altDas tolle andere Bunte

von Bernd Mand

Heidelberg, 20. Oktober 2011. Am Ende ist alles wieder auf Anfang gestellt. Wie so oft im Leben. Stunde null. Jetzt noch schnell aufräumen, und dann geht es auch schon wieder los. Optimistisch sieht anders aus, aber auch die Wiederholung hat ja ihre Reize für den Liebhaber.

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© Klaus Fröhlich

Mit der Peitsche Revolution geübt

Ob Jean Genet ein Freund des ewigen Rückfalls in das Altbekannte war oder nicht, das wollte er uns mit seinem 1957 in London durch Peter Zadek uraufgeführten Stück "Der Balkon" wohl nicht erzählen. Und um ganz ehrlich zu sein, bleibt auch nach der Heidelberger Inszenierung von Claudia Bauer weitestgehend unklar, was man mit Genets Textzeilen eigentlich noch anfangen soll. Ja, da möchte man der Zeit doch lieb dankbar sein, dass sie manche Stücke so sanft und unbemerkt in ihren Wellen untergehen lässt. Aber jetzt mal zum Abend.

Die Wellen der zeitlichen Umstände lässt Regisseurin Claudia Bauer in diesem kleinen Bordellstück nämlich eher unsanft gegen die Salons der Madame Irma krachen. Die Polizeisirenen jaulen, Flugblätter schießen in den Saal, und es wird jede Menge geknallt. Mit Peitschen, Explosionen und Maschinengewehren wird die Revolution geübt und an der gesellschaftlichen Struktur gesägt.

Beklemmendes Begierden-Spiel, zäh verwirrt

Selbst die leisen Anfänge vor dem braunen Sackvorhang setzen einem schon kräftig zu – und dass, obwohl hier in strenger Stuhlreihe die sexuellen Vorlieben eher vorgetragen als ausgespielt werden. Doch schafft Bauers Ensemble ein beklemmendes Spiel mit der Begierde im Lustbetrieb und den selbst gezimmerten Bildern von sich selbst, in denen sich die Bordellbesucher wohlfein eingerichtet haben. Ineinander verschränkt und übereinander gelegt lässt sie die ersten Bilder des Stücks simultan zu einander ablaufen und setzt auf eine intensive Verknappung, die ansonsten in den 105 Minuten Spielzeit leider nicht zu finden ist.

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© Klaus Fröhlich

Auf der Bühne von Patricia Talacko, die ihrerseits zwischen Kleinteiligkeit und Funktionalität balanciert, strauchelt der Abend auf einem Bein zwischen den beiden Großfeldern von Realismus und Absurdität. Spielhaltungen sind hier wankelmütig und meistens unklar, was dazu führt, dass man nicht zu oft hinter die Absichten der teilnehmenden Charaktere in diesem Verkleidungsspiel kommen mag. So etwas kann spannend und gar beabsichtigt sein, führt in diesem Fall aber ungünstiger Weise zu einem zähen Verwirrspiel, bei dem man auf halber Strecke die Segel wieder einholt und auf Autopilot schaltet.

Daran können auch starke Momente, wie Nicole Averkamps Monolog zum Feierabend im Bordell, der sich Kitsch und Zynismus zu gefälligen Dienern macht, oder Volker Muthmanns herrlicher Gesandter der Königin, der so gelungen und zielstrebig in die Komödie stolpert, nichts ändern. Viele Ideen und Bilder verpuffen in einem faden und seltsam stereotyp anmutenden Textkorsett, welches seine Stärken in umrisshaften Skizzierungen und knappen Slogans hat, von denen es jedoch zu wenige gibt.

"Sie müssen jetzt nach Hause gehen"

Bauers Inszenierung klammert die Geschichte von Irmas Bordell, das sich auf verkleidungsaufwendige Fantasiespiele spezialisiert hat und deren Kunden (samt ihren Wunschgestalten) am Ende den Aufständigen und Königsmördern auf der Straße als neue Regierung untergeschoben werden, lose in ein turbulentes Spektakel, das sich an zu vielem versucht. Ein bisschen politische Agitation, viel überzeichnetes Narrenspiel und einige Esslöffel türenklapperndes Boulevard-Theater. Das ist so, als würde man einfach mal alle Pakete in der Spielwarenabteilung auf einmal öffnen. Immer auf der Suche nach dem tollen anderen Bunten, das man da drüben noch gesehen hat. Aber am Ende bleibt das alles einfach auf dem Boden liegen, weil man lieber Fußballspielen geht.

Wenn sich am Ende der Heidelberger Inszenierung das Ganze bloß als abendliches Spiel für Publikum herausstellt und die Bordellchefin alle anhält, den Laden schnell aufzuräumen, damit die nächste Vorstellung beginnen kann, ist man schon ein wenig erleichtert. Wenn auch nicht viel weiter, denn dass hier aller Schein nicht unbedingt echt ist, das war einem von Anfang an klar. "Ja, Sie müssen jetzt nach Hause gehen", ruft Nicole Averkamp vor dem finalen Schwarz ins Publikum. Somit ist dann auch für den Zuschauer wieder alles auf Anfang gestellt. Stunde null. Und das ist auch ganz gut so.

 

Der Balkon
von Jean Genet, aus dem Französischen von Georg Schulte-Frohlinde
Regie: Claudia Bauer, Bühne und Kostüme: Patricia Talacko, Musik: Smoking Joe, Dramaturgie: Patricia Nickel-Dönicke.
Mit: Nicole Averkamp, Hans Fleischmann, Olaf Weißenberg, Andreas Seifert, Evamaria Salcher, Benedikt Crisand, Clemens Dönicke, Volker Muthmann, Karolina Horster, Lina Blatt, Ekkard Karkutsch.

www.theaterheidelberg.de


Mehr zur Eröffnung der Heidelberger Saison unter Neuintendant Holger Schultze gibt es hier zu lesen.

Kritikenrundschau

Im Mannheimer Morgen (22.10.2011) schreibt Ralf-Carl Langhals: Entgegen der Anweisung Genets, sein Stück bloß ja nicht als Satire zu spielen, provoziere "Der Balkon" seit "jeher zu wagemutigen Grenzüberschreitungen", denen auch Claudia Bauer "ganz offensichtlich nicht widerstehen" könne. Auf der Bühne regiere "großer, lauter und hysterischer Mummenschanz", auch wenn "Maschinengewehrfeuer, heftige Explosionen und Selbstentmannung" im Text stünden, mache sie das "nicht minder anstrengend". In Verbindung mit "allerlei grellem Tand, beschallt mit Klängen Michael Nymans, angeheizt durch Sprechtempi und Spielhaltungen jeglicher Couleur", entgehe der Text zunehmend "der inszenatorischen Aufmerksamkeit", während die Aufführung sich "selbstverliebt in ihrer prallen Bilderjagd und ihrem staffierten Flitter" verliere. Zwar gönne das Ensemble den Zuschauern einige "buchstäblich tolle Auftritte", letztendlich jedoch rausche der Abend "in seiner undifferenzierten Lauttönerei erschreckend belanglos" am Publikum vorüber.

In der Heidelberger Rhein-Neckar-Zeitung (22.10.2011) schreibt Heribert Vogt: Die Zuschauer sähen sich einem "theatralen Flächen-Bombardement ausgesetzt", bei dem ihnen "die Sinn-Bruchstücke einer zersplitternden" Welt nur so um die Ohren flögen. In ihrer Bildlichkeit erinnere die Inszenierung an die grotesk überzeichneten Gesellschaftsdarstellungen des Malers Otto Dix. Der "sinnenpralle, sexuell aufgeladene und vor Vitalität berstende Heidelberger 'Balkon' mit seinem babylonischen Menschengebrüll" berühre nicht nur, sondern "er packt und erschüttert das Publikum". Weil er "die Mauern zwischen Sein und Schein" mit "solcher Konsequenz" einreiße, dass die Zuschauer am Ende kaum noch imstande seien, "Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden" Jedenfalls gelinge an diesem "rauschhaften Theaterabend" das "Aufbrechen einer vordergründigen Realität".

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