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Quadratur des Kreises

von Esther Slevogt

Dresden, 27. Oktober 2011. Ein Mann uriniert auf einen Teppich aus aufgeschlagenen Büchern, der im Zentrum der Bühne sorgsam ausgebreitet ist. Später windet sich eine junge Frau in dem Bodenbelag aus Gedrucktem, und man kann nicht sagen, ob ihr immer wieder krampfartig pulsierender Körper von einem starkem physischen Verlangen oder schierem Schmerz gesteuert wird. Doch eines scheint gewiss: Das Wort (ja -vielleicht sogar die Möglichkeit des Ausdrucks an sich) hat sich von den Körpern getrennt, und jeder Versuch, zu einer irgendwie gearteten Versöhnung zu gelangen, scheint ziemlich aussichtslos. So ist es folgerichtig, dass der Bücherteppich am Ende nur noch eine verwüstete Papierhalde ist.

Medium für politische Bildung

Disparate und nicht immer ad hoc entschlüsselbare (aber immer hochsuggestive) Bilder wie diese bestimmen den Abend "Versus" des Dramatikers und Regisseurs Rodrigo García, der gestern das Festival "Politik im Freien Theater" in Dresden eröffnet hat – und damit gleich ein sehr bestechendes Beispiel lieferte, wie stark nicht nur dieses Festival selbst, sondern auch der Begriff des Politischen, den es vertritt, seit der letzten Ausgabe rundumerneuert wurde. Diesmal hat kein Kurator, sondern eine Jury die Inszenierungen ausgesucht. Die Ausrichtung des Festivals wurde erstmals ausgeschrieben, das anhand repräsentativer freier Theaterproduktionen zeigen will, wie sich auf dem Theater politische und ästhetische Diskurse verschränken. Denn dadurch wird das Theater auch zum Medium für die politische Bildung, wie es Thomas Krüger in seiner Eröffnungsrede formulierte.

Krüger, der Präsident der Bundeszentrale für Politische Bildung, die das Festival seit 1988 ausrichtet, berief sich darin auch immer noch beherzt auf Bertolt Brecht, Urvater eines noch sehr fest in den Köpfen betonierten (aber leicht überkommenen) Begriffs von Politik auf dem Theater: dass nämlich der Mensch durch illusionslose Vorführung der Verhältnisse zur Erkenntnis der Notwendigkeit der Verbesserung der Welt gebracht werden soll.

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Binärer Globalisierungs-Pizza-Code
© Christian Berthelot

Essen global

Diese Notwendigkeit zweifelt auch Rodrigo García nicht an. Nur stellt sich für ihn die Sache doch deutlich schwieriger dar, als für Brecht mit seinem sortierten dialektischen (und analogen) Weltbild. Denn was und vor allem wo ist die Welt überhaupt? Ist sie nicht längst nur noch eine medial strukturierte Benutzeroberfläche, ein undurchdringbares Konglomerat aus Inszenierungen, Bildern, Entfremdungszusammenhängen? Und vor allem: wer ist überhaupt noch der Mensch, der diese Welt verändern soll? Ist er in diesen Entfremdungszusammenhängen nicht längst abhanden gekommen?

Es fängt schon mit der Art an, wie Kinder überall Pizza essen: sie bestellen rund um den Globus diese brettartigen Fast-Food-Monster, schneiden aber immer nur ein Quadrat in der Mitte heraus, das sie essen. Den Rest schmeißen sie weg, diese Kinder aus den immer gleichförmigeren Gesellschaften des neoliberalen kapitalistischen Systems, das eben auch ein Abfallprodukt der Globalisierung ist. Essen das überall das gleiche, und das auch noch auf die gleiche Weise. Ignorant allem Genuss, aller Ethik, allen Qualitätsmaßstäben gegenüber.

In einer sehr komischen Eröffnungsnummer führen zwei Schauspieler das an real existierenden Pizzas vor, halten die Ergebnisse der Operation in der offenen Pizzaschachtel dann vorwurfsvoll ins Publikum: das Quadrat und das Loch. Und liefern damit gleich ein sehr schön geerdetes, durch und durch haptisches Bild des binären Codes, der die Grundlage unseres digitalen Zeitalters ist. Ja, so kann politische Bildung auch anfangen: die digitale Unübersichtlichkeit unserer reiz- und informationsüberfluteten Welt erst mal physisch zu erden. 

Im Dickicht der Bilder

Wie diese Welt grundsätzlich strukturiert ist, zeigt die Ton- und Bilderexplosion kurz darauf. Zu live gespieltem martialisch-romantischem Neo-Punk gibt es auf die Rückwand der Bühne projizierte Bilder vom spektakulären Attentat auf den Regierungschef des faschistischen Diktators Franco, Admiral Carrero Blanco, den die baskische Terrororganisation ETA 1973 in Madrid durch Zündung einer unterirdischen Bombe in seiner gepanzerten Limousine ermordete.

Von den Bildern des explodierenden Autos, das von der Wucht der Detonation erst fünfunddreißig Meter in die Höhe, dann über eine Kirche und ein fünfstöckiges Wohnhaus geschleudert wurde, in dessen Innenhof das zerstörte Auto mit den toten Insassen schließlich auf einem Balkon landete, kann man schon bald nicht mehr sagen, ob sie dokumentarisch oder nachgestellt sind. Dann werden sie noch unterschnitten mit Bildern von Monster-Truck-Shows, wo gigantische getunte Geländewagen wie Urzeitmonster gegeneinander antreten. Im Dickicht der Bilder ist die Welt längst abhanden gekommen. Kein Zugriff mehr möglich. Erst Recht nicht zu ihrer Verbesserung. Mit oder ohne Gewalt, die ja ohnehin nur spektakuläre Bilder produziert in den medialen Stierkampf-Arenen unserer Informationsgesellschaft.

Bekenntnis zur Sehnsucht?

Und so widmet García seinen Abend der Suche nach dem, was einmal das handelnde und vor allem fühlende Subjekt gewesen sein könnte: erzählt mit sehr disparaten, manchmal spröden, bis hochgeschlossenen Bildern (zwischen Gewalt und Zärtlichkeit) von der Sehnsucht, noch fühlen, genießen oder gar lieben zu können. Demontiert dabei die Begriffe, die man beispielsweise von der Liebe haben mag, als längst vom Utilitarismus unseres kapitalistischen Objektdenkens zerstörte Konstruktionen.

Doch wohin mit der Sehnsucht? Fängt die Weltverbesserung am Ende mit einem Bekenntnis zu dieser Sehnsucht an? Ein Flamencosänger zerreisst uns und sich selbst immer wieder das Herz mit leidenschaftlichen Liedern. Wesentliches wird immer wieder nur als Text auf die Bühnenrückwand projiziert. Zum Beispiel dies: "Ein Theaterstück sollte die Dinge verbergen, nicht enthüllen, und niemals unsere Gefühle zeigen. // Das stellt die poetische Fähigkeit aller auf die Probe, einschließlich des Publikums, weil wir uns – einsam – mit immer unvollständigen Augenblicken konfrontieren, // mit rätselhaften Realitäten, statt uns darauf zu beschränken, die Realität zu kommentieren (das ist Sache der Wissenschaft, nicht der Kunst)."

Und in dieser Selbstbeschränkung, dem Bekenntnis zur Kunst statt zur Politik, ist Rodrigo Garcías Theater höchst politisch. Weil es mit der Kunst die medialisierte Benutzeroberfläche angreift, die die Welt versiegelt und unserem Zugriff entzogen hat.

 

Versus
von Rodrigo García (in spanischer Sprache mit deutscher Untertitelung)
Regie: Rodrigo García, Licht: Carlos Maquerie, Kostüme: Belén Montoliu, Animation: Cristian Busto, Video: Ramón Diago, Musik: Chiquita y Chatarra, David Pino.
Mit: Patricia Alvarez, Amelia Diaz, Rubén Escamilla, Juan Loriente, Nuria Lloansi, David Pino, Osabel Ojeda.

www.rodrigogarcia.es
www.politikimfreientheater.de

 

Eine Festivalübersicht gibt es hier.


Kritikenrundschau

Für die Dresdner Neuesten Nachrichten (29.10.2011) hat Tomas Petzold die Festivaleröffnung besucht. Garcias "La Carniceria Teatro" aus Spanien benutzt "Video, Animationsfilm, (mönchischen?) Gesang, Punkrock mit reiner Frauen-Power, körperbetonte theatralische Aktionen und metaphorische Arrangements bald sequentiell, bald simultan in einer Mischung, die sich in ihrem Sinngehalt schwer entschlüsseln lässt und auf mich eher störend als provokant wirkt", schreibt er. In der als diffus beschriebenen Zeichenflut dieses Abends macht er Liebe als zentrales Thema aus, wobei die Reflexionen über zwei Beziehungstypen – die eine auf Basis "äußerer Anziehungskraft", die andere auf Basis einer "Sehnsucht nach sozialer Gemeinschaft" – den Gedanken an "Entwicklung oder die Dialektik beider Motivationen" vermissen ließen. "Am Ende bleibt nur ein trauriger, irgendwie auch infantiler Kulturpessimismus (...)."

Eine furiose, wenn auch schon etwas bejahrte Safari durch die postmoderne Welt mit Stationen bei politischen und sexuellen Gewalttätern hat Tom Mustroph gesehen, wie er in der tageszeitung (2.11.2011) schreibt. "Versus" offenbare "eine heroische Verzweiflung bei der Suche nach einem richtigen Weg. Sie mündete in der lakonischen Feststellung, dass man allenfalls die Ausbeutungszusammenhänge wählen könne, denen man sich ausliefere. Das ist immerhin ein Anspruch."