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Mehr Sein als Schein

von Kai Krösche

Wien, 15. Oktober 2011. Erfreulicherweise, das wird bald an diesem Abend deutlich, stellt sich einmal nicht die leidige Frage nach der Sinnhaftigkeit theatraler Romanadaptionen: Was Ted Gaier und Samuel Schwarz als "Dramatisierung" von Marlene Streeruwitz' Roman "Entfernung." auf die Bühne bringen, ist nicht das allzuoft gesehene Nachspielen publikumsfreundlich zusammengekürzter Handlungsstränge, sondern vielmehr eine Inspiration, eine Übersetzung der Vorlage in (die Grenzen des eigenen Mediums stets deutlich mitreflektierende) theatrale Ausdrücke und Situationen. Entsprechend agieren die drei Darsteller auf der Bühne des Schauspielhauses Wien auch nicht als Darsteller fester Rollen in einem illusionären Sprechtheater, sondern stellen das Als-ob der Bühnensituation von Beginn an als offensichtliches Theaterspiel aus.

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Barbara Horvath und Vincent Glander in Marlene Streeruwitz' "Entfernung.".
© Alexi Pelekanos

Zu Beginn ist das erst einmal ziemlich öde. Nachdem beim Einlass der Zuschauerraum mit einer vorgelesenen Rezension der Buchvorlage beschallt wurde, sind Vincent Glander, Veronika Glatzner und Barbara Horvath die erste halbe Stunde des Abends damit beschäftigt, ziemlich unspektakulär auf der Bühne rumzubasteln: Da wird mit Farbe geschmiert, irgendwas ausgeschnitten, eine große Papierrolle abgerollt, eine Plastik aus Stoff, Bauschaum und einem Puppenbein fabriziert.

Sarah Kane und die Anschläge von London

Weder scheint das einem Konzept zu folgen noch neue Perspektiven auf den Text Streeruwitz' zu öffnen, der simultan und pro Kapitel rotierend von jeweils einem der Darsteller gesprochen wird. Die unbeteiligt-ironisierende Art und Weise nervt, in welcher der Text runtergerasselt wird. Zugleich wirkt das vermeintlich improvisierte Spiel nicht ach-so-locker, wie es tut. Spätestens, wenn die Schauspieler über fünf Minuten lang in der ersten Reihe sitzen und mit dem Publikum auf das unbewegte "Atelier" der Bühne starren, auf der das Licht in wahllosen Momenten an und wieder aus geht, macht sich beim Betrachter Unruhe breit.

Und mit dieser Unruhe die wundersame und plötzliche Erkenntnis, dass das Vorangegangene geradezu perfekt passt zu Streeruwitz' Roman, der die Geschichte von Selma erzählt: Von ihrem langjährigen Freund für eine jüngere Frau sitzengelassen, verliert sie auch noch ihren Beruf als Chefdramaturgin der Wiener Festwochen. In der letzten Hoffnung, mit einem Sarah-Kane-Projekt am Royal Court Theatre ihre Karriere zu retten, reist sie nach London, um sich dort mit einflussreichen Bekannten zu treffen, wo sie in die U-Bahn-Anschläge vom 7. Juli 2005 gerät.

Einbruch des Spiels

Die Gedanken, die der an diesem Abend bezeichnenderweise gesichtslos bleibenden Selma durch den Kopf rasen, rechnen dabei ab mit einem Kulturbetrieb, der Selbstzweck, Scheinheiligkeit und Ausbeutung zu zentralen Mitteln seines Funktionierens gemacht hat, in dem Ideologie und Provokation nicht einem Fortschritt dienen, sondern im Gegenteil unter dem Deckmantel der Freiheit einer Zementierung des gesellschaftlichen Status quo. In dieser Hinsicht entpuppt sich diese dröge halbe Stunde als bewusste Verweigerung gegenüber den Mechanismen des Kulturbetriebs, als Versuch, eine verlorengegangene Autarkie zurückzugewinnen, die in ihrer nonchalanten Nichtbeachtung theatraler Konventionen viel klüger, viel geschickter verunsichert und provoziert als so mancher oberflächlich schockierende Empörungsreiz.

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So langsam bricht dann aber doch das Spiel ein in dieses stets mit dem Gestus des Zeigens erfolgte Rezitieren; aus Spiel scheint immer wieder Ernst zu werden, wenn die Schauspieler jene seelischen und schließlich sogar körperlichen Verwundungen reproduzieren, die der Romanprotagonistin zugefügt werden, indem sie das Spiel auf die Spitze treiben – etwa wenn Vincent Glander, noch ganz in der Rolle des britischen Partners am Royal Court Theatre, sich in immer aggressiver überzeichnete, verbale Kränkungen der am Boden liegenden Veronika Glatzner steigert.

Unruhe, Bedrohung, Wut

Insbesondere dadurch, dass der Abend bewusst die Trennung zwischen Schauspieler und Rolle aufhebt, entstehen unheimliche Augenblicke, in denen die zwischenmenschlichen Verletzungen, von denen "Entfernung." erzählt, plötzlich nah, greifbar, real wirken. Allerdings nur dann – und das ist doch wieder ein (kleines) Problem des Abends –, wenn man mit der nötigen Phantasie und der Bereitschaft im Theater sitzt, den ausgestellten Improvisationscharakter des Abends als authentisch zu akzeptieren. Man wird das Gefühl nicht los, dass hier eben doch alles genauestens durchgeplant ist – zu perfekt die Technik, auch der Rhythmus des Abends – und dass die Schauspieler spielen, dass sie nicht spielen.

Weil das die Inszenierung einen immer wieder vergessen macht, verlässt man das Theater auch, aber bei weitem nicht nur wegen des starken Textes mit einem bohrenden Gefühl von Unruhe, von persönlichem Bedrohtsein, schließlich von Wut (was will man mehr vom Theater?). Vielleicht passt diese Pseudo-Authentizität ja auch wieder beunruhigend gut zu einem Kulturbetrieb, der Schein als Sein und Sein als Schein verkauft.

 

Entfernung.
von Marlene Streeruwitz
Dramatisierung von Ted Gaier und Samuel Schwarz.
Regie: Samuel Schwarz, Bühne/Kostüme: Cristina Nyffeler, Musik: Ted Gaier, Dramaturgie: Brigitte Auer, Licht: Kathrin Kölsch.
Mit: Vincent Glander, Veronika Glatzner, Barbara Horvath.

www.schauspielhaus.at
www.400asa.ch

 

Kritikenrundschau

In der Presse (17.11.2011) bemerkt das Kürzel best, dass das "Stück im Stück" ein "gefährlicher Trick" sei, "weil er Theatermacher dazu verführe, sich zu distanzieren. Das ist wie mit der Selbstironie: Als Ausdruck von Stärke gedacht, kann sie von Schwäche zeugen." Der "Clou des Abends" von Samuel Schwarz sei nun, dass die Schauspieler nicht nur den Text von Marlene Streeruwitz' Roman "Entfernung" sprechen: "sie fassen zusammen, interpretieren, paraphrasieren, spinnen weiter, sie liefern also keine Dramatisierung, sondern Lesarten des Romans. Die sind komisch und schrecklich, und man könnte sich gut darin verlieren, könnte den Akteuren auf ihrer Reise noch viel weiter folgen, wäre da nicht: Ja wäre da nicht immer wieder dieses Stück-im-Stück, wären da nicht diese permanenten affigen, von der Claque mit hysterischem Gelächter quittierten Unterbrechungen. (…) Das wirkt reichlich angestrengt. Schade."

Streeruwitz' Text sei "keine Auseinandersetzung mit dem Terror der Nullerjahre, sondern eine aus feministischer Sichtweise formulierte Kritik am Kulturbetrieb als Schlachtfeld des eigentlich zu konfrontierenden Kapitalismus", meint Dorian Waller im Standard (17.10.2011). Dementsprechend beobachte man in der Inszenierung "die Darsteller zunächst nur bei der Herstellung von Kunst und Krempel." Abwechselnd unterbrächen sie "ihre Arbeit, um Romankapitel vorzustellen. Das ist verbraucherfreundlich, aber nicht rasend spannend." Mit der Zeit fänden "die Schauspieler jedoch zu vermeintlich eigenen Worten, beginnen sogar mit Rollenspiel, in denen die Unsitten der Kulturproduktion attackiert werden. Die Inszenierung wird hier zu einem gleichermaßen aus Verweigerung wie auch Konfrontation bestehenden Angriff auf die Kulturindustrie erkennbar." Letztlich jedoch kreisten "die Theatermacher doch nur ohne tatsächliche Möglichkeiten eines Auswegs um sich selbst."

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