Das Bastardbuch - In seinen Lebenserinnerungen beschwört und bekämpft Hans Neuenfels die Angst
Lob der Verwegenheit
von Wolfgang Behrens
Berlin, 11. Oktober 2011. Der Name Heidegger fällt in dem Buch nur ein einziges Mal, und, offen gestanden, habe ich die Stelle nicht einmal verstanden (es geht da um die Haltung des 68ers Fritz Teufel, die etwas mit Novalis zu tun habe "oder mit Martin Heidegger, wenn man ihn heimlich liest" … was ist mit diesem Rätselwort gemeint?). Trotzdem: Als ich "Das Bastardbuch" las, in dem der mittlerweile 70 Jahre junge Regisseur Hans Neuenfels seine "Autobiografischen Stationen" beschreibt, ist mir immer wieder ein Abschnitt aus Heideggers Freiburger Antrittsvorlesung von 1929 in den Sinn gekommen:
"Die Angst ist da. (…) Ihr Atem zittert ständig durch das Dasein: am wenigsten durch das 'ängstliche' und unvernehmlich für das 'Ja Ja' und 'Nein Nein' des betriebsamen; am ehesten durch das verhaltene; am sichersten durch das im Grunde verwegene Dasein."
Ein verwegenes Dasein: das ist es wohl, was uns Neuenfels in seinem Buch vor Augen führt. Ein Dasein, das die Angst kennt und ihr trotzig mittels einer Art acte gratuit die Kunst entgegenhält, nicht um die Angst zu bannen, sondern um sich ihr auszusetzen. Daher ist "Das Bastardbuch" auch mehr als nur eine Plauderstunde mit mehr oder minder spannenden Theateranekdoten (die es natürlich auch gibt, und es sind nicht die schlechtesten darunter). Es ist auch ein deutlich existentialistisch angehauchter Bildungsroman.
Ein Leben auf dem existentialistischen Prüfstand
Und weil Neuenfels es sich in der Sprache nicht bequem macht, sondern dieselbe die tollsten und sonderbarsten Blüten treiben lässt; weil er noch im Großsprecherischen und Anmaßenden immer auch großzügig und anrührend ist; und weil es ihm noch bei seinen faustdicken Lügen – viele der wiedergegebenen Dialoge wirken weniger erinnert als erinnerungsdienlich erfunden – stets um so etwas Flüchtiges und Großes wie die Wahrheit geht, bietet das Buch eine streckenweise ziemlich heftige, eine erregende Ansprache, bei der der Leser nicht umhin können wird, mitunter auch sein eigenes Leben auf den Prüfstand zu stellen. Wie viel Bastard steckt in mir?
"Bastard" ist ein Leitbegriff des Buches, und natürlich ist Neuenfels unbescheiden genug, um ihn für sich selbst in Anspruch zu nehmen: Bastarde sind die Ausgesetzten und die Verwegenen, Bastarde sind frei, aber einsam, Bastarde suchen die Unbedingtheit, das Verbotene, "das Spontan-Einmalige, das auch das Gesellschaftlich-Räudige ausmacht, das Strittige, das nach Auflösung fiebert."
Es gibt ein paar Schlüsselszenen in dem Buch: Eine davon ist Neuenfels' Schilderung seiner ersten Begegnung mit einem Bild von Max Ernst (dessen Assistent er als noch ganz junger Mann wurde). Atemlos wie einem Krimi folgt man der Interpretation, die Neuenfels dem Gemälde "Zwei Kinder, von einer Nachtigall bedroht" angedeihen lässt: Er findet darin eine horizontlose Welt, in der einen der Schrecken des Schönen aus jeder Geborgenheit treibt. Das Bild erscheint so wie der Ur-Keim der Neuenfels'schen Theaterkunst, die so oft den Schrecken – und nicht zuletzt auch das Erschrecken der Zuschauer – aufsuchte, um sich dem Schönen zu nähern. Die Schockeinschläge, die seine Schauspiel- und Operninszenierungen hinterließen (etwa "Nora" in Stuttgart 1972, "Der Troubadour" in Nürnberg 1974 oder "Aida" in Frankfurt 1981, um nur wenige zu nennen), lässt Neuenfels in der Folge denn auch sehr plastisch lebendig werden.
Der gefesselte Odysseus
Eine andere zentrale Episode könnte man fast als einen Mythos der Selbstsetzung lesen, als gelte es, dem Camus'schen Sisyphos-Mythos einen eigenen Entwurf entgegenzustellen (ich will aber gerne glauben, dass Neuenfels hier tatsächlich Erlebtes erzählt). Neuenfels berichtet in dieser Passage von der Todesangst, die er, seine Frau – die Schauspielerin Elisabeth Trissenaar – und sein Sohn bei einer Bootsfahrt zwischen zwei griechischen Inseln ausstanden, als sie auf einem unzureichend ausgestatten Schiff in heftigstes Unwetter gerieten. Neuenfels verfällt in diesem Moment auf die Idee, sich als einen den Sirenen lauschenden Odysseus zu inszenieren, und bindet sich selbst an einem Mast fest. Und brüllt und singt die Wogen an, um "meine Ohnmacht, meine Hilflosigkeit in eine anteilnehmende Aktivität zu verwandeln." Auch diese (im Grunde zutiefst absurde) anteilnehmende Aktivität der puren Existenzangst gegenüber ist ein Motiv, das viele von Neuenfels' Regiearbeiten aufzuschließen hilft.
Wie bereits angedeutet, erschöpft sich das Buch nicht im Furor der existentialistischen Selbstfindung: Wer Gesprächsstoff für den Theaterstammtisch braucht, wird im "Bastardbuch" vollauf auf seine Kosten kommen – zumal Neuenfels einige Male (aber wirklich nur einige Male) kräftig, und meines Erachtens völlig zu Recht, nachtritt, siehe etwa im Register unter "Martiny, Anke" oder "Harms, Kirsten". Natürlich denkt Neuenfels oft auch ganz grundsätzlich übers Theater nach, und wenn man dann auf S. 213 von der Gefahr eines Theaters liest, das in seinen Mitteln zu perfekt wird, von der "gelenken Normalisierung eines unerhörten Vorganges" und von dem "Lieblingstheater also, das dem Kritiker reichen Raum für seine Assoziationen gibt und dem Zuschauer die Ruhe, wenigstens auf der Bühne sei alles in Ordnung und luftig zu übersehen", dann erschrickt man förmlich und fragt sich: Wann eigentlich hat mich das Theater das letzte Mal so etwas wie Angst spüren lassen? Und wann Verwegenheit?
Hans Neuenfels
Das Bastardbuch
Edition Elke Heidenreich bei C. Bertelsmann, München 2011, 512 S, 24,99 Euro.
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