auf den Onlineportal der Welt (11.10.2011): Es gehe "–passend zum Thema – ziemlich chaotisch zu" in diesem Stück nach Art des "Improvisationstheaters". "Stehen anfangs alle – Zuschauer und Schauspieler Seit an Seit – noch brav an zur Ticketkontrolle, geht schließlich die Anarchie um." Allerdings mache sich später, wenn Szenen im Stile des Horrorfilms "Blair Witch Project" das Flughafen-Szenario ablösten, bei den Zuschauern "Ratlosigkeit breit".

Von einer "(Nicht-)Regie von Robert Lehniger" berichtet Uschi Loigge für die österreichische Kleine Zeitung (11.10.2011): "Schauspieler spielen ohne Rampe Rampentheater, allerdings mit akustischen Problemen. Klaustrophobisch oder anders bedrohlich wird das nie." Man schlendere ziel- und ertraglos herum. "Der Abend fällt auseinander, noch ehe er gescheit begonnen hat, Tohuwabohu statt Tam-Tam. Nach eineinhalb Stunden ist der Luftraum wieder geöffnet und es war nichts."

Von der humorigen Seite nimmt Norbert Mayer in der österreichischen Zeitung Die Presse (11.10.2011) dieses Event: "Das Gebotene hat die Intimität einer seltsamen Premierenfeier. Andrea Wenzel, die am Vorabend im Residenztheater bei LaBute zu sehen war, eilt vorbei, Thomas Grässle, vielleicht sogar Sophie von Kessel. Auf der Leinwand? Auf kleinen Monitoren? Real? Die Grenzen verschwimmen." Wer aus dem ganzen Sinn machen wolle, erforsche es nach Art der Psychoanalyse: "Pferdeschwänze, Vulkanausbrüche, Mobiltelefone – lauter Zipfel. Oder auch nicht. Freud würde hier wohl raten: Assoziieren, Buberl. Dann geht es Ihnen bald besser."

Karin Fischer stellt im Deutschlandfunk (10.10.2011) diesen Abend in den Kontext neuerer Interaktionstheaterstücke: "Im Gegensatz zu den Installationen der dänischen Performance-Truppe SIGNA steht in München der technische Aufwand allerdings in keinem Verhältnis zum ästhetischen Ertrag, der sich tatsächlich intensiver beim Nach-Sehen im Internet einstellt."

Eine "schöne Idee" findet Sven Siedenberg in der Neuen Zürcher Zeitung (13.10.2011) diesen Abend: Der Mix aus Performance, Videoinstallation und Konzert fange viel Lebenswirklichkeit ein, "die immer wieder auch gebrochen und reflektiert wird. Man darf selber aktiv werden: Videos mit den Live-Szenen werden gezeigt; wer will, kann per Klick zu einer anderen Szene spulen. So wird der Zuschauer sein eigener Regisseur." Das mache neugierig auf die nächsten Projekte.

Wenn dieses Stück gedacht war als Versuch, die Stadt zu erobern und sich unter deren Einwohner zu mischen, dann sei die Sache sehr danebengegangen, meint Peter Kümmel in der Zeit (13.10.2011). "Die Schauspieler gehen im Zuschauervolk nicht auf, sie gehen in ihm ratlos und rückstandslos unter. Man könnte fast sagen: Das neue Ensemble ist an diesem Abend in München erst mal verschollen. Es ist verpufft in einem kraftmeierischen, leeren Anfangs-Tamtam."

Eine Theater-Sitcom, in der sich das Star-Ensemble von Birgit Minichmayr bis zu August Zirner vorstellen sollte, wurde bei Helmut Krausser bestellt, so Petra Hallmayer in der taz (14.10.2011). "Tatsächlich traten die meisten in dem Szenenreigen über 55 am Flughafen festsitzende Passagiere bloß per Video auf." In Anlehnung an die Wander-Projekte der freien Szene verwandelte Robert Lehniger den Marstall in eine Abflughalle, durch die die Besucher von Lautsprechern beschallt zwischen Videowänden und Spielszenen umherirrten. "Zwar war diese die mutigste Produktion des Eröffnungsquartetts, doch sie stolperte über das Wirklichkeitsnähe vorgaukelnde Simultanitäts-Prinzip." Statt eines mitreißenden Happenings entstand ein dröge werdendes kuddelmuddliges Allerlei, in dem man von der eventhungrigen Menge vorangeschoben hie und da Textbruchstücke aufschnappte. "Lehniger verfremdete und zersplitterte Krausser giftig böse Zeitgeistkomödie so gründlich, dass sich ihre Pointen verflüchtigten."

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