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Mehr Roman bitte!

von Kai Bremer

Osnabrück, 15. Oktober 2011. Als 2008 der Roman "Fegefeuer" erschien, war die Resonanz groß. Dass er auf einem zuvor in Helsinki uraufgeführten Stück basiert, wurde in den Rezensionen jedoch nur selten beachtet. Dabei hat Sofi Oksanens "Fegefeuer" im Vergleich zu ihrem konventionell gebauten Drama entschieden weiterentwickelt. Zwar haben beide zwei Handlungsebenen - zum einen die Geschichte der jungen Aliide, die Opfer des Terrors nach dem Einmarsch der Russen in Estland ist und aus Selbstschutz den strammen Stalin-Verehrer Martin heiratet; zum anderen die Geschichte der alten Aliide, die plötzlich vor der Entscheidung steht, ob sie die Prostituierte Zara schützt, die unvermittelt vor der Tür liegt oder sich wieder der männlichen Gewalt ergibt.

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Christel Leuner                 © Uwe Lewandowski

Während der Roman das aus verschiedenen Perspektiven erzählt, gibt das Stück die beiden Handlungen brav alternierend mit einem hübschen Wendepunkt wieder. Am Ende des ersten von zwei Akten erfährt die alte Aliide, dass sie mit Zara verwandt ist.

Schicksalshafte Geschichtsverläufe

Der Roman und das Stück enden unterschiedlich, doch so hoffnungslos wie die deutsche Erstaufführung am Theater Osnabrück sind beide nicht. In Marie Bues' Inszenierung legt erst der Zuhälter und Zara-Verfolger Lawrenti (Thomas Kienast) seinen Kumpel Pascha (Alexander Jaschik) um, dann erschießt ihn die alte Aliide (Christel Leuner). Dadurch wird es mächtig voll auf der kleinen Bühne. Denn da liegen schon Aliides Mann Martin (Martin Schwartengräber) und Hans (Tilman Meyn), der Gatte ihrer Schwester, der von den Russen verfolgt wurde und den Aliide - nicht selbstlos, sondern bis über beide Ohren in ihn verliebt - über Jahre versteckt hat. Nur Zara (Andrea Casabianchi) ist nicht zu sehen. Ob sie entkommen konnte, bleibt offen. Aliide übergießt die vier toten Männer, die junge Aliide (Magdalena Helmig), die am Rand sitzt, und sich mit Benzin. Zweimal reißt sie ein Streichholz an und bläst es wieder aus. Doch das dritte Streichholz lässt sie fallen. Alles wird in Flammen aufgehen.

Dieses Schlussbild, in dem die Vergangenheit die Gegenwart einholt, ist einfach und gerade deswegen überzeugend. Bues' Inszenierung trennt ansonsten, klarer noch als es Oksanen vorgibt, die beiden Handlungsebenen. Nur einmal berühren sie sich vor der Schlussszene, da die alte der jungen Aliide ins Wort fällt. Ansonsten läuft die Handlung versetzt.

Zwischen Holzverschlag und Einmachgläsern

Dadurch kommt Oksanens Realismus zur Geltung. Die beiden Aliide-Darstellerinnen spielen unprätentiös und doch so, dass immer wieder ihre Verzweiflung angesichts der allgegenwärtigen Gewalt angedeutet wird. Unterstützt wird das von der Bühne (Blanka Rádóczy). Im Hintergrund stehen im Regal Einmachgläser, rechts ist der Holzverschlag, in dem Hans versteckt wird, links ein durch weiße Holzträger angedeutetes weiteres Zimmer. In der Mitte steht ein Tisch auf Rollen, auf dem Aliide einkocht und der von Zeit zu Zeit verschoben wird.

Es ist also alles gut arrangiert und dem ersten Eindruck nach angemessen besetzt. Trotzdem hakt es. Das liegt zunächst an Zara. Casabianchi spielt sie starr, mit abrupten Posenwechseln und nach hinten gezogenen Oberarmen, so dass sie oft leicht gebeugt steht. Die von den Zuhältern misshandelte Hure nimmt man ihr für einen Moment ab, aber auf die Dauer steht sie in eigentümlichem Kontrast zur ruhigen Ausdrucksvielfalt Leuners. Ähnlich ist es, wenn sich die junge Aliide und Hans gegenüber stehen, dem das Nichtstun in seiner Kammer offenbar völlig in Fleisch und Blut übergegangen ist. Einmal immerhin versucht er die Wände raufzulaufen, doch ist diese kleine Einlage nicht mehr als ein Ausrufezeichen, dass es in ihm brodelt. Als wenn wir das nicht ahnen würden, schließlich sind seine Frau und seine Tochter nach Sibirien deportiert worden!

Sehr dicht an der Erzählung

Auf andere Weise irritiert das Spiel von Alexander Jaschik. Bues lässt ihn immer wieder cholerisch herumtoben, was er hervorragend beherrscht und womit er das Publikum wiederholt begeistert. Doch der brutale wie zynische Zuhälter wird dadurch zur Witzfigur, vor der man vielleicht Angst ob ihrer Unkontrolliertheit haben mag, die aber nicht die Autorität darstellt, die er für Zara ist. Dass es auch anders gegangen wäre, deuten die Video-Einspielungen (Florian Rzepkowski) an, in denen Jaschik mal den Zuhälter Pascha, mal einen sowjetischen Soldaten mimt und dabei den Schrecken verbreitet, der ihm auf der Bühne abgeht.

All das könnte das eindringliche Spiel der beiden Aliide-Darstellerinnen sowie das ideenreiche Arrangement des Stücks mit seinem hervorragenden Schluss überzeugend ergänzen, wenn das holzschnittartige Spiel genutzt worden wäre, um Oksanens ganz auf Mimesis setzende Dramatik zu unterlaufen. Stattdessen ist Bues weitgehend dem Dramas gefolgt und hat viel zu selten auf ästhetische Brechungen gesetzt, die der Roman "Fegefeuer" kennt, das Stück aber nicht.

Fegefeuer (DEA)
von Sofi Oksanen
Regie: Marie Bues, Bühne: Blanka Rádóczy, Kostüme: Floor Savelkoul, Musik: Anton Berman, Video: Florian Rzepkowski, Dramaturgie: Anja Sackarendt.
Mit: Andrea Casabianchi, Magdalena Helmig, Alexander Jaschik, Thomas Kienast, Christel Leuner, Tilman Meyn, Martin Schwartengräber.

www.theater-osnabrueck.de


Mehr zu Sofi Oksanen: Fegefeuer wurde beim Stückemarkt des Theatertreffens 2009 vorgestellt. Mehr zur Regisseurin Marie Bues gibt es im nachtkritik-Lexikon.

 

Kritikenrundschau

Großen Anklang  habe die Inszenierung beim Premierenpublikum gefunden, schreibt Christine Adam in der Neuen Osnabrücker Zeitung (16.10.2011). Bis auf kleine Momente und "Längen, die Unbehagen bereiten" setze Marie Bues den wuchtigen Stoff versiert und zielsicher in Szene. Mit leichter Hand und punktgenau streue sie Krimi-Szenen und kurze Video-Sequenzen ein, die die Geschichte erhellten. Auch die sieben Schauspieler werden von Adam für ihre "prägnanten Charakterstudien" gelobt. Die Rezensentin schließt begeistert: "Ein solches Niveau macht Lust auf mehr."

Das Stück folge "den dramaturgischen Gepflogenheiten moderner Autoren". Die Geschichte werde nicht linear entwickelt, sondern in verschachtelten Rückblenden erzählt, schreibt Karlheinz Arndt in den Westfälischen Nachrichten (18.10.2011). Regisseurin Marie Bues und ihr Team böten es als einen "raffiniert gemixten Cocktail aus szenisch-medialen Elementen". Eindrucksvoll sei "einmal mehr" die schauspielerische Leistung des Osnabrücker Ensembles.

Marie Bues sei eine atmosphärisch dichte, bewegende und stellenweise schockierende Inszenierung gelungen, schwärmt Heiko Ostendorf in der Münsterschen Zeitung (21.10.2011). Das Stück beeindrucke mit kunstvoll verstrickten Handlungssträngen. Zwar wirke die nüchterne Sprache stellenweise etwas träge, doch dem guten Ensemble gelinge eine intensive Darstellung.

"'Fegefeuer' soll wie seine Buch-Vorlage als ein vielschichtiger Angst-Schuld-Sühne-Komplex funktionieren. Doch die atmosphärische Dichte des Romans, seine Sogkraft, erreicht die Inszenierung nicht." So urteilt Stephanie Drees in der Süddeutschen Zeitung (10.11.2011) über diese Osnabrücker Romanadaption. Regisseurin Marie Bues versuche "die psychologische Tiefenspannung, die das Panoptikum aus Sinneseindrücken zusammenhält, in der Interaktion der Schauspieler zu spiegeln." Als darstellerisch herausragend empfindet die Kritikerin dabei Christel Leuner in der Rolle der Aliide, "die mit ihrer verinnerlichten Art dem Abend Aufmerksamkeit erspielt".

Kommentare  
Fegefeuer, Osnabrück: keine Widerstände
Ich war gestern bei der Premiere. Empfand die Regie sehr mutlos, und das bei der großartigen Vorlage(Roman gelesen)! Gute Schauspieler in guten Rollen wurden mit ihrer Kreativität allein gelassen, primär auf Sitzmöbeln geparkt und sagten die Texte(mal besser,mal schlechter) bloß auf, anstatt sie ins Spielen kommen zu lassen. Text und Aktion waren 1:1. Keine Widerstände; wenige Brüche; zweite Ebenen&Kontraste wurde kaum bedient. Eine Haltung der Regisseurin zur politischen Einstellung der Hauptfigur Aliide habe ich nicht gesehen. Man glaubt ihr weder,daß sie Kommunistin ist; oder Mitläuferin; oder Lügnerin. Der Abend ist dennoch spannend, schlägt aber nie aus, überrascht nur selten und wird nicht spannender oder gefährlicher. Ein großer Lichtblick ist die Musik,der die Atmosphäre transportiert, welche die Regie nicht inszenieren konnte. Da scheint Frau Bues überfordert gewesen zu sein und besitzt leider nicht genügend Handwerk, um über dieses Defizit hinwegzuinszenieren.
Dennoch ein sehenswerter Abend und ein empfehlenswertes Buch!
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